Der Studiengang KriDiCo, kurz für Kritische Diversity und Community Studies, wurde erstmalig im Frühling 2021 an der Alice-Salmon-Hochschule in Berlin angeboten. Unter der ersten Gruppe mit 40 Studierenden waren auch fünf Taube/Taubblinde. Ein Interview von Antonia Ricke von der Deutschen Gehörlosenzeitung mit zwei Studierenden und aktivistischen Personen.
Es gibt bestimmte Studiengänge, die allen bekannt sind, wie zum Beispiel Lehramt, Psychologie, Sport oder Medizin. Es entstehen aber auch immer wieder neue Studiengänge. So beispielsweise der Masterstudiengang KriDiCo. Der Studiengang Soziale Arbeit ist bekannt und beliebt in Deutschland, der Master KriDiCo baut darauf auf. Es gibt zwei Studiengänge, die sich wissenschaftlich mit Sozialer Arbeit beschäftigen: kritische Diversity Studies und Community Studies. Kritische Diversity Studies beschäftigt sich mit verschiedenen Menschen und wie sie aufgrund von Kategorien Geschlecht, „Hautfarbe“, Alter usw. in der Gesellschaft diskriminiert werden. Community Studies betrachtet, wie sich Gemeinschaften verändern und entwickeln. Der Studiengang KriDiCo schaut sich an, wie diese beiden Perspektiven zusammenhängen. Das geschieht aus machtkritischer und intersektionaler Perspektive. Intersektionalismus bedeutet, dass verschiedene Diskriminierungsformen gemeinsam berücksichtigt werden – z. B. eine Schwarze, behinderte Frau wird nicht allein nur wegen der „Hautfarbe“, der Behinderung und dem Geschlecht diskriminiert, sondern erfährt die Diskriminierung u. a. in der „Gesamtform“. Zwei der fünf Tauben und Taubblinden Studierenden sprechen über die Wichtigkeit des Studiengangs auf: Lela Finkbeiner und Silvia Gegenfurtner.
Antonia Ricke (Deutsche Gehörlosenzeitung): Was hat Euch zum Studiengang KriDiCo geführt?
Lela: Vor dem Studium verstand ich schon einiges, wie strukturelle Diskriminierungen funktionieren und war in queerfeministischen und diskriminierungskritischen Kontexten unterwegs. Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass mir bestimmte Begriffe und Konzepte zur Einordnung und Erklärung fehlten. Es gibt viele marginalisierte Communitys (Marginalisierung = an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, dadurch wenig Teilnahme am wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben). Ich fragte mich, wie unterschiedlich marginalisierte Communitys besser zusammenarbeiten können. Wie können sie sich und ihre Diskriminierungserfahrungen besser verstehen und supporten? Statt zu denken „Meine Diskriminierungserfahrungen sind schlimmer als deine!“ und allein zu kämpfen. Damit verliert man nur in der Dominanzgesellschaft. Das war meine Motivation, KriDiCo zu studieren.
Was hat euch im Studium geprägt?
Silvia: Das Studium gab mir neue Erkenntnisse und Perspektiven. Einige Sachen waren mir weniger bewusst. Ich lernte neue Wörter und Konzepte und wie man Machtverhältnisse beschreiben kann und dass man in sie hineingeboren wird. Beispiele sind „Positionierung“ und „Diskurs“. Sich bewusst zu werden, welche gesellschaftlichen Positionierungen man innehat. Stets ist man gleichzeitig privilegiert und unprivilegiert. Mit Diskursen sind alle Arten von Aussagen zu bestimmten Themen, die in Gesellschaften kursieren, gemeint. Das können Texte, Begriffe oder Konzepte sein, die zu einem bestimmten Thema im Umlauf sind. Das waren für mich die meist prägenden Begriffe. Der Start von Diskursen ist oft nicht erkennbar, so wie auch am Beispiel Frauen*. CIS-Frauen, Transfrauen oder Taube Frauen* erfahren unterschiedliche Barrieren/Diskriminierungen. Woher kommen diese? Hierfür gibt es historische Gründe/Verstrickungen. Dieser Ansatz, Zusammenhänge so zu denken und zu sehen, prägte mich. Diese Zusammenhänge sah ich damals nicht so. Dies und der kritische Umgang damit sind mir durch das Studium noch bewusster geworden.
