Rezension Dokumentarfilm  „was uns bewegt“

Vier Personen tragen eine Person in einer Rollstuhl-Senfte.
Mit Tobias gemeinsam auf dem Jakobsweg: Der Dokumentarfilm "was uns bewegt" zeigt das Abenteuer der neun Freunde.
Lesezeit ca. 6 Minuten

„Was uns bewegt“ – ein Film über Freundschaft, Natur und Inklusion auf dem Jakobsweg. Doch hinter der bewegenden Reise von neun Freund*innen, darunter Tobias, der mit einer Behinderung lebt, verbirgt sich mehr als nur ein Abenteuer. Der Dokumentarfilm will inspirieren – und stolpert dabei gefährlich nah an den Abgrund des sogenannten Inspiration Porn. Wie erzählen wir Geschichten über Behinderung, ohne zu verklären oder zu instrumentalisieren? Autorin und Schauspielerin Johanna Polley mit einer kritischen Reflexion über gute Absichten, stereotype Bilder und die Macht des Perspektivwechsels.

Reisen birgt die Chance, sich zu verändern. Im Dokumentarfilm „was uns bewegt“ erzählt Regisseur Oliver Stritzke von neun befreundeten Reisenden auf dem Jakobsweg. Er stellt sie vor: Albrecht, Christian, Dennis, Flo, Jasson, Sophia, genannt Fia, Franzi, Mimi, und Tobi, der das Voice-Over spricht. Tobias lebt mit einer Behinderung, nutzt normalerweise einen elektrischen Rollstuhl, seine Freund*innen haben augenscheinlich keine Behinderung. 

Ob behindert oder nicht, hier unternimmt eine Gruppe gemeinsam etwas Herausforderndes und Schönes in der Natur, neun Menschen auf einem Abenteuer – ein toller Start für einen Film!

Wir sehen die Gruppe voller Tatendrang aufbrechen und herumalbern. Später tragen sie im Plenum Konflikte aus, bekunden ihre Erschöpfung. Mal schweigen die Neun gemeinsam, mal singen sie. Immer wieder spornen sie sich gegenseitig an, weil der Weg immer beschwerlicher wird. Ihre Ehrlichkeit in den immer wieder eingewebten Interviews macht sie nahbar.

Auf einer Pilgerreise wird traditionellerweise Buße getan, ein Versprechen eingelöst oder Dank abgestattet. Heute ist der häufigste Grund die Selbsterfahrung. Insofern hatten die Freund*innen auf den ersten Blick keine außergewöhnliche Idee. Eine halbe Million Tourist*innen pilgern fast jedes Jahr ins galizische Santiago de Compostela. Ebenso erwartbar ist, dass eine mixed-abled Gruppe aus Freund*innen, die gemeinsam in den Bergen sind, solidarisch füreinander sorgt. Was also macht diese Geschichte zum Stoff eines von Aktion Mensch und Lebenshilfe gesponserten Dokumentarfilms?

Und das ist die scheuernde Stelle in „was uns bewegt”. Die Prämisse, unter der diese eigentlich vielversprechende Dok-Film-Idee beworben und erzählt wird, heißt: Inspiration Porn. 

„Wir alle in der Gruppe haben uns auf die Perspektive Tobis eingelassen, ohne Tobi zu sein. Und gleichzeitig haben wir eine Lektion Demut erhalten.”, findet Dennis. 

Auffällig häufig werden die nicht-behinderten Freund*innen bei der alltäglichen Care-Arbeit und Pflege für Tobias gezeigt. Kaum eine Interview-Gelegenheit wird ausgelassen, zu betonen, wie mühsam „das Projekt“, wie die Reise genannt wird, in seiner Umsetzung für alle laufenden Wanderer ist. Wie anstrengend das Schieben und Ziehen der einrädrigen „Sänfte” ist, die extra angefertigt wurde, um Tobias zu tragen. Passant*innen beklatschen die starken Held*innen, die den Barrieren trotzen, um ihren Traum wahrwerden zu lassen. Für Fia ist der Applaus ihr persönliches Hoch. Ganz wichtig ist allen Wandernden die Botschaft, dass es sich aber lohnen würde. Tobias betont seine Dankbarkeit, einmal bezeichnet er sich als Rucksack der anderen. Von anderen sichtbar behinderten Menschen fehlt in diesem Film jede Spur. Es winken Tokenism und internalisierter Ableismus. Das altbekannte Last- und Mitleids-Narrativ meldet sich. Muss das die Botschaft sein?

Den Begriff des Inspiration Porn prägte die Journalistin und Inklusionsaktivistin Stella Young.

„Inspiration Porn (…) objectifies (…) disabled people for the benefit of non-disabled people. The purpose of these images is to inspire you, to motivate you, so that we look at them and think, well, however bad my life is, it could be worse, I could be that person. But what if you are that person?“

Tobias sagt aber auch, „Ich hatte noch nie – davor nicht und danach nicht mehr so einen freien Kopf wie auf dem Jakobsweg.“ Hätte er diesen Zustand auch erreicht, hätte der Bogen des Films auch funktioniert, wenn die Freund*innen eine Unternehmung geplant hätten, die für alle ähnlich schwierig umzusetzen gewesen wäre?

Natürlich ist klar, dass Menschen mit Diagnosen, Behinderungen oder auf neurodivergenten Spektren in einer ableistischen Welt Barrieren umschiffen müssen. Und die Freund*innen versuchen im Umgang untereinander, gegen ableistische Narrative zu wirken. Dass Tobias ihnen nicht danken müsse, wird zum Beispiel betont. Trotzdem bleibt die Frage: auf welche Art erzählen wir uns davon? 

