Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist weit mehr als ein Kommunikationsmittel – sie ist die Muttersprache und kulturelle Identität Tauber Menschen. Doch in Deutschland fehlt ihr bis heute der Status einer anerkannten Minderheitensprache. Kolumnistin Lela Finkbeiner schreibt gemeinsam mit Romy Ballhausen, Vizepräsidentin des Bundeselternverbands gehörloser Kinder darüber, was das für Taube Menschen bedeutet und warum sie gerade vom Wahlprogramm der SPD enttäuscht sind.
Warum die Deutsche Gebärdensprache endlich als Minderheitensprache anerkannt werden muss
Stellt euch vor, die für euch wichtigste Sprache wird in eurem eigenen Zuhause nicht gelebt und geliebt. Sie wird kaum bis gar nicht oder falsch unterrichtet, nicht gefördert und in den Medien ignoriert. Genau das erleben Taube Menschen in Deutschland täglich. Ihre Sprache – die Deutsche Gebärdensprache (DGS) – hat bis heute nicht den Status einer anerkannten Minderheitensprache.
Warum ist die Anerkennung so wichtig?
Der Weltverband der Gehörlosen (WFD) erklärt in seiner Charta, dass Taube Menschen besondere Rechte haben.
Warum?
Sie gehören zu einer sprachlichen und kulturellen Gruppe.
Sie gehören aber auch zur Behindertenbewegung.
Das bedeutet: Sie sind gleichzeitig eine Sprachminderheit und Teil der Behindertenbewegung. (WFD-Charta 2.3)
Die Anerkennung der DGS als Minderheitensprache wäre ein entscheidender Schritt zu mehr Sichtbarkeit Tauber Menschen und zur Förderung ihrer Sprache. Das würde ihre Sprache und Kultur endlich mit anderen Minderheitensprachen in Deutschland gleichstellen und Taube Menschen stärken, anstatt nur „Hilfesysteme“ um sie herum auszubauen. Wenn die Deutsche Gebärdensprache (DGS) als Minderheitensprache anerkannt wird, bedeutet das nicht nur, dass sie geschützt wird – es bedeutet auch, dass klar geregelt wird, wie sie gefördert wird.
➡️ Zum Beispiel:
- Wie können Theaterstücke in DGS finanziert und gefördert werden?
- Wie können Filme in Gebärdensprache mehr Unterstützung bekommen?
- Wie können Taube Künstler*innen bessere Arbeitsbedingungen erhalten?
Bis jetzt wird Kultur mit Gebärdensprache oft nur als „Inklusion“ gesehen – also als eine Maßnahme, um Barrieren für Taube Menschen zu verringern, meist unter Einsatz von Dolmetschenden für DGS und Deutsch. Das ist viel zu wenig! DGS ist nicht nur eine Sprache für Barrierefreiheit – sie ist Kernstück einer Community, manche sagen „Kultur“.
Durch die Anerkennung als Minderheitensprache wird sichergestellt, dass die Förderung nicht nur darauf abzielt, Zugang zu ermöglichen, sondern dass die Taube Kultur selbst unterstützt und sichtbar gemacht wird.
Das bedeutet: Taube Menschen stehen im Mittelpunkt – nicht nur als Publikum, sondern auch als Künstler*innen, Kreative und Kulturschaffende.
Des Weiteren: DGS würde viel mehr erforscht und gelehrt werden von Tauben Menschen. Es geht nicht darum, Barrieren einfach nur aus dem Weg zu räumen, sondern Tauben Communities endlich eine gleichwertige gesellschaftliche Stellung zu geben.
Aktuell ist es keineswegs selbstverständlich, dass Taube Kinder Zugang zur Gebärdensprache erhalten, im Gegenteil: Eltern müssen hart für das Recht auf gebärdensprachlichen Zugang kämpfen. Mit einer offiziellen Anerkennung als Minderheitensprache hätten Taube Kinder besseren Zugang zu Bildung in DGS, es gäbe mehr Angebote für Familien, in den Medien und in der Kultur. Taube Menschen hätten endlich die Möglichkeit, ihre eigene Vielfalt mit weniger Einschränkungen zu leben. Ohne der Beherrschung von DGS können sie nicht an Angeboten mit DGS teilnehmen und verstehen auch andere, die DGS verwenden, nicht. Taube Menschen müssen DGS von Tauben Vorbildern, von verschiedenen Tauben Menschen mit DGS in Kontakt treten, spielerisch lernen und regelmäßig üben, wie jede andere Sprache auch. Sie kommt nicht einfach von selbst. Das ist klar, aber viele Menschen scheinen Schwierigkeiten zu haben, das genau zu verstehen, besonders die Politik.
Es geht nicht darum, allen Zugang zur Gebärdensprache zu ermöglichen, sondern darum, Taube Kinder endlich in den Mittelpunkt zu stellen.
Was hat die Politik damit zu tun?
Die Politik spielt eine entscheidende Rolle bei der Anerkennung der DGS als Minderheitensprache. Sie muss endlich Verantwortung übernehmen und konkrete Schritte unternehmen, um die Rechte Tauber Menschen zu stärken.