Lela: Dank KriDiCo weiß ich nun auch, dass viel Streit in den Tauben Communitys nicht nur strukturelle Ursprünge haben. Die Auswirkungen bekommen wir Taube Menschen besonders zu spüren. Wir prügeln uns schon fast untereinander und schauen zu wenig hin, warum wir uns überhaupt streiten. Wir wollen schnelle Ergebnisse und schnell ein besseres Leben haben. Deshalb ist die Verlockung auch groß, in den sozialen Medien Schuldige zu suchen. Zum Beispiel können Sündenböcke Personen im Präsidium des Deutschen Gehörlosen-Bundes sein. Diese Angriffe haben schon fast eine Tradition und wiederholen sich unbemerkt. Der Fokus sollte eigentlich woanders liegen, Spannungen haben bei genauerer Betrachtung ganz andere Ursachen.
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Es muss zur ethischen und beruflichen Selbstverpflichtung gehören, dass Menschen sich reflektieren, besonders in Abhängigkeitsverhältnissen.
Lela Finkbeiner
Wie können wir in der Tauben Community besser hinschauen?
Lela: Es gibt da so einige kritische Fragen, die unausgesprochen in der Luft hängen. Ich nenne einige: Warum gibt es bis heute zum Beispiel keine Schlichtungsstelle oder transparente Qualitätssicherung von Dolmetschenden? Warum werden Gehörlosenschulen nicht von Tauben Menschen geleitet? Warum bekommen wir nicht konsequent Forschungsergebnisse über Gebärdensprachen und Communitys in DGS zurückgeführt? Warum wird an Arbeitsplätzen, die sich mit Tauben Menschen beschäftigen, nicht überall in Anwesenheit von Tauben Menschen gebärdet? Warum sind Menschen empört (= wütend), wenn dies von Tauben Menschen eingefordert wird? Warum lässt Partizipation zu wünschen übrig? Warum wird sogar community-basierte Arbeit zum Teil aktiv verhindert? Wir brauchen hier eine aktive und ehrliche Auseinandersetzung von allen.
Wie stellst du dir das vor? Wie kann man uns da einbringen?
Lela: Es muss zur ethischen und beruflichen Selbst-Verpflichtung gehören, dass Menschen sich reflektieren, besonders in Abhängigkeitsverhältnissen. Wir schwärmen lieber darüber, wie schön unsere Gebärdensprache ist, wie wertvoll unsere Kultur und Community ist. Eine Analyse und Bearbeitung mit Macht- und Ungleichheitsverhältnissen ist schmerzhaft. Viele Taube Menschen werden unterdrückt und haben kaum Ressourcen (= u. a. Möglichkeiten, Kraft, Mittel). Das heißt aber nicht, dass wir Taube Menschen machtlos sind. Wir haben auch in bestimmten Bereichen Macht, sind uns dessen nicht immer bewusst. Und nein, Hörende sollen jetzt nicht aufatmen und sagen „Na siehst du, ihr seid aber auch nicht besser“. Darum geht es nicht. Viele haben Angst vor echter Auseinandersetzung, weil befürchtet wird, Kontrolle und Macht zu verlieren, dass Beziehungen kaputt gehen. Das ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Macht teilen ist wie Liebe teilen: Wenn es geteilt wird, wird sie nicht weniger, sondern größer. Wollen wir uns nicht alle geliebt fühlen? Also dann, teilt Macht!
Gibt es noch mehr, was ihr aus dem Studium mitgenommen habt?
Silvia: Das Studium setzte mir eine neue Brille auf. Ich sehe einiges anders, denke mehr mit, bin mir den verschiedenen Erfahrungen verschiedener Personen bewusster. Ich weiß, dass man nicht einfach ungefragt Raum einnehmen kann und vor Menschen mit unterschiedlichen Positionierungen zuhören muss. Das war mir vorher auch schon bewusst, aber das Studium gab mir einfach noch ein vertieftes Bewusstsein dafür. Mich prägte im Studium besonders, wie sehr alle Menschen von unterschiedlichen und gleichzeitig laufenden Machtverhältnissen betroffen sind und wie sehr sie davon geprägt sind durch ihre Sozialisation. Die Loslösung dafür erfordert einen stetigen Lernprozess. Eine Diskriminierungsfreiheit ist utopisch (= ein Wunschtraum). Wichtig ist, das einzusehen und sich auf einen stetigen Lernprozess einzulassen. Ich zitiere Alice Haruko Hasters: „Sich damit zu beschäftigen ist viel Arbeit, ist teilweise schmerzhaft und braucht Zeit. So anstrengend und angsteinflößend er am Anfang auch scheinen mag – er macht glücklich. Und frei.“
Vielen Dank für das Interview!
Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 09/2023) erschienen.