Dokumentarfilm: “Rette sich, wer kann”

Am Rand eines Flusses sitzen drei Menschen auf einer Bank. Auf dem Bild steht der Text: Rette sich wer kann. Wie der Katastrophenschutz für Menschen mit Behinderungen versagt. Ein Film von andererseits.
Die Redaktion von "andererseits" reiste nach Deutschland ins Ahrtal und fragte, ob die Bewohner*innen des Lebenshilfe-Hauses besser vor der Flutkatastrophe hätten geschützt werden können. Foto: andererseits
Lesezeit ca. 6 Minuten

14.07.2021 – vor zwei Jahren ertrinken bei der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal 12 Bewohner*innen in einem Heim für Menschen mit Behinderungen. Das Magazin andererseits fragt im Dokumentarfilm “Rette sich, wer kann”, ob der Tod hätte verhindert werden können. Jonas Karpa hat mit zwei der Filmemacher*innen gesprochen.

Wie habt ihr damals von der Flutkatastrophe gehört und was ist euch da durch den Kopf gegangen?

Artin Madjidi: Ich habe über ein YouTube-Video davon erfahren. Mich hat beschäftigt, warum die Bewohner*innen nicht rechtzeitig evakuiert wurden. Warum so lange gewartet wurde, obwohl das Wasser immer mehr wurde.

Emilia Garbsch: Ich habe, glaube ich, bei Twitter davon gelesen. Diese Flutkatastrophe hat bei mir im Allgemeinen das Gefühl ausgelöst „ok, jetzt sind heftige Naturkatastrophen mit schlimmen Konsequenzen in Europa angekommen“. Auch dieses spezifische Ereignis im Lebenshilfe-Haus, in dem die Bewohner*innen starben, hat mich sehr beschäftigt.

Foto von Emilia. Sie hat kinnlange braune Haare, trägt einen hellblauen Pullover, hat die Arme verschränkt und lächelt in die Kamera.

Emilia Garbsch

Emilia Garbsch, geboren 2000, studiert Content Produktion und digitales Medienmanagement. Sie ist in Wien geboren und aufgewachsen und arbeitet dort neben ihrem Studium als freie Journalistin. Besonders gerne macht sie rechercheintensivere Geschichten, die ihr die Möglichkeit geben, ein Thema umfassender zu beleuchten. Bei andererseits gestaltet sie außerdem den Podcast “Sag's einfach”.

Foto von Artin. Er hat schwarze struwellige Haare, trägt eine Brille und einen hell-gelben Hoodie. Er schaut frontal in die Kamera.

Artin Madjidi

Artin Madjidi, wurde im Jahr 2001 im Iran geboren. Seit November 2021 ist er Redakteur bei andererseits. Am liebsten schreibt er Texte über die Formel 1. Artin möchte alles, das er weiß, mit anderen teilen. Am Journalismus mag er, dass man viel unterwegs ist und immer weiß, was los ist. Bei andererseits schreibt er Texte und ist im Video-Team.

Wie kam es dann zu dieser Dokumentation?

Emilia Garbsch: Die Idee, diese Recherche zu machen, kommt von Clara Porák, die andererseits mitgegründet hat und zur Zeit der Hochwasserkatastrophe gerade in Deutschland ein Praktikum in einer Redaktion gemacht hat. Sie hatte das Gefühl, dass über dieses Unglück so berichtet wird, als sei es ein „tragischer Einzelfall“ und weniger ein strukturelles Problem. Es wurde gezeigt, wie schlimm diese Flut war, aber in Wahrheit steht dieses Ereignis – und das haben unsere Recherchen auch ergeben – für mehr als das, nämlich das strukturelle nicht-Einbeziehen von bestimmten Bevölkerungsgruppen, insbesondere von Menschen mit Behinderung.

Wie lange hat eure Recherche gedauert?

