Viele Menschen glauben, dass es eine bestimmte Persönlichkeit erfordert, um mit einer Behinderung zu leben. Authentizität ist aber eine Stärke, die durch den offenen Umgang mit Begrenzungen wachsen kann. Nicht jede vermeintliche Stärke ist eine echte: Die idealisierte ‚Treue‘ behinderter Menschen wird allzu oft instrumentalisiert, um tief verwurzelte strukturelle Missstände zu verschleiern, berichtet Raúl Krauthausen.
Zwischen Selbstakzeptanz und Authentizität
„Ich könnte das nicht“, „Ich bewundere, wie du das alles schaffst.“ Diese Aussagen von nicht-behinderten Menschen haben mich früher geärgert. Ich hatte den Eindruck, eine Behinderung ist in ihren Augen ein unerträgliches Merkmal, mit dem sie nicht leben wollen würden.
Heute denke ich anders über diese Aussagen. Ich glaube, viele Menschen haben Unzulänglichkeiten, für die sie sich schämen oder die sie vor anderen verstecken. Sie hadern mit der eigenen Vergangenheit, mit Eigenschaften, Bedürfnissen oder eigenen Merkmalen. Sie glauben, sie verlieren an Respekt oder Liebenswürdigkeit, wenn andere davon erführen. Daher bleiben diese Dinge im Verborgenen. Es wird darüber geschwiegen oder Makel werden versteckt oder überschminkt. Oft ist es so, dass Zuneigung oder Anerkennung anderer Personen nicht ernst genommen werden können, solange man schambehaftete Dinge nicht offenbart. „Wenn der andere mein Geheimnis kennen würde, würde er anders über mich denken!“, sind gängige Befürchtungen. So führen viele Menschen ein Versteckspiel mit ihren Merkmalen, um im Einklang mit dem Bild zu bleiben, das andere von ihnen haben sollen. Dabei nehmen sie jedoch Einbußen an Authentizität in Kauf.
Sichtbare und unsichtbare Barrieren
Ich kann mein Merkmal nicht verstecken. Ich könnte mich auf den Kopf stellen und wäre immer noch ein auf dem Kopf stehender Rollstuhlfahrer. In dieser Hinsicht bin ich zur Authentizität gezwungen. Ich muss angeben, was für mich möglich ist und was nicht. Würde ich es nicht tun, gefährde ich meinen Körper auf die offensichtlichste Art: meine Knochen brechen.
Bei vielen Menschen sind die Verletzungen, die durch das Verstecken von Limitationen entstehen, subtiler. Überlastung, Depressionen, Burnout kündigen sich teilweise schon lange an, aber viele Menschen gehen mit großer Regelmäßigkeit und Vehemenz über ihre eigenen Grenzen. Früher oder später zahlen viele Menschen einen Preis dafür. Oft in Form von körperlichen oder seelischen Erkrankungen und Schmerzen.
Dies hat auch eine bedeutende gesellschaftliche Komponente. Wir leben in einer zutiefst ableistischen Gesellschaft. Ableismus ist die Bewertung einer Person anhand ihrer Leistungsfähigkeit. Wir schätzen Menschen auf der Höhe ihres körperlichen und geistigen Arbeitsvermögens. Wem aufgrund von Behinderung oder Erkrankung weniger Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird, hat es schwerer, als wertvolles Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden.
Wenn das gesellschaftliche Ansehen auf dem Spiel steht, ist es nicht einfach, Leistung herunterzuschrauben und sich selbst zu schützen.
Einen Menschen zu sehen, der seine Eigenschaften nicht verstecken kann und offen damit umgeht, kann etwas Bedrohliches, aber auch etwas sehr Befreiendes haben. Bedrohlich, weil das Anderssein Zugehörigkeit gefährden kann. Befreiend, weil ein offener Umgang mit den eigenen Begrenzungen auch Vorbildfunktion hat. Meine Vermutung ist, dass Menschen sich insgeheim wünschen, offener mit ihren Limitationen umgehen zu können. Ich glaube, das meinen sie, wenn sie bewundernd zu mir sagen: „Ich könnte das nicht.“ Möglicherweise meinen sie „Ich traue mich nicht, so authentisch zu sein, wie du sein musst.“
Wir passen uns an und bleiben wir selbst
Es ist aber nicht zwangsläufig eine Persönlichkeitseigenschaft, die gerade mir einen guten Umgang mit meiner Behinderung ermöglicht. Vielmehr habe ich mir Methoden angeeignet, um mit meiner Behinderung gut zu leben. Viele Menschen unterschätzen ihre eigenen adaptiven Fähigkeiten. Wir haben oft ein mentales Bild vor Augen, wie es uns unter den ein oder anderen Umständen ergehen würde. Wir glauben, für immer sorglos und zufrieden zu sein, wenn wir im Lotto gewinnen würden. Oder in eine unermessliche Depression zu verfallen, wenn wir eine Behinderung erwerben würden. Beide Dinge sind erwiesenermaßen falsch. Der Mensch ist zu großen Anpassungsleistungen fähig. Nur etwa 10 % des Wohlbefindens ist von äußeren Umständen abhängig, 50 % gehen auf genetische Komponenten zurück und 40 % ist von Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflusst. Zu 90 % nimmt ein Mensch also die eigene Persönlichkeit und Konstitution, – kurz: sich selbst – in jede weitere Situation mit. Wir kehren nach positiven wie negativen Ereignissen nach einer gewissen Zeit auf ein nahezu unverändertes Level unseres individuellen Glücks- oder Zufriedenheitsniveaus zurück. Der Fachausdruck hierfür ist Hedonistische Tretmühle und lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Everywhere you go there you are. Überall, wo du hingehst, bist du.
In der westlichen Kultur spielen die Mythen des Individualismus, der Unabhängigkeit und der Unverwundbarkeit eine tragende Rolle.
Das sind die guten und die schlechten Neuigkeiten. Die Umstände verändern uns kaum. Jeder Mensch kann also potenziell mit einer Behinderung leben, ohne dass es die eigene Grundkonstitution grundlegend beeinträchtigen würde. Das heißt auch: Jeder Mensch kann es potenziell ertragen, offener mit den eigenen unliebsamen Merkmalen umzugehen. Authentizität hat keine Teilnahmebedingungen.
Vom Ego-Mythos zur Kraft der Gemeinschaft
In der westlichen Kultur spielen die Mythen des Individualismus, der Unabhängigkeit und der Unverwundbarkeit eine tragende Rolle. Solche Narrative verkennen, dass wir Probleme am besten gemeinsam angehen können. Die Behindertenbewegung bietet eine authentische Alternative zu diesen Erzählungen.
Sozialunternehmer und Autor Al Etmanski spricht in seinem Buch The Power of Disability über 5 kulturelle Kräfte, die Menschen mit Behinderungen und die globale Community behinderter Menschen in sich tragen.
Die Kraft der Mehrheit
Mit 1,2 Milliarden Menschen sind Menschen mit Behinderungen die größte Minderheit weltweit. Zählt man Angehörige und Unterstützer*innen hinzu, ergibt sich eine Gemeinschaft von 4,6 Milliarden. Diese Zahl verdeutlicht ihre Stärke und die Notwendigkeit für barrierefreie Lösungen und Inklusion.
Die Kraft der Vielfalt
Behinderung betrifft Menschen aller Geschlechter, Ethnien, Orientierungen und Lebensmodelle. Diese intersektionale Perspektive fördert ein Verständnis für Marginalisierung und die Bereicherung durch Vielfalt und Diversität.
Die Kraft der Kreativität
Menschen mit Behinderungen meistern Herausforderungen mit Einfallsreichtum und tragen zu Technologien bei, wie Rampen, Untertitel oder Sprachassistenzsysteme. Diese Innovationen nützen der gesamten Gesellschaft.
Die Kraft der Authentizität
Offener Umgang mit den eigenen Stärken und Begrenzungen stärkt die Authentizität und schafft eine positive Wirkung auf das soziale Umfeld.
Die Stärke der Gemeinschaft
Die Größe dieser Gemeinschaft birgt enormes Potenzial. Solidarität kann Barrieren abbauen, Inklusion fördern und gesellschaftlichen Wandel bewirken, der auch anderen marginalisierten Gruppen zugutekommt.
Ich möchte die fünf Kräfte noch um die Kraft der Resilienz erweitern.

„Easy Beauty“ von Chloé Cooper Jones. Von der Schönheit, sich von sich selbst zu lösen
Die Philosophin und Autorin Chloé Cooper Jones schreibt in ihrem Memoir „Easy Beauty. Blicke auf meine Behinderung“ schonungslos über Identität, Behinderung und Vorstellungen von Schönheit und nimmt uns mit auf ihre Reisen, die nicht nur an entfernte Orte führen, sondern eine Suche nach einer neuen Art des Sehens und Gesehenwerdens ist. Unsere Redakteurin Carolin Schmidt hat es für uns gelesen.

„Allein, dass ich da bin, ist grundsätzlich ein Zeichen von Diversität.“ Ein Gespräch mit SPD-Politiker Bijan Kaffenberger
Bijan Kaffenberger hat Volkswirtschaftslehre studiert und als Referent für Breitbandausbau im Thüringer Wirtschaftsministerium gearbeitet, bevor er 2019 als Abgeordneter in den hessischen Landtag einzog. Neben seiner politischen Karriere ist Kaffenberger Vater von zwei Kindern und Autor von „Was machen Politiker eigentlich beruflich?“. Unsere Autorin Karina Sturm unterhielt sich für die Neue Norm mit dem SPD-Politiker.

„Angry Cripples“ – Wie laut darf oder muss Protest sein?
„Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus” versammelt 15 Stimmen aus der Behinderten-Community, die eines eint: die Wut darüber, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht. Carolin Schmidt hat das Buch gelesen und mit Luisa L’Audace, eine der Herausgeberinnen, darüber gesprochen.
Der ständige Umgang mit diesen Hindernissen bildet Resilienzen.
Leider gibt es Deutschland noch immer unzählige Barrieren, mit denen Menschen mit Behinderungen täglich umgehen müssen: mit Barrieren in ihrer Umgebung, mit Ableismus ihrer Mitmenschen, mit struktureller Diskriminierung. Während dies zu großen Teilen Verstöße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention darstellen und auf politischer Ebene beseitigt gehören, beinhaltet es zumindest einen kleinen Wermutstropfen: Der ständige Umgang mit diesen Hindernissen bildet Resilienzen. Resilienz beschreibt die Fähigkeit, Herausforderungen zu bewältigen, Belastungen zu überstehen und sich von Rückschlägen zu erholen.
Resilienz, Einfallsreichtum, Authentizität und Kreativität – nach genau diesen Eigenschaften suchen viele Unternehmen in ihren Mitarbeitenden. Doch wie oft wird übersehen, dass gerade behinderte Menschen diese Qualitäten in besonderem Maß mitbringen? Ihre einzigartige Perspektive birgt einen wertvollen Schatz, der gewinnbringend genutzt werden kann. Was sich für behinderte Menschen bewährt, erweist sich häufig auch als Bereicherung für alle.
Treue: Eine falsch angepriesene Stärke
Während diese wertvollen Kräfte behinderter Personen Anerkennung verdienen, gibt es auch immer wieder fehlplatzierte Lorbeeren. Behinderte Menschen werden oft für ihre Treue, vor allem im Arbeitskontext, gerühmt. Dieses Phänomen geht jedoch nicht auf die besondere Qualität behinderter Arbeitnehmenden zurück, sondern hauptsächlich auf strukturelle Missstände.
Die Behindertenrechtsaktivistin Becca Lory Hector, legt in einem Beitrag die Hintergründe der vermeintlichen Treue zu Unternehmen dar:
- Es ist für behinderte Menschen sehr aufwendig, Jobs zu wechseln
- Um den Bedürfnissen eines Lebens mit Behinderung gerecht zu werden, wird ca. 28 % mehr Einkommen benötigt, als beim durchschnittlichen Erwachsenen.
- Es ist schwer, überhaupt eine Arbeitsstelle zu finden, die auf behinderte Menschen ausgerichtet ist, dass sich mit vielen Dingen abgefunden wird, die andere Arbeitnehmende nicht tolerieren würden.
Es ist also ein Cluster aus unterschiedlichen Faktoren struktureller Benachteiligung, die Flexibilität behinderter Arbeitnehmender beeinträchtigen. Die Punkte, die hier für den Arbeitsmarkt definiert wurden – Aufwand, Finanzen, weitere strukturell-ableistische Aspekte – gelten auch für weitere Lebensbereiche. Behinderte Menschen werden öfter in starke Abhängigkeitsverhältnisse geleitet und haben weniger Möglichkeiten, sich auch aus schwierigen Umständen zu lösen.
Unser derzeitiges System setzt zu wenig auf Selbstbestimmung und Entfaltung behinderter Menschen.
Abhängigkeitsverhältnisse
Menschen mit Behinderungen werden öfter in Parallelstrukturen institutionalisiert. In Sonderschulen, Werkstätten für behinderte Menschen und in Wohneinrichtungen werden sie in hierarchischen Systemen festgehalten. Es erfordert auch hier einen hohen Aufwand, sich aus diesen Abhängigkeiten zu lösen.
- Es gibt mächtige Systeme, die Menschen mit Behinderungen in Abhängigkeiten halten.
- Für Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) wurde dies zuletzt von Jan Böhmermann im ZDF Magazin Royale anschaulich auf den Punkt gebracht.
- Der Erziehungswissenschaftler und Sonderpädagoge Hans Wocken hat Methoden im Schulsektor aufgedeckt, welche Kinder mit Behinderung im Sonderschulsystem halten.
Aus diesen Systemen auszusteigen, ist besonders schwer.
- Menschen mit Behinderungen sind in den Abhängigkeitsverhältnissen oft Gewalt und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Dies kann zusätzlich mentale und körperliche Kraft kosten.
- Behinderte Menschen haben in vielen Fällen nur begrenzte Energieressourcen.
Es braucht zudem finanzielle Rücklagen, die aufgrund mehrerer Faktoren oft deutlich limitiert sind.
- Personen, die auf Sozialhilfeleistungen wie die Eingliederungshilfe angewiesen sind, dürfen ein bestimmtes Einkommen nicht überschreiten und nur begrenzte finanzielle Rücklagen bilden.
- Gleichzeitig wird, wie oben erwähnt, ca. 28 % mehr Einkommen benötigt, um ein Leben mit Behinderung zu bewältigen.
- Die Arbeitskraft behinderter Menschen wird oft in Werkstätten für behinderte Menschen eingesetzt und mit einem Gehalt weit unter dem Mindestlohn (durchschnittlich 1,35 € pro Stunde) ausgebeutet.
- Behinderte Frauen sind die Gesellschaftsgruppe mit dem niedrigsten Einkommen.
Folgende strukturell-ableistische Aspekte können ebenfalls eine Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft erschweren:
- Ableismus in der Gesellschaft verdeutlicht immer wieder die Geringschätzung und den geringen Wert, der behinderten Menschen beigemessen wird.
- Es gibt kaum barrierefreien, bezahlbaren Wohnraum. Aktuelle Zahlen geben einen Mangel von über 2 Millionen barrierefreien Wohnungen in Deutschland an.
- Es gibt noch immer große Versäumnisse im Bereich der Barrierefreiheit. Es besteht kaum barrierefreie Infrastruktur (dies betrifft u.a. Gebäude und Wohnhäuser, Privatunternehmen, Ärzt*innenpraxen, Transport, Mobilität etc.)
- Es gibt wenige Berührungspunkte von behinderten und nicht-behinderten Menschen, bei denen sich auf Augenhöhe begegnet wird. Dies limitiert die Möglichkeiten, sich ein soziales Hilfsnetz aufzubauen.
Unser derzeitiges System setzt zu wenig auf Selbstbestimmung und Entfaltung behinderter Menschen und versäumt es größtenteils, ableistischen Idealen entgegenzuwirken. Es ist also weniger Treue, eher ein Gefühl der Ausweglosigkeit und Alternativlosigkeit, die behinderte Menschen auch in toxischen Situationen halten. Ich erachte es daher als extrem problematisch, diese Realität als Qualität von Personen mit Behinderungen umzudeuten und die strukturellen Probleme dahinter auszuklammern. Es kaschiert die Verantwortung von Politik, Unternehmen und Gesellschaft, menschenwürdige Bedingungen für behinderte Personen zu schaffen, die ihnen Teilhabe und Flexibilität ermöglichen.
Es sind nicht die vermeintlich reduzierten Leistungen, die behinderten Menschen im Weg stehen, sondern Strukturen, die ihre Selbstbestimmung und Flexibilität einschränken.
Gute Kräfte kultivieren
Um wirklich etwas zu verändern, müssen wir unsere stillschweigenden Annahmen hinterfragen: Wo unterschätzen wir die Fähigkeiten und Qualitäten von Menschen mit Behinderungen? Wie können wir ihre Stärken nicht nur wirtschaftlich sinnvoll nutzen, sondern auch gesellschaftlich fördern – zum Vorteil aller?
Wenn wir die Brille des Ableismus ablegen, wird klar: Es sind nicht die vermeintlich reduzierten Leistungen, die behinderten Menschen im Weg stehen, sondern Strukturen, die ihre Selbstbestimmung und Flexibilität einschränken. Es sind diese Barrieren, die uns alle zurückhalten, indem sie Vielfalt und Kreativität begrenzen.
Etmanskis kulturelle Kräfte von Behinderung – Mehrheit, Vielfalt, Kreativität, Authentizität und Gemeinschaft – zeigen uns, wie viel Potenzial in einer inklusiveren Gesellschaft steckt. Doch Wandel erfordert aktive Entscheidungen: den Mut, Strukturen zu hinterfragen, die Kraft, Barrieren abzubauen, und die Bereitschaft, gemeinsam neue Wege zu gehen.
Am Ende geht es nicht nur darum, behinderte Menschen stärker einzubinden, sondern auch darum, uns selbst zu befreien. Denn die Authentizität, die wir bewundern, die Gemeinschaft, nach der wir uns sehnen, und die Resilienz, die wir brauchen, finden wir alle in einer Welt, die auf Vielfalt und Gleichberechtigung baut.