Ein Kind für das Leben zu stärken, dieser kleinen Persönlichkeit die oft zitierten „Flügel und Wurzeln“ mitzugeben – das ist höchstwahrscheinlich Ziel der meisten Bezugspersonen und Erzieher*innen. Unsere Autorin Adina Hermann fragt sich, wie das gelingen kann. Was ist möglicherweise kontraproduktiv, auch wenn es gemeint ist? Und warum machen Erziehende oft Unterschiede im Umgang mit dem Kind, wenn es eine Behinderung hat?
Das besondere Kind?
Einige Bezugspersonen (überwiegend Personen ohne Behinderung) beschreiben ihr behindertes Kind gern mit Begriffen wie „das besondere Kind“ oder ähnlichen Ausdrücken. Nicht selten stehen diese Bezeichnungen im Vergleich zu anderen, nichtbehinderten Kindern. Sie tun dies meist liebevoll und in guter Absicht. Und natürlich ist es richtig und wichtig, das Kind zu lieben und akzeptieren, wie es ist. Das Kind jedoch erfährt durch Ausdrücke wie „das besondere Kind“ von Anfang an ein „Othering“ – die Alterisierung und Distanzierung von einer vermeintlichen Norm. Das Kind lernt: Ich gehöre nicht komplett dazu. Ich bin anders. Das kann die Selbstwahrnehmung nachhaltig beeinträchtigen.
Ebenso nachhaltig wirkt der gut gemeinte Versuch, das Kind vor allen Widrigkeiten des Lebens schützen zu wollen und es in Watte zu packen. Die Folge kann sein, dass das Kind früh erkennt, dass ihm weniger zugetraut wird – und im schlimmsten Fall manifestiert sich dies als Glaubenssatz für das spätere Leben. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen dem Kind dieses mangelnde Zutrauen direkt und unverblümt durch Tat oder Wort kommuniziert wird. Oft ist es aber auch viel subtiler, es werden einfach andere Angebote gemacht und weniger Anforderungen gestellt. Beides kann schlussendlich zu einem mangelnden Selbstbewusstsein oder psychischen Problemen führen. Der gesamte Lebensweg kann davon beeinflusst werden. Was ist das Ergebnis? Radikal gestutzte Flügel und vielleicht niemals voll ausgeschöpfte Potenziale. Egal, ob es um die Schul- oder Berufswahl geht, um Klassenfahrten oder Freizeitaktivitäten: Erziehende sollten immer Supporter*in sein und Zuversicht mitgeben. Fördern und unterstützen.
Genau hier setzt der Werbespot von CoorDown zum Welt-Downsyndrom-Tag 2024 an, der viral gegangen ist. Er zeigt auf eindrückliche Art und Weise, wie lebensverändernd empowerndes Verhalten sein kann:
Unsicherheiten oder Unwissenheit zuzugeben, ist auch eine Form von Stärke.
Adina Hermann
Emotionen wahrnehmen und thematisieren
Haben Erwachsene Zweifel und können Kinder nicht entsprechend unterstützen, wäre es angebracht, diese Bedenken erst einmal selbst zu reflektieren. Warum denke ich, dass das Kind dies nicht kann oder versuchen sollte? Welche Ängste habe ich und woher kommen diese? Kann ich die Umstände ändern oder das Kind besser vorbereiten, sodass es gestärkt einen Versuch unternehmen kann? Und: Warum darf es nicht auch scheitern? Auch dabei kann man dem Kind Beistand geben und Fels in der Brandung sein.
Wenn man ein Kind wirklich empowern möchte, ist die Arbeit an sich selbst wichtig. Dazu gehört etwa, Selbstbewusstsein und einen offenen Umgang mit Emotionen, dem Thema Behinderung und der Wertschätzung vieler Facetten von Vielfalt generell vorzuleben. Das geht meist damit einher, seine eigenen Ansichten zu hinterfragen und sich der eigenen Positionierung bewusst zu werden. Das kann ein mitunter schmerzhafter und lebenslanger Prozess sein. Übrigens: Unsicherheiten oder Unwissenheit zuzugeben, ist auch eine Form von Stärke. Die Tabuisierung von Themen hingegen schwächt das Kind und die Bindung.
Repräsentation ist wichtig
Bei dem Abbau von Berührungsängsten und dem empowernden Begleiten durch die Kindheit und Jugend können auch Rollenvorbilder hilfreich sein. Den Autor*innen dieses Textes standen solche Vorbilder leider in ihrer Jugend noch nicht zur Verfügung. Glücklicherweise finden sich heute einige gute Bücher, Spielzeuge, Filme und Serien, die Inklusion kindgerecht und ohne Mitleid vermitteln. Sei es Feuerwehrmann Sam, Peppa Wutz, Raising Dion oder die Sesamstraße – in all diesen Serien finden sich mittlerweile Figuren mit Behinderung. Auch auf dem Spielzeugmarkt lässt sich nach vielen Jahren der Tabuisierung endlich ein Trend erkennen: So gibt es z. B. nicht nur LEGO-Figuren im Rollstuhl, sondern auch unterschiedliche Puppen aus dem Barbie-Kosmos, die unterschiedlichste Formen von Behinderungen haben. Natürlich kann und sollte man auch bei all diesen Angeboten kritisch hinterfragen, ob man sie insgesamt für pädagogisch wertvoll hält und welche anderen Stereotype sie beispielsweise bedienen.
Der Kinderbuchmarkt ist ebenfalls dabei, sich in puncto Vielfalt zu erneuern: Es gibt Bücher, die Kinder auf eindrückliche Weise empowern, etwa das Buch„Vielleicht“ von Kobi Yamada, als auch Bücher, deren Protagonist*innen eine Behinderung haben. Auch die Vielfalt in der Gesellschaft wird abgebildet, ohne dass es explizit zum Thema des Buches gemacht wird. Repräsentation ist wichtig, und sollte sich jedes Kind, entsprechend dem Alter und seinen*ihren Interessen in Büchern, Spielen und Filmen wiederfinden. Und sicherlich lernen die Erwachsenen beim gemeinsamen Lesen, Schauen oder Spielen auch noch etwas dazu.
Diese Empowerment-Empfehlungen für Erziehende können helfen, das Kind und die Beziehung zum Kind zu stärken:
- Zeige dem Kind, dass es immer gut und genug ist. Dass es sich nicht anpassen muss oder mehr leisten muss als andere, um dazuzugehören.
- Verteidige das Kind bei unangemessenem Verhalten anderer, gib ihm Rückhalt.
- Nimm das Kind und seine Sorgen, Ängste und Schmerzen ernst. Immer.
- Setze es nicht unter Druck, bestimmte Leistungen erbringen zu müssen. Unterstelle keine Faulheit. Stattdessen ermutige es und sporne es zu neuen Versuchen an.
- Zeige und lebe vor, dass es okay ist, Hilfe anzunehmen.
- Lass das Kind altersgerecht mitentscheiden. Gib ihm eine Stimme. Zeig ihm, dass es gehört wird.
- Du bist verzweifelt, wütend, hilflos? Such dir Hilfe und Unterstützung, damit du für dein Kind da sein kannst. Ein Kind sollte nicht für dich sorgen, für dich tapfer sein oder dich schonen müssen. Verzweiflung und Wut können auch in Gewalt enden, ziehe rechtzeitig vorher die Reißleine!
- Respektiere die Behinderung des Kindes. Rede sie niemals klein und relativiere sie nicht.
- Auch wenn es dein Kind ist: Die medizinischen Fakten sind sensible Daten, die nicht jede*r erfahren sollte. Schütze die Privatsphäre des Kindes.
- Informiere dich, so gut du kannst, zur Behinderung deines Kindes. Ermögliche dem Kind, Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu haben (z.B. über Selbsthilfe- und Diagnosegruppen). Aber: Gestalte dies nie als Zwang.
- Höre dem Kind zu und lass es seine eigenen Erfahrungen machen. Jede*r Mensch und jede Behinderung ist anders. Und jede neue Lebenslage kann alles wieder verändern. Lernt gemeinsam den Umgang mit der Behinderung.
- Ermöglicht gern jeden erdenklichen medizinischen Support, aber hört dabei auch auf die Wünsche des Kindes.
- Erkenne und benenne Barrieren im Alltag des Kindes. Erlaubt euch, wütend und frustriert zu sein. Gemeinsam könnt ihr diese Barrieren aushalten, umgehen oder bewältigen lernen. Es kann sehr empowernd sein, sich nicht mit diesen Hürden allein zu fühlen oder sich schlimmstenfalls als Last für die Familie zu fühlen.
- Gib dem Kind alle erdenklichen Möglichkeiten zur Selbstständigkeit und Raum, sich auszuprobieren. Auch, wenn es für dich Mehraufwand bedeutet. Nur so kann es eigenverantwortlich abschätzen lernen, was es kann und was es nicht kann.
- Vermittle dem Kind schon früh, dass es ein Recht auf Teilhabe hat. Kämpfe, wenn nötig, mit ihm dafür.
Kurzum: Sei ein Ally für das Kind!
Jeder Mensch verdient Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Empowerment und Liebe. Besonders Kinder. Alle Kinder.