Die Rechte von Menschen mit Behinderungen müssen auch in der Arbeiter*innenbewegung eine Rolle spielen. Ein Plädoyer von Anne Gersdorff.
Der 1. Mai hat viele Namen: Tag der Arbeit, Tag der Arbeiter*innen-Bewegung oder Internationaler Kampftag der Arbeiter*innen-Klasse. Ende des 19. Jahrhunderts formte sich in den USA die Arbeiter*innen-Bewegung. Sie forderte bessere und sicherere Arbeitsbedingungen, den Acht-Stunden-Arbeitstag und eine faire Bezahlung. Schon bald kamen diese Forderungen auch in Europa und somit in Deutschland an. Sozialistische Parteien und Gewerkschaften, die damals verboten waren, organisierten europaweite Kundgebungen, um eben diese Forderungen durchzusetzen.
Aktivist*innen der Behinderten-Bewegung kommen diese Forderungen nicht fremd vor. Einige von Ihnen vergleichen die aktuelle Lage behinderter Menschen mit der der frühen Arbeiter*innen-Bewegung. Die Bürgerrechtsbewegung behinderter Menschen stehe dort, wo die Sozialdemokratie des vorigen Jahrhunderts ihren Ausgang nahm. In vielen Situationen sind behinderte Menschen immer noch individuell, strukturell und politisch diskriminiert. Sie kämpfen für mehr Schutz ihrer Rechte und bessere Lebensbedingungen sowie gegen die gesellschaftlich verursachte Unmündigkeit behinderter Menschen.
Arbeitslosigkeit und Altersarmut drohen
Arbeit hat einen sehr hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens spielt sich bei der Arbeit ab. Und durch Arbeit erlangen wir Wertschätzung, Bestätigung, Selbstverwirklichung und das Gefühl, dazuzugehören. Eine inklusive Gesellschaft ist somit nur mit einer konsequent inklusiven Arbeitswelt realisierbar. Echte Inklusion bezieht alle Menschen mit ein und setzt somit einen grundsätzlichen Strukturwandel voraus. Dieser ist besonders in der Arbeitswelt dringend notwendig.
Noch immer sind doppelt so viele Menschen mit Behinderungen arbeitslos wie Menschen ohne Behinderung. Es dauert auch deutlich länger, bis Arbeitsuchende mit Behinderungen eine neue Arbeit finden. Auf dem Weg zu einer neuen Stelle sind sie mit vielen Vorurteilen seitens der Arbeitgeber*innen konfrontiert und haben komplizierte bürokratische Hürden zu nehmen, um barrierefrei arbeiten zu können. Da behinderte Menschen immer noch schlechtere Bildungschancen haben und dadurch eher in prekären Verhältnissen arbeiten, haben sie weniger Karrierechancen und sind häufiger von Altersarmut betroffen.
Besonders vielen Menschen mit Behinderungen wird in Deutschland die Teilhabe am Arbeitsmarkt komplett verwehrt. Sie gelten als nicht erwerbsfähig, aber arbeiten trotzdem in Werkstätten für behinderte Menschen für renommierte deutsche Unternehmen, von hippen Startups bis zu großen, multinationalen Konzernen. Für diese wirtschaftlich wertvolle Arbeit bekommen sie keinen Lohn. Stattdessen beziehen sie Sozialhilfe und bekommen ein kleines Taschengeld.
Dieses Werkstättensystem steht im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention und Deutschland wird dafür von der UN kritisiert. Die UN fordert den Abbau dieser Strukturen, weil dort keine Inklusion stattfindet. Unverständlicherweise gibt es in Deutschland noch immer einen breiten Konsens, dass es gut und sogar sozial ist, dass beinah 300.000 Tausend Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen maßgeblich zu der deutschen Wirtschaft beitragen, dafür aber nur Sozialhilfe empfangen anstatt eines angemessenen Lohns. Werden wir in 100 Jahren genau so verwundert darauf schauen, wie wir auf die unmenschlichen Arbeitsbedingungen von vor 100 Jahren zurückschauen?
“Wissen ist Macht”
Es ist Zeit für eine Arbeiter*innen-Bewegung, die Menschen mit Behinderungen mit einbezieht. Leider scheint der Kampf für die Rechte von behinderten Arbeiter*innen bei den Gewerkschaften und Verbänden als Thema noch nicht wichtig genug. Das muss sich dringend ändern. Die Arbeiter*innen-Bewegung und die Behindertenrechtsaktivist*innen haben viel voneinander zu lernen und müssen sich viel besser vernetzen. Denn das Thema Behinderung findet in der Arbeiter*innen-Bewegung historisch keine Beachtung und auch in diesem Jahr und den Kundgebungen der vergangenen Jahre spielt es fast keine Rolle. Andererseits ist das Thema Arbeit in der Behindertenbewegung bislang auch unterrepräsentiert, da sie sich auf die Forderungen nach einer selbstbestimmten Lebensführung mit Assistenz in der eigenen Wohnung außerhalb von Einrichtungen fokussierte.
Dabei sagte schon Wilhelm Liebknecht (1826–1900), einer der Gründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD): „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“. Er forderte, dass die Arbeiter*innen-Klasse die politische Macht bekommt und Barrieren zu Wissen, Bildung und Kultur abgebaut werden. Der Zugang zu macht-verleihendem Wissen ist vielen Menschen mit Behinderungen in Deutschland auch heute noch verwehrt.
Da behinderte Menschen die besten Expert*innen in eigener Sache sind, ist es besonders wichtig, dass sie Zugang zu Informationen bekommen. Sie müssen ihre Rechte kennen und dafür kompetent beraten werden.
Das bedeutet auch, dass Informationen in Leichter Sprache und Gebärdensprache bereitgestellt werden. Es fehlen Menschen mit Behinderungen auch oft Vorbilder in der Arbeitswelt. Wer noch nie von einem Tischler im Rollstuhl oder einer blinden Rechtsanwältin gehört hat, kommt vielleicht gar nicht auf die Idee, dass diese Berufe einem offen stehen könnten. Mit dem entsprechenden Wissen können Argumente entkräftet und Skepsis gegenüber inklusiven Arbeitsplätzen abgebaut werden.
Es muss also Schluss damit sein, dass andere stellvertretend für Menschen mit Behinderungen Entscheidungen treffen und sie von klein auf bevormunden. Für behinderte Menschen muss Selbstbestimmung stets das Ziel sein.
Noch viel zu oft steht auch auf dem Arbeitsmarkt im Fokus, was Menschen mit Behinderungen nicht können. Warum zählen nicht die Skills, die behinderte Menschen aufgrund der Behinderung erworben haben? In einer Welt voller Barrieren sind sie es gewohnt, souverän mit unerwarteten Situation umzugehen und Lösungen zu finden. Das ist ein Super-Skill, der in jedem Job – und besonders zu Krisenzeiten wie diesen – sehr willkommen ist. Behinderte Menschen bringen auch neue Perspektiven mit ein, die Unternehmen dazu bringen, bessere Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln.
Es hat niemand das Recht und schon gar nicht einen Grund, Menschen mit Behinderungen einzureden, was sie nicht können. Medizinische oder psychologische Gutachten sollten nicht über ihre berufliche Zukunft entscheiden. Im Leben lernt man oft am meisten von Misserfolgen und Fehlern. Viel zu oft wird Menschen mit Behinderungen gerade dieser wichtige Erfahrungsraum genommen. Man kann ihnen nur raten: Habt Mut zum Scheitern, lernt aus Misserfolgen und kämpft für eure Rechte!
Es gibt viele Gesetze, die dafür sorgen sollen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten können. Doch wie Jürgen Dusel, der Bundesbehindertenbeauftragte, sagt:
“Es gibt ein Vollzugsproblem bei den Regeln, auf die wir uns geeinigt haben. Ein Viertel der gesetzlich dazu verpflichteten Unternehmen beschäftigt nach wie vor keinen einzigen Menschen mit Behinderung [...]. Wenn ein Viertel der Autofahrer sich nicht mehr an die StVo halten würde, würden wir doch auch handeln.”
Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter
Die eigenen Rechte kennen
Behinderte Menschen können mit der Rückendeckung der allgemeinen Gesetzeslage selbstbewusster auftreten und Unterstützungsangebote und Hilfsmittel einfordern. In Zeiten wie diesen ist dies umso wichtiger, denn die Gefahr ist groß, dass gerade behinderte Menschen auch wirtschaftlich zu den Verlierer*innen der Corona-Krise werden. Lasst uns also gemeinsam weiter für eine inklusive Gesellschaft kämpfen!
Eine Antwort
Noch kein Kommentar? Ich stimme nicht allem zu. Doch richtig und wichtig, dass ihr einsteht für unser aller Rechte und – Zukunft.