Als Mensch ohne Behinderung ist man gegenüber behinderten Menschen privilegiert. Diesen Fakt sollte man nutzen, um sich gemeinsam gegen Ableismus und für Barrierefreiheit und Inklusion einzusetzen. Wie das gelingen kann, beschreibt Silke Georgi.
Du sitzt mit Freund*innen in einer Kneipe, die Stimmung ist super und alle verstehen sich gut. Dann stößt einer aus der Runde sein Bierglas um und ein anderer alter Schulfreund sagt fröhlich lachend, „Bist du behindert oder was?“ Trotz des kleinen Unglücks bleiben alle gut gelaunt und wischen das Bier auf, mit den herumliegenden Servietten.
Und was machst du? Welche Gedanken gehen dir durch den Kopf, wenn jemand das Wort Behinderung so benutzt? „Ist doch nur ein Spruch!“ „Er hat es nicht so gemeint.“ „Er ist doch ein netter Kerl, das kann man ihm nicht übel nehmen“. Du willst die gute Stimmung nicht verderben und als Moralapostel auftreten. Und außerdem ist kein Mensch mit Behinderungen anwesend, der oder die beleidigt sein könnte. Aber woher weißt du, ob jemand in der Runde nicht eine unsichtbare Behinderung hat? Und warum ist es überhaupt entscheidend, ob jemand unter den Anwesenden eine Behinderung hat? Eine diskriminierende Bemerkung ist nie ok, egal, wer sie hört oder an wen sie gerichtet ist.
Veränderung beginnt mit dir
In der Großfamilie, auf der Arbeit, in der Ausbildung, im Sportverein und im Freundeskreis gibt es immer wieder Situationen, in denen jemand etwas sagt oder tut – oder auch nicht tut – wodurch Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen, diskriminiert oder schlichtweg übersehen werden. In solchen Momenten haben Menschen ohne Behinderungen die Chance, dem etwas entgegenzusetzen.
In diesem Zusammenhang wird oft von „Ally“ gesprochen, das englische Wort für Verbündeter oder Verbündete. Ein Ally ist jemand, der oder die in einem bestimmten Kontext erkennt, dass sie gegenüber anderen Personen eine privilegierte Position hat und dieses Privileg bewusst nutzt, um Menschen in einer weniger privilegierten Position zu helfen.
Privilegiert zu sein bedeutet nicht, dass man reich ist oder keine großen Schwierigkeiten im Leben überwinden musste. Es bedeutet nur, dass man bestimmte Nachteile im Leben nicht hat oder gewisse Dinge nie selbst erleben wird, einfach, weil man z.B. keine Behinderung hat oder keine Person of Color ist.
Schritt für Schritt zum Verbündet sein
Der erste Schritt, um ein Ally zu werden, liegt darin, sich zu informieren. Das fängt damit an, dass man erst mal versteht, welche Rechte und Vorteile man selbst hat, die andere nicht haben. Dabei hilft es, Bücher und Artikel von Menschen mit Behinderungen zu lesen, Podcasts, die sich mit Themen rund um Behinderung befassen, zu hören und Menschen mit Behinderungen auf Social Media zu folgen. Und dabei Menschen mit Behinderungen offen und unvoreingenommen zuzuhören, um sie zu verstehen. Das braucht Übung. Denn die wenigsten von uns lernen von klein auf zuzuhören, um andere zu verstehen. Wir lernen zu reagieren, indem wir Ratschläge erteilen, Gegenargumente liefern, vermeintlich ähnliche Erfahrungen teilen oder Probleme von anderen runterspielen. Zum Zuhören gehört auch, Fragen zu stellen, die ein echtes Interesse zeigen, andere Lebenserfahrungen und Perspektiven zu verstehen und diesen gelebten Erfahrungen zu glauben.
Das, was man als gut informierter Ally dann aktiv tun kann, kann in drei Kategorien unterteilt werden: Für jemanden eintreten, jemanden Chancen ermöglichen und den Status Quo in Frage stellen.
- Allies können für jemanden eintreten, der oder die unfair behandelt wird oder außer Acht gelassen wird.
- Allies können anderen Chancen ermöglichen, indem sie ihnen Zugang zu Bildung, Arbeit, Netzwerken und Aufstiegschancen geben.
- Allies können darauf hinarbeiten, dass Systeme und Prozesse in Teams bei der Entscheidungsfindung, in Meetings und in der Kommunikation fairer und gleichberechtigter werden.
Fehler machen und daraus lernen
Auf unserem Weg als Allies werden wir Neues lernen und Altes, Problematisches entlernen müssen. Wir werden dabei Fehler machen und manchmal Kritik ernten von Menschen mit Behinderungen. Wichtig ist, dass wir die Kritik annehmen als Chance, weiterzulernen. Leider nehmen wir jedoch Kritik oft sehr persönlich und interpretieren sie als Kritik an uns als Person und nicht als Kritik an unserem Verhalten. Es ist eine ganz normale Reaktion, bei Kritik schnell in eine Verteidigungsposition zu fallen. Es braucht Übung und Selbstreflektion zu erkennen, wann man eine verteidigende Haltung einnimmt anstatt einer lernenden. Wenn man das kann, kann man sich für den Fehler entschuldigen und anders weitermachen.
Allyship ist ein Prozess und kein Abzeichen, dass man nach einer gelungenen Aktion verdient. Aber man muss irgendwo anfangen. Wie wirst du das nächste Mal reagieren, wenn du dabei bist, wenn jemand anders Menschen mit Behinderungen diskriminiert?
„Wenn du in Situationen der Ungerechtigkeit neutral bist, hast du die Seite des Unterdrückers gewählt.“
Desmond Tutu
Die Perspektive von behinderten Menschen:
Allyship – Warum wir als behinderte Menschen Verbündete brauchen
Menschen mit Behinderung gehören an alle Tische, an denen wichtige Entscheidungen getroffen werden. Inklusion und Barrierefreiheit können wir aber nicht alleine umsetzen – wir benötigen Verbündete. Warum wir unsere Gesellschaft nur gemeinsam verändern können, erklärt Jonas Karpa.
Unser Podcast zum Thema Allyship:
#33 Allyship
Sich für andere einsetzen und sich selbst dabei trotzdem nicht in den Mittelpunkt stellen, das ist Allyship. Was noch alles dazu gehört, ein*e gute*r Ally zu sein, erfahrt ihr in unserem Bayern2-Podcast. Zu Gast ist unsere Kollegin Silke Georgi, Allyship-Expertin und Leiterin des Projekts Jobinklusive.
Dieser Artikel ist zuerst in unserem Print-Magazin (18. Mai 2023) erschienen.