Dazu gehört in erster Linie die Aufnahme der DGS in die Liste der Regional- und Minderheitensprachen im Rahmen der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRML). Es ist längst überfällig, dass die Politik handelt. Doch wenn man sich die Wahlprogramme der Parteien anschaut, sieht es dünn aus. Einzig Die Grünen schreiben etwas ausführlicher: „Wir wollen die Deutsche Gebärdensprache besser verankern, weiter fördern und damit auch ihre Nutzer*innen stärken. Wir wollen sie als nationale Minderheitensprache anerkennen und prüfen Wege zur Umsetzung. Wir setzen uns für die Einrichtung eines Kompetenzzentrums zur barrierefreien Kommunikation ein. Wir stärken die Disability Studies.“ Die Grünen sprechen klar von der „Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als Minderheitensprache“.
Alle anderen Parteien? Luftschlösser in Wahlprogrammen, die sich auf den ersten Blick ganz nett lesen. Doch sie täuschen. Hier ein Beispiel: „Wir wollen die Deutsche Gebärdensprache bundesweit fördern und möglichst viele Menschen beim Erlernen dieser Sprache unterstützen – ob sie darauf angewiesen sind oder nicht.” (S.42 des SPD-Wahlprogramms)
Wow, denken wir. Wie toll. DGS für alle. Doch der Bundeselternverband gehörloser Kinder e.V. protestiert zu recht. DGS für alle? Viele Menschen finden es spannend und faszinierend, DGS zu lernen und es ist toll, wenn Taube mit ihrer Umwelt direkt untereinander kommunizieren können. Doch anstatt diese Begeisterung zu nutzen, um die Bildungssituation Tauber Kinder zu verbessern, verschiebt sich der Fokus: Weg von Tauben Kindern und hin zu Menschen, die bereits mindestens einen sprachlichen Zugang haben, den Taube Kinder nicht erhalten. Die Gebärdensprache wird eher als „Trend“ oder Bonus wahrgenommen, um auch Tauben Menschen zu „helfen“.
Es geht nicht darum, allen Zugang zur Gebärdensprache zu ermöglichen, sondern darum, Taube Kinder endlich in den Mittelpunkt zu stellen. Sie brauchen Taube Dozierende, Bildung in ihrer eigenen Sprache und ein System, das ihre Rechte schützt – und zwar jetzt.
Wann erkennt die Politik, dass Taube Kinder und ihre Familien nicht länger warten können? Die Entscheidungen der Politik sollten nicht den Bedürfnissen der Menschen dienen, die aus Spaß DGS lernen wollen und Tauben Menschen bei der Kommunikation „helfen“ möchten. Es muss aktiv gegen sprachliche Deprivation gekämpft werden, von der aktuell bis zu 70% der Tauben Kinder betroffen sind.
Sprachliche Deprivation bedeutet, dass Kinder in den entscheidenden frühen Jahren keinen Zugang zu einer für sie verständlichen Sprache erhalten. Das kann zu neuronalen Fehlentwicklungen im Gehirn führen, deren gesellschaftliche Folgen dramatisch sind: Probleme in der Bildung, soziale Isolation, eingeschränkte kognitive Entwicklung und massive Hürden im späteren Leben. Dieses Risiko wäre mit einer starken rechtlichen Verankerung der DGS als Minderheitensprache vermeidbar.
Auch die Formulierung der CDU im Wahlprogramm, die Deutschen Gebärdensprache (DGS) als eigenständige Sprache zu „fördern“, ist problematisch und wirkt eher vage. Der Begriff „Förderung“ lässt Raum für Interpretationen und schwächt das Engagement der Partei. Eine klare und verbindliche Position wäre erforderlich, um tatsächlich den Willen zur Anerkennung zu zeigen. In ihrer aktuellen Formulierung hinterlässt die CDU den Eindruck, dass erst noch weitere politische Schritte erforderlich sind, bevor die DGS die Anerkennung erhalten kann, anstatt dies als festen Bestandteil ihres Programms zu verankern. Ein konkreter, festgeschriebener Bekenntnis zur Anerkennung wäre ein starkes Signal für die Tauben Communitys und deren Bedürfnisse.
Solange die DGS nur als „Hilfsmittel“ und zum Erreichen der Barrierefreiheit dienen soll, bleibt sie an ein Defizit-Narrativ gebunden.
Sprachrecht vs. Behindertenrecht
Aktuell wird die Deutsche Gebärdensprache (DGS) im Rahmen des Sozialgesetzbuches (SGB) behandelt. Dadurch wird sie nicht als eigenständige Sprache anerkannt, sondern als Kommunikationshilfe eingestuft.
Das hat gravierende Folgen:
🔹 Weniger rechtlicher Schutz für DGS – Sie wird nicht als schützenswerte Minderheitensprache betrachtet.
🔹 Abhängigkeit von Sozialleistungen – Statt struktureller Förderung wird der Zugang zu DGS an medizinische oder soziale Bedarfsprüfungen geknüpft.
🔹 Eingeschränkte Weitergabe und Nutzung – Taube Menschen haben weniger Möglichkeiten, ihre Sprache in Bildung, Wissenschaft und Kultur selbstverständlich zu leben.
Ein großes Missverständnis muss zudem ausgeräumt werden: Dolmetschende für DGS und deutsch sind keine Vertreter*innen von Sprachenrechten oder DGS-Förderung.
Dolmetschen ist eine Dienstleistung, die Barrieren abbaut. Aber: Dolmetschende sichern nicht das Überleben der Sprache. Und Dolmetschende ersetzen keine Gebärdensprachgemeinschaft.
Die Förderung von DGS muss unabhängig von Dolmetschdiensten erfolgen. DGS muss als Sprache geschützt, gefördert und gelehrt werden – nicht nur als Mittel zur Verständigung für Hörende.
DGS gehört in die Hände der Tauben Communitys – und nicht in die Verwaltung hörender Strukturen!
Taube Menschen müssen selbst viel sichtbarer werden – unabhängig von Dolmetschenden. Ihre Präsenz in Politik, Bildung, Kultur und Medien darf nicht davon abhängen, ob hörende Strukturen sie „zulassen“ oder ob Dolmetschende anwesend sind.
Die Politik muss endlich handeln und DGS als Sprache und Kulturgut ernst nehmen, anstatt sie nur als Kommunikationshilfe für Taube Menschen zu betrachten.
Ohne eine klare Anerkennung der DGS als Minderheitensprache bleiben Taube Menschen gefangen zwischen Behinderten- und Sprachenrecht – ohne in einem dieser Bereiche wirklich vertreten zu sein. Sie fallen durch das Raster politischer Förderungen. Ihre Rechte als sprachliche Minderheit werden nicht anerkannt. Und – sie bleiben unsichtbar, was ihren gesellschaftlichen Einfluss massiv einschränkt.
Eine Sprache ohne Anerkennung ist eine Sprache ohne Schutz. Taube Menschen müssen sich für ihre eigenen Rechte einsetzen können
Im Beitrag erwähnte Quellen:
1. World Federation of the Deaf (WFD) – WFD Position Paper & Charter
WFD-Charta 2.3: „Taube Menschen haben besondere Rechte, weil sie sowohl zu einer sprachlichen und kulturellen Gruppe als auch zur Behindertenbewegung gehören.“
2. Stellungnahme Gehörlosenverbund
Gemeinsam für Vielfalt und Inklusion #DGSistMinderheitenspracheJetzt
3. Europarat – Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRML)
Forderung nach der Anerkennung der DGS als Minderheitensprache.
4. SPD Wahlprogramm 2025 (PDF oder Website der SPD)
Zitat (Seite 42): „Wir wollen die Deutsche Gebärdensprache bundesweit fördern und möglichst viele Menschen beim Erlernen dieser Sprache unterstützen – ob sie darauf angewiesen sind oder nicht.“
5. Bundeselternverband gehörloser Kinder e.V.
Kritik an der Politik zur DGS, insbesondere an der Fokussierung auf „DGS für alle“ statt auf Taube Kinder.
6. Haualand, H. & De Meulder, M. (2019). “The Hidden Power of Sign Language Interpreters: Insights from the Deaf Community” (Forschung zu Gebärdensprachdolmetschenden)
These: Dolmetschende werden oft als „Retter:innen der Inklusion“ dargestellt, was problematisch ist.
7. Forschung zur sprachlichen Deprivation bei Tauben Kindern
Bis zu 70 % der Tauben Kinder sind von sprachlicher Deprivation betroffen, was ihre kognitive Entwicklung beeinflusst.
Quelle: Grote, K.,et al. (2024). “Die verheerenden Auswirkungen von Sprachdeprivation und fehlgeleiteter Diagnostik bei tauben Kindern mit kognitiven und sprachlichen Störungen in medizinischen Zentren, Förder- und Bildungseinrichtungen” ( Journal of DeafMind & DeafDidactics, Vol 1.)
Mayberry, R. I. (2007). “When Timing Matters: The Role of First-Language Acquisition in Second-Language Learning” (Science Direct)
Hall, W. C. (2017). “What You Don’t Know Can Hurt You: The Risk of Language Deprivation by Impairing Sign Language Development in Deaf Children” (National Institute of Health / Gallaudet Research Institute)
8. Sozialgesetzbuch (SGB) und Dolmetschdienste, SGB IX & SGB XII – Regelungen zur Kommunikationshilfe
Dolmetschen wird primär über das Sozialgesetzbuch (SGB) geregelt, wodurch es als Behindertenhilfe und nicht als Sprachenrecht eingeordnet wird.
9. CODAs und Heritage Signers, Napier, J., Leigh, G., & Goswell, D. (2020). “Sign Language Brokering and Heritage Signers: Identity and Language Development” (Journal of Deaf Studies & Education)
Kinder Tauber Eltern (CODAs) sollten als heritage signers anerkannt und gefördert werden.