Gerade in diesen Zeiten, in denen es ungewiss ist, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Wirtschaft haben wird, ist es für Menschen mit Behinderungen verlockend, den vermeintlich sicheren, und ihnen meistens vorgegebenen Berufsweg zu wählen – mit einer Ausbildung bei einem Berufsbildungswerk oder einem anderen Berufsbildungsträger. Warum dies aber nicht unbedingt der beste Weg ist, erklärt Anne Gersdorff von JOBinklusive.org.
Informationen in Einfacher Sprache
- Viele Menschen mit Behinderung machen automatisch eine Berufsausbildung in einem sogenannten Berufsbildungswerk.
- Dort lernen sie aber nicht alles, was sie für den allgemeinen Arbeitsmarkt brauchen, z.B. Kontakte zu Kollegen und Kolleginnen, die nichtbehindert oder in einem anderen Alter sind.
- Unsere Autorin Anne Gersdorff ermutigt deshalb Bewerberinnen und Bewerber, sich um einen Ausbildungsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bewerben.
Für viele ehemalige Schüler*innen beginnt aktuell der Start ins Berufsleben mit einer Ausbildung. Dies ist eine aufregende und ungewisse Zeit für alle jungen Menschen. Für viele Menschen mit Behinderungen ist diese Zeit besonders aufregend. Unterstützungsstrukturen wie die Schulbegleitung oder Einzelfallhilfe, die sich über die Jahre etabliert haben, fallen auf einmal weg, weil sich Kostenträger ändern. Plötzlich ist nicht mehr das Jugendamt oder Schulamt zuständig, sondern die Agentur für Arbeit oder der Sozialhilfeträger.
In der Regel besuchen Schüler*innen am Ende ihrer Schulzeit die Berufsberatung der Agentur für Arbeit, um zu erkunden, welcher Beruf für sie der passende ist. Deutet dabei etwas auf eine Behinderung hin, erfolgt in den allermeisten Fällen die Überleitung an die Reha-Beratung. Diese leitet dann eigene Gutachten über den medizinischen und psychologischen Dienst ein und entscheidet unter Umständen, was für den Menschen mit Behinderung geeignet ist.
In Betracht kommen dann folgende Möglichkeiten:
1. Ausbildungsfähig: Die Person kann eine anerkannte Ausbildung der IHK- oder Handwerkskammer machen. Gegebenenfalls kommt eine theoriereduzierte Ausbildung in Frage. Diese berücksichtigt, dass die Person Lernschwierigkeiten hat und deshalb stehen die berufspraktischen Fähigkeiten mehr im Vordergrund.
Eine theoriereduzierte Ausbildung endet nicht mit einem gewöhnlichen, anerkannten Ausbildungsberuf. Theoriereduzierte Ausbildungen sind Ausbildungen zum Fachpraktiker bzw. Werker. Diese Ausbildung nach „besonderen Regelungen für behinderte Menschen“ muss besonders beantragt werden.
2. Berufsvorbereitung: Dabei bekommen Menschen die Gelegenheit, sich auf eine Ausbildung vorzubereiten. Sie können dabei ihren Schulabschluss verbessern bzw. nachholen und sich beruflich orientieren.
Nur sehr selten passiert das direkt in Betrieben, meistens geschieht diese Vorbereitung in den Räumlichkeiten von Berufsbildungswerken oder anderen Trägern zur beruflichen Bildung. Die Anforderungen an den Beruf werden also theoretisch vermittelt oder der praktische Kontext simuliert.
3. Unterstützte Beschäftigung: Menschen, die voraussichtlich keine Ausbildung schaffen können, haben die Möglichkeit durch eine Unterstützte Beschäftigung die praktischen Dinge direkt im Betrieb zu lernen, die sie für eine Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt brauchen.
4. Berufsbildungsbereich: Sollte dies gemäß der Gutachten auch nicht möglich sein, weil die Person nur weniger als drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten kann, gilt sie als erwerbsunfähig. Dann hat sie die Voraussetzungen für den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen oder für ein Budget für Ausbildung.
Und dann? Die Agentur für Arbeit empfiehlt dann eine Maßnahme, die in einem Berufsbildungswerk, bei einem überbetrieblichen Träger oder in einer Werkstatt für behinderte Menschen stattfindet.
Nicky Franke, die in einem Berufsbildungswerk ihre Ausbildung gemacht hat, sagt rückblickend: “Es war eine Notlösung. Ich wollte auf dem freien Markt eine Ausbildung machen, habe aber keinen Platz bekommen. Ich habe mich immer wieder beworben, viele Bewerbungen geschrieben, dann hat das Arbeitsamt gesagt: ‘Komm, geh ins Berufsbildungswerk und mache die Ausbildung. Sie dauert drei Jahre, danach kannst du dich weiter bewerben.’ Deswegen bin ich dahin gegangen. Vorher habe ich noch vier Wochen eine Berufsvorbereitung gemacht und geschaut, welcher Beruf es denn werden sollte. Kauffrau für Gesundheitswesen war ganz neu, den habe ich gewählt, weil es ein sozialer Beruf war.”
Lösungen auf dem Silbertablett
Während sich Mitschüler*innen bewerben und mit Betrieben in Kontakt treten müssen, wird Menschen mit Behinderungen eine berufliche Möglichkeit auf dem Silbertablett serviert. Viele Eltern freuen sich natürlich darüber, wenn ihre Kinder gut versorgt sind und in eine sichere Zukunft blicken. Doch nicht alles was glänzt, ist auch gut.
Denn diese Alternative findet fast immer in oder zumindest in enger Kooperation mit einer Sondereinrichtung statt. Auch wenn sich die Träger in den letzten Jahren auf den viel zitierten Weg zur Inklusion gemacht haben, lernen und arbeiten dort behinderte Menschen in einer Art Laborsituation. In Berufsbildungswerken finden immerhin 22 % der Ausbildungen verzahnt mit einem Betrieb statt, 80 % der Personen bestehen ihre Ausbildung und 62 % haben etwa ein halbes Jahr nach Ende der Ausbildung den erfolgreichen Einstieg ins Berufsleben geschafft. Die personellen und räumlichen Gegebenheiten sind zugegebenermaßen hervorragend: Therapien und Sportangebote, psychologische und sozialarbeiterische Unterstützung, Beratung zu technischen Arbeitshilfen und alles ist barrierefrei. Doch für Menschen mit Behinderungen, die einen großen Pflegeaufwand haben, sind auch diese Sondereinrichtungen nicht geeignet. Denn oft gibt es dort keine personenbezogene Assistenz und die Pflege wird über einen klassischen Pflegedienst abgedeckt. Für schwerhörige oder taube Menschen gibt es deutschlandweit nur zwei spezialisierte Angebote zur Berufsausbildung. Eine Möglichkeit, in der Nähe der Familie oder der Freund*innen ausgebildet zu werden, besteht für sie also nicht, wenn nicht inklusive Strukturen gesucht und unterstützt werden.
“Ich finde es schade, dass im Berufsbildungswerk nur behinderte Menschen ‘aufeinanderhängen’,” sagt Nicky Franke. Tobias Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke, hält dagegen: Wir verfolgen den 360-Grad-Ansatz, mit dem wir Auszubildende mit schwierigen Startbedingungen und oftmals schwacher schulischer Vorbildung erfolgreich zu einem Ausbildungsabschluss führen. Neben beruflichem Fachwissen steht vor allem die Persönlichkeitsentwicklung sowie eine stabile psychische und physische Gesundheit im Vordergrund. Bei uns lernen viele junge Menschen das erste Mal selbstständig ihr Leben zu organisieren, von der Vorbereitung auf Prüfungen, über eine eigenverantwortliche Praktikumssuche, bis hin zum Wohnen in den eigenen vier Wänden.”
Schmidt ergänzt: “Ein Viertel unserer Azubis hat eine oder mehrere abgebrochenen Ausbildungen im Betrieb hinter sich. Nicht jeder Betrieb, der inklusiv ausbildet, ist den oftmals komplexen Herausforderungen, die einige junge Menschen im Gepäck haben, gewachsen. Deswegen glaube ich, dass Berufsbildungswerke als Angebot auf einem inklusiven Ausbildungsmarkt immer gebraucht werden. Gerade jetzt, wo coronabedingt viele Betriebe keine Ausbildungsplätze bereitstellen können, sind Berufsbildungswerke einmal mehr ein verlässlicher Ausbildungspartner.”
Nicky Franke hat es anders erlebt: “Ich kann nicht sagen, ob das so der Norm entspricht, aber ich hatte das Gefühl, dass wir in Watte gepackt wurden. Wenn jemand gefehlt hat, dann war das halt so, es wurde nicht kontrolliert. Die Menschen konnten mitten im Unterricht gehen und kommen, wann sie wollten, sowas geht auf dem freien Markt nicht.”
Zwar erledigen Berufsbildungswerke auch Aufträge aus der Wirtschaft, aber mit der Realität auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat diese Arbeit trotzdem immer noch wenig zu tun. Auch wenn die Ausbildungen von den Kammern anerkannt sind, wird dort zum Teil mit Computerprogrammen und Techniken gearbeitet, die heute in der Wirtschaft niemand mehr nutzt. Realitätstreue betriebliche Abläufe werden nicht gelernt. Da alle im gleichen Alter sind, lernen behinderte Menschen nicht, wie sie sich gegenüber älteren Kolleg*innen oder Vorgesetzten verhalten, wie sie sich in betriebliche Abläufe einfügen oder wie sie um Hilfe bitten und ihren Bedarf aufgrund der Behinderung äußern. Diese werden bestenfalls in einzelnen Praktika gelernt. Gerade bei Menschen mit Lernschwierigkeiten zeigt sich, dass es ihnen schwer fällt, Arbeitsabläufe zu abstrahieren und sie in anderen Situationen entsprechend anzuwenden. Wenn sie etwas in einer anderen Umgebung bzw. mit anderen Maschinen gelernt haben, verschwindet diese Kompetenz unter Umständen in einer neuen Umgebung.
Stempel ‘Berufsbildungswerk’
Betriebe, bei denen sich Menschen mit Behinderungen später bewerben, wissen, dass in Sondereinrichtungen nicht so gut ausgebildet bzw. qualifiziert wird, wie in Betrieben. Deshalb sind die Übergänge und Vermittlungen in Arbeitsstellen meist auch langfristig geringer als bei einer Ausbildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Nicky Franke dazu: “Ich glaube, dass ich die Chance, in die ambulante Pflege zu kommen, nur bekommen habe, weil ich dort vorher ein Praktikum gemacht habe. Weil ich zeigen konnte ‘Ok, ich kann‘s.’ Ansonsten hast du durch das Berufsbildungswerk schon einen Stempel, würde ich behaupten. Ich glaube, es ist auch ein Unterschied, ob du vorher schon auf der Regelschule warst oder nicht. Für diejenigen, die es nicht anders kannten, war es nicht “schlimm”.”
Inklusiver Arbeitsmarkt: “Es gibt eine große Lücke im System”
Was muss getan werden, damit der Arbeitsmarkt endlich inklusiv wird? Die Sozialarbeiterin und JOBinklusive-Referentin Anne Gersdorff gibt im Gespräch mit Judyta Smykowski Antworten auf brennende Fragen.
Doch spätestens nach einer Ausbildung ist es mit der Sondereinrichtung vorbei. Dann wartet die betriebliche Realität. Warum also nicht gleich damit anfangen und ins kalte Wasser springen? Der Weg in ein Berufsbildungswerk steht dann immer noch offen, wenn eine reguläre Ausbildung nicht klappen sollte.
Lernen für das echte Arbeitsleben
Menschen mit Behinderungen sollten sich genauso um Ausbildungen bzw. Betriebe bemühen, wie alle anderen auch. Bei der Auswahl eines Ausbildungsplatzes sollte Barrierefreiheit und Unterstützung zunächst nur eine zweitrangige Rolle spielen. Denn alle Unterstützung, die Menschen mit Behinderungen bei einem Träger erhalten, kann auch für eine reguläre Ausbildung organisiert werden. Umbauten oder technische Hilfsmittel können von der Agentur für Arbeit finanziert werden. Es ist wichtig, sich dabei Unterstützung und Informationen einzuholen. Diese bieten u.a. die Stellen für Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) an.
Wenn man sich nach all diesen Abwägungen doch für den “Sonderweg” entschieden hat, sollte man darauf achten, dass man so viele Praktika in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts macht wie möglich. Denn nur in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts lernen Auszubildende mit und ohne Behinderung, fachlich als auch sozial, was sie später im echten Arbeitsleben brauchen. Also rein ins kalte Wasser!
5 Antworten
Sehen wir uns als Beispiel die schulische und berufliche Bildung von Asperger Autisten an. Schwierig wird es, wenn ein Behindertenausweis vorliegt. Wo finden Eltern in einer Kleinstadt oder im ländlichen Bereich eine Berufsfachschule oder einen Lehrbetrieb, der einen behinderten Asperger Autisten einen Chance gibt? Die Behinderung ist nicht sichtbar, das macht es schwer sich als “Nichtfachmann/frau” in einen Autisten hineinzuversetzen. Es wird versucht sie zu erziehen, damit sie sich normal verhalten.
Beispiel Fragen: “Was muss passieren, damit du ausflippst?” oder “In welcher Situation rastest du aus?”
Dies sind “übliche” Fragen, die ein Autist in einem Bewerbungsgespräch hört.
Ich stimme dieser Einschätzung voll und ganz zu. Mein Sohn ist ein Asperger Autist. Er geht auf eine Regelschule. Ich bemerke stets, dass vollkommen ausgeblendet wird, dass Kinder die Summe Ihrer Erfahrungen sind. Mein Sohn muss sich in seinem Leben mit “Normalos” beschäftigen. Dafür muss er Strategien entwickeln mit Kritik, Unwissenheit oder Neid auf Nachteilsausgleiche, wie Assistenzkräfte, umzugehen. Er muss um richtig zu kommunizieren, die Fremdsprache der Gesellschaft erlernen und akzeptieren, dass an ihm nichts verkehrt ist, sondern die “Normalos”, wie er Nicht-Behinderte nennt, eben nicht schlechter, aber eben anders denken. Die Kinder in seiner Klasse müssen ja auch lernen, dass Vielfalt in Ordnung ist und man mit solchen Dingen umgehen kann. Noch junge vorurteilsfreie Kinder haben da selten Probleme. Das ist die große Chance, die unsere Kinder haben. Im Übrigen findet er den Trubel um Behinderte einfach nur total unlogisch, unvernünftig und unerklärlich. Warum sollte man nicht mit allen Kindern, die lernen wollen, interagieren? Allen sagt man doch, dass man nur gemeinsam stark ist.
Aufgrund meiner täglichen Arbeit bei der Hamburger Arbeitsassistenz teile ich diese Einschätzung voll und ganz! Nicht wenige Personen mit einer Ausbildung im Berufsbildungswerk landen anschließend in der Maßnahme Unterstützte Beschäftigung, weil sie diversen Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes nicht gerecht werden können,trotz einer erfolgreichen Abschlussprüfung!?
Sehr geehrte Frau Gersdorf,
die BBW´s – zumindest kann ich das von unserem sagen – sind keine Sonderwelt, sondern wie andere Ausbildungen an Hochschulen oder Unis – ein Ausbildungsort auf Zeit, eben für die Ausbildungsphase und für bestimmte Zielgruppen. Als Berufsbildungswerk sind wir Teil unseres Gemeinwesens und gut vernetzt, unsere Ausbildungswerkstätten sind Teil davon. Unsere Azubis machen Praktika und Ausbildungsphasen in Betrieben der freien Wirtschaft. Wir stempeln die Menschen nicht ab und exkludieren sie nicht, sondern in unserer Mitte ist der Mensch. Gerne lade ich Sie zu uns ein, damit Sie das vor Ort anschauen und erleben können. mfg Herbert Lüdtke
Unser Sohn/Nonverbale Lernstörung ähnelt dem Asperg Syndrom macht seine Ausbildung in einem BBW, manchmal denk Ich mir schon dass die Führung des Vorgesetzten also Chef zu locker gehandhabt wird. Und die Entlohnung finden ich auch unmöglich, natürlich wird viel finanziell unterstützt aber für 120€+Essensgeld € 107.- im Monat ist nicht gerade viel, die Auszubildenden bekommen es ja mit was Ihre Geschwister verdienen, das ist dann nicht gerade motivierend. Und dass die Praktikas zuerst in Behinderteneinrichtungen ablaufen da die Ausbilder wissen wie sie mit Seelisch Behinderten od. Allgemein mit Behinderten umgehen müssen, und nicht in offiziellen Gewerbe. Ja, ist für den Start vielleicht nicht verkehrt aber später bekommen sie auch keine Schutzhülle (werden ins kalte Wasser geschmissen). Die Chancen nach einer BBW Ausbildung steht wahrscheinlich schon bei 50/50. So im Nachhinein hätte unser Sohn mehr Praktikas bei Firmen machen sollen, und wenn sich da nichts ergeben hätte die BBW dann hätte man sagen können wir haben erstmals alles auf normalen Weg probiert.
Und das wichtigste ist es mit seinen Kinder oder Heranwachsenden die Gespräche führen. Ich möchte niemanden Verurteilen, da wir Eltern immer das Beste für unsere Kinder tun möchte!?.