Kürzlich habe ich eine Broschüre über den Umgang mit Menschen mit unterschiedlichen Lebenshintergründen in der Beratungsarbeit geschrieben. Ich habe sie aus meiner Perspektive als Psychologin und als Mitglied verschiedener sozialer Bewegungen verfasst. Im dritten Teil der Broschüre habe ich typische Belastungsfaktoren herausgearbeitet, denen Menschen aus verschiedenen Minderheiten ausgesetzt sind. Diese Belastungsfaktoren in Worte zu fassen, kann helfen, sie leichter zu erkennen, sie nicht als unseren persönlichen Fehler anzusehen und sie zu bekämpfen.
In dieser Reihe zu psychologischen Phänomenen erschienen auch:
Die Scheu der Anderen
Manchmal hat man das Gefühl, man gehört nirgendwo richtig dazu. Kassandra Ruhm erklärt in ihrer neuen Kolumnenreihe psychologische Phänomene, damit diese leichter erkannt und bekämpft werden können.
Menschen aus Minderheiten leben häufig mit einem erhöhten alltäglichen Stress, weil sie immer wieder, wie in einer Testsituation, vor der Frage stehen, wie das Gegenüber auf ihre “Normabweichung” reagieren wird. Ob es um ihre Behinderung, um religiöse Zeichen wie Kippa oder Kopftuch, ihre Hautfarbe, ihre geschlechtliche oder sexuelle Identität oder ein anderes stigmatisiertes Identitätsmerkmal geht. Je nachdem, wie sichtbar sie vom Standard abweichen, kommt es unterschiedlich oft und unterschiedlich intensiv zu diesen Situationen.
- Muss ich mit aggressiven Reaktionen rechnen, wenn ich draußen unterwegs bin, in Hinsicht auf meine Religion oder weil ich als Mann mit meinem Partner Hand in Hand gehe oder aus anderen Gründen?
- Bin ich als Kund*in willkommen?
- Wo oute ich mich und wo besser nicht?
- Steht dort ein Grüppchen Teenager, die auf mein äußeres Erscheinungsbild vielleicht mit Verspotten reagieren, entweder weil ich gender-non-conforming bin (mich im Widerspruch zu klassischen Geschlechterrollen zeige) oder weil ich kleinwüchsig bin, einen auffälligen Gesichtstumor habe oder dick bin?
- Werde ich in die Disko herein gelassen oder nur die weißen Menschen in der Schlange und ich bin nicht willkommen?
- Bleibe ich übrig, wenn sich Kleingruppen bilden sollen, weil die anderen schneller andere Gruppenmitglieder wählen, die sie als sich selbst ähnlicher empfinden?
- Ist der Rollstuhlplatz oder der angeblich rollstuhlgerechte Zugang wirklich barrierefrei nutzbar?
- Wird die Behinderten-Toilette wieder einmal als Abstellraum missbraucht und ich muss demütigende Diskussionen mit dem Personal führen, bevor ich sie benutzen kann – wenn ich in den Diskussionen nicht unterliege und nur ein paar Dinge heraus geräumt werden, aber nicht genug?
- Werde ich dafür verurteilt, dass ich bin, wie ich bin?
- In welchen Umfeldern wird heikler auf mein äußeres Erscheinungsbild reagiert und wo kann ich mich sicherer fühlen?
Auch Mikroaggressionen gehören zu diesen Stresssituationen. Mikroaggressionen sind kleine, unangenehme, übergriffige oder abwertende Äußerungen oder Verhaltensweisen gegenüber Menschen aus marginalisierten Gruppen, die durch ihre häufige Wiederholung zur ernsthaften Belastung werden.
Ein, zwei, drei oder vielleicht auch zwanzig mal könnte man darüber lachen oder die Bemerkungen nicht ernst nehmen. Aber wenn man hundert oder zweihundert Mal an derselben Stelle gezwickt wird, dann tut jedes weitere Mal intensiver weh.
- Menschen, deren Heimat Deutschland ist und deren Hautfarbe nicht weiß ist, werden häufig gefragt: „Woher kommst du?”. Diese Frage kann vermitteln, dass man als Fremdkörper angesehen wird und nicht als zugehörig. Außerdem kann die „Woher kommst du?”-Frage unter Umständen sehr persönliche Themen betreffen. Deshalb sollte man sie (halb-)fremden Menschen auf der Straße oder beim ersten Kontakt nicht einfach so stellen. Aus demselben Grund sollte man behinderte Menschen, die man nicht näher kennt, nicht aus bloßer Neugier nach ihrer Diagnose fragen. Denn die Krankengeschichte kann etwas sehr Persönliches, möglicherweise auch Schmerzhaftes sein.
- Eine andere, weit verbreitete Beleidungung ist, wenn schwule, jüdische oder behinderte Menschen auf der Straße, auf den Schulhöfen und an den verschiedensten anderen Orten „schwul“, „Jude“ oder „behindert“ als Schimpfwort hören müssen. Denn damit wird ausgedrückt, dass schwul, jüdisch oder behindert zu sein, etwas Schlechtes wäre. Sonst würden diese Begriffe nicht als Schimpfworte funktionieren.
- Behinderte Menschen finden häufig unangenehm, für Selbstverständliches gelobt zu werden oder mit „nett gemeinten“ Kommentaren von Fremden auf ihre Hilfsmittel angesprochen zu werden. Ich selbst habe sehr oft dieselben Kommentare über mein Handbike (Fahrrad) oder einen Strandrollstuhl bekommen. Ich weiß, für die Unbekannten, die mich damit ansprechen, ist es ein ungewohnter Anblick. Aber man kann sich leicht denken, dass es für mich genauso alltäglich ist, mit meinem Fahrrad zu fahren, wie für Nichtbehinderte auch. Es ist nicht schön, durch die Kommentare über mein Fahrrad immer wieder darauf hinzuweisen, dass man meine Fortbewegung nicht normal findet. Das Thema greife ich auch in meinem Essay “Unangenehmes Lob” (Link zur PDF) auf. Als ich das letzte Mal auf Norderney Urlaub gemacht habe, bin ich bei jedem einzelnen kleinen Smalltalk in den ersten drei Sätzen auf meine Behinderung und meine Hilfsmittel angesprochen worden. Ich gerate sehr oft in Smalltalks. Danach habe ich entschieden, lieber erstmal nicht mehr zu verreisen, sondern in Bremen Urlaub zu machen, um mir den Stress zu ersparen, als etwas dermaßen Exotisches behandelt zu werden. Hier in Bremen kann ich auch Smalltalks über das Wetter und die schöne Gegend führen, nicht nur darüber, wie ungewohnt die Gegenseite findet, dass ich behindert bin und mich trotzdem bewegen kann. Ich habe meine Entscheidung nicht bereut.
Diese alltäglichen Stresssituationen haben Menschen, die keinen diskriminierten Gruppen angehören, nicht auf diese Weise. Viele Menschen aus marginalisierten Gruppen vermeiden bestimmte Situationen oder Handlungsweisen, um sich vor verletzenden Reaktionen zu schützen. Oder sie blenden aus, dass sie nicht so wie die anderen behandelt werden, um sich nicht mit der Benachteiligung und dem Schmerz auseinandersetzen zu müssen.
Es braucht Mut, den Schmerz zu fühlen. Den Schmerz der Ausgrenzung, der Abwertung und der wiederholten Benachteiligung. Nicht immer hat man den Mut, diese Erfahrungen wirklich wahr zu nehmen und nicht auszublenden. Oft ist leichter, es sich schön zu reden oder nicht daran zu denken. Sowohl das Ausblenden, als auch das Vermeiden von Situationen können legitime Strategien des