Es ist bisher noch Tradition, Geschichten über behinderte Menschen vor allem durch die Linse des medizinischen Modells und als Inspiration Porn zu erzählen. Aus vorrangig nicht-behinderter Perspektive und für ein nicht-behindert gedachtes Publikum. Wäre das anders, könnten diese Reisen mit einem zukunftsorientierteren Fokus erzählt werden. Wer erzählt, verfestigt, verbreitet, formt mit.

Deshalb ist die Verantwortung, über marginalisierte Gruppen zu erzählen, zum jetzigen Zeitpunkt so groß, aber auch so chancenreich. Schon heute gibt es starke behinderte Communities und viel Zusammenhalt, disabled joy, auch viel Wut und gemeinsam organisierte Reisen. Nur wird die Chance, all das zu repräsentieren, noch zu selten im Austausch mit den Communities genutzt. Behinderung wird öfter akzeptiert als überwunden. Mit Barrieren wird häufiger ein Umgang gefunden, als dass sie restlos verschwinden. Der filmische Konflikt wäre in einer von Diskriminierung geprägten Gesellschaft jedenfalls unschwer zu finden gewesen. 

In diesem Film ist Tobias Weber erst im Abspann als Co-Regisseur erwähnt. Wie hätte erzählt werden können, wären noch mehr behinderte Filmemacher*innen involviert gewesen?

Die Autorin Amanda Leduc, die mit Zerebralparese lebt, sagt:

„Die Welt muss andere Geschichten über einen Körper erzählen, der vielleicht wie meiner aussieht, und sich so verändern, dass alle hineinpassen.”

Dafür sollten mehr Perspektiven von unterschiedlichen Filmemacher*innen mit Behinderung an allen Entstehungsprozessen von Filmen beteiligt werden. 

Als eine Art symbolisches Barometer für die Stimmung in der Gruppe dienen die immer wieder auftauchenden Nahaufnahmen einer Nacktschnecke auf Asphalt. Stehen Schnecken nicht symbolisch für Transformation?

Doch wer soll sich transformieren: alle Reisenden oder besonders einer von ihnen? Wäre es nicht inklusiver, den Weg zu transformieren, den die Pilgernden gehen? Ein unglücklich gewähltes Bild. 

Würden wir in einer Welt ohne Ableismus leben, gäbe es diesen Film so nicht. Denn in dieser Welt wäre jede Strandpromenade, alle bergigen Wander– und Pilgerwege, alle Unterkünfte und öffentlichen Verkehrsmittel barrierearm zugänglich und durchschnittlich ästhetisch. Dort wären die Bedürfnisse behinderter und nicht behinderter Menschen nicht unterteilt in wahnsinnig besonders und vollkommen normal. Die Reise von Albrecht, Christian, Dennis, Florian, Jasson, Sophia, Franziska, Mimi, und Tobias wäre einfach eine von zahlreichen Unternehmungen der gleichgestellten Freund*innen. Niemand würde die Gruppe dafür auf dem Weg oder im Kino beklatschen – warum auch? Der Fokus eines Dokumentarfilms über die neun Gefährt*innen, läge nicht auf den Widrigkeiten des gemeinsamen Wanderns in dieser mixed-abled Konstellation. Es wäre weniger die bildliche und tatsächliche Rede vom geringen Tempo der Pilgernden (Nacktschnecke!) und auch alltägliche Vorgänge von Tobias, essen, schlafen, umsetzen, wären spätestens im Schnitt zu großen Teilen gekürzt worden. Denn in dieser Welt wäre es normal, behindert zu sein. 

Judyta Smykowski sitzt im Rollstohl an einem kleinen Tisch. Ihr gegenüber sitzen die beiden Schauspieler*innen Tom Schilling und Luisa Wöllisch. Hinter ihnen sind Plakate des Kinofilms "Die Goldfische" aufgehangen. Vor ihnen steht eine Kamera, die das Gespräch filmt.

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Positiv hervorzuheben in diesem liebevoll produzierten Film sind jedoch besonders zwei Aspekte. Bemerkenswert wirken die Geräusche der Natur, die den beruhigenden Sound-Teppich (Andreas Grodzik) aus Windrauschen, Vogelgezwitscher und Kieselstein-Knirschen bilden. Außerdem bestehen die Filmemacher*innen auf Untertitel im Film und einer Audiodeskription. Sie zeigen den Film nur in barrierearmen Spielstätten. 

Die Gruppe in „was uns bewegt“ steht am Ende stolz vor der Kathedrale von Santiago de Compostela. Ziel aller Jakobsweg-Routen ist diese Kathedrale, weil dort die Reliquien von Apostel Jakobus vermutet werden. Ob seine irdischen Überreste wirklich in der Kathedrale liegen, ist nicht abschließend bewiesen. 

Die Reise hin zu diskriminierungssensibel erzählten Filmen, die den behinderten Communities nützen, kann eine ganz eigene innere Reise sein. Eine transformierende Pilgerreise derer, die an die Existenz einer gleichgestellten (Film-)Welt glauben. Ob das, wofür sie sich auf den steinigen Weg machen, am Ende auch wirklich dort zu finden sein wird, muss nicht abschließend bewiesen sein, um sich zu lohnen.

Wir sehen uns dort – Glückauf!

Fazit in kurz: Bleibt unter seinem Potenzial. Der Pilgerweg derer, die an eine wirklich inklusive Welt glauben, darf noch beschritten und um viele Etappen erweitert werden. 

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