Emilia Garbsch: Die Idee, dazu einen Film zu machen, entstand Ende 2022 / Anfang 2023. mit der Recherche haben wir dann im Februar 2023 begonnen. Unsere Regisseurin Katharina Brunner war zum Beispiel in der Stadt Sinzig und hat Interviewpartner*innen gefunden und wir haben politisch Verantwortliche angefragt.

Artin Madjidi: Die intensiven Drehtage waren im Mai und Juni diesen Jahres. Das war teilweise wirklich anstrengend den ganzen Tag unterwegs zu sein. Meine Beine waren nach einem Tag ganz schön schwer.

Hattet ihr für euch am Set entsprechende Richtlinien?

Emilia Garbsch: Da wir ein inklusives Team sind, achten wir, im Gegensatz zu vielleicht manch anderem Filmset, darauf, dass es ein Safe Space ist, Drehtage nicht zu lang sind und wir nicht 12 Stunden durcharbeiten. Da wir aber nicht so viel finanzielle Mittel für mehr Drehtage hatten, ließ sich das einmal nicht vermeiden. 

Wie war euer Eindruck vor Ort? Waren die Menschen froh, dass sich jemand diesem Thema annahm?

Artin Madjidi: Einige Leute wollten nicht mit uns über die Ereignisse in der besagten Nacht reden. Das mussten wir dann akzeptieren. Viele von den Menschen waren einfach noch traumatisiert.

Emilia Garbsch: Für manche Angehörige von den Todesopfern war es einfach zu viel darüber zu reden. Die, die aber mit uns gesprochen haben, waren extrem dankbar, dass ihnen mal jemand zuhört und auch so lange zuhört. Wir haben uns viel Zeit genommen.

Die Behörden und politisch Verantwortlichen haben wiederum sehr blockiert. „Es gibt Ermittlungen, wir sagen gar nichts”, haben wir häufig gehört. Ihre Antworten waren sehr vorsichtig, sehr lang, sehr kompliziert oder ausweichend, in einer Form, wie ich es noch nie erlebt habe. Vermutlich auch, weil sie nichts befriedigendes sagen konnten.

Wie bezeichnend ist es, dass gerade ihr, als inklusives Magazin, den Finger in die Wunde legt?

Emilia Garbsch: Es gab auch Medienberichte, die sich die Ereignisse in dem Lebenshilfe-Haus angeschaut haben und sich gefragt haben, wie es zum Tod dieser 12 Menschen hat kommen können. Was aber weniger passiert ist – und ich glaube das liegt daran, dass in den Redaktionen weniger Menschen mit Behinderung mit an den Tischen sitzen – ist, dass daraus Rückschlüsse gezogen wurden. Unsere Frage war automatisch: Was ist mit Barrieren? Und was hat das mit Inklusion zu tun? Diese Denkschritte machen wir automatisch und andere Redaktionen nicht. Das sind fehlende Perspektiven.

Artin Madjidi: In der Berichterstattung von anderen Medien wurde teilweise auch nur über die Menschen mit Behinderung gesprochen, aber nicht mit ihnen. Wir haben mit den Betroffenen gesprochen.

Drei Personen, die beiden Moderator*innen und eine Frau sitzen auf einer Bank nebeneinander und unterhalten sich.
Artin Madjidi (links) und Clara Por´k (rechts sprechen mit Muriel Sievers, die in einem Lebenshilfe-Haus in Sinzig wohnt. Foto: andererseits

Viele Personen, die ihr interviewt habt, sprechen und der Doku darüber, dass sie „wütend“ sind. Wütend auf die Politik, auf die Entscheidungsträger*innen. Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr vor Ort wart, wart ihr auch wütend?

Artin Madjidi: Ja, darauf, das die Verantwortlichen immer gegenseitig die Schuld auf die anderen schieben.

Emilia Garbsch: Bei mir war es eher Frust. Frust über die Intransparenz, das Blockieren unserer journalistischen Arbeit. Ich finde es erschütternd, dass in vielen Bereichen immer noch kein Problembewusstsein da ist. Alle sehen die Verantwortung bei jemand anderem und somit nimmt es niemand in die Hand.

Was muss sich denn konkret ändern?

Artin Madjidi: Warnsysteme mit Sirenen oder mit Gebärden, wo auf Displays angezeigt wird, was zu tun ist. Wohnheime sollten vielleicht nicht direkt an Flüssen oder hochwassergefährdeten Gebieten gebaut werden. Und die Betreuung muss, insbesondere in der Nacht, erhöht werden.

Emilia Garbsch: Es gibt sehr gute ausgearbeitete Empfehlungen, wie Katastrophenschutz auch für Menschen mit Behinderungen funktionieren kann. Der Katastrophenschutz geht aber, und das ist ein großes Problem, zunächst immer von einer Art vermeintlichen Norm-Mensch aus und danach kommen alle anderen. Da so gehandelt wird und weil nicht mit den betroffenen Menschen gemeinsam geplant wird, ist es zum Scheitern verurteilt. Der Katastrophenschutz braucht hier auch mehr Geld. Wir müssen uns, auch weil Naturkatastrophen durch die Klimakrise zunehmen, fragen: Wie viel ist uns Prävention wert?

Greta Thunberg sitzt auf einem Platz und hat ihr Schiild mit der Aufschrift "Schulstreik für das Klima" vor sich. Um sie herum sitzen andere Jugendliche die ebenfalls schilder halten. Alle Tragen einen Mund-Nase-Schutz.

#24 Klimakrise

Sind behinderte Menschen von der Klimakrise stärker bedroht als nichtbehinderte Menschen? Wie barrierefrei und inklusiv ist die Klimabewegung? Und was kann jede*r Einzelne für das Klima tun? Darüber diskutieren wir in Folge #24 unseres Bayern 2-Podcasts. 

Weiterlesen »

Wie wichtig war euch bei der Produktion euer Dokumentation das Thema Barrierefreiheit, damit ihr viele Personen erreicht?

Artin Madjidi: Das war wichtig. Wir haben Untertitel in denen auch die unterschiedlichen Sprecher*innen explizit benannt werden, und extra große Bilder und Einblendungen von Schrift genommen, damit man sie gut erkennen kann. Die Schnitte haben wir so gesetzt, dass man dem Film gut folgen kann.

Emilia Garbsch: Darüber hinaus haben wir auch Audiodeskription. Diese ist aber nicht als eine extra Stimme zu hören oder von einer externen Firma umgesetzt, sondern es wird von unseren beiden Moderator*innen immer erwähnt, wenn ein Ortswechsel stattfindet, wenn andere Leute zu Wort kommen oder etwas Wichtiges zu sehen ist. Vielen Leuten, die nicht blind sind oder eine Sehbehinderung haben, fällt das gar nicht auf, weil es so selbstverständlich vorkommt.

Und wir klappt es auf inhaltlicher Ebene?

Emilia Garbsch: Wir haben auf Einfache Sprache geachtet. Im Gegensatz zu vorherigen Beiträgen von uns haben wir von Menschen mit Lernschwierigkeiten die Rückmeldung bekommen, dass die Doku nicht so leicht zu verstehen ist. Wir haben deshalb auf unserer Webseite ein Wörterbuch zu den schwierigen Begriffen und eine Zusammenfassung in Einfacher Sprache zu den fünf Problemen, die wir in der Doku herausgefunden haben, bereitgestellt. Das ist keine perfekte Lösung. Nächstes Mal wollen wir es besser machen.

Vielen Dank für eure Arbeit und das Gespräch!

andererseits ist ein Online Magazin aus Österreich für Behinderung und Gesellschaft, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung Journalismus machen. andererseits möchte Vielfalt im Journalismus stärken und die Perspektiven von Menschen abbilden, die sonst ausgeschlossen werden.

 

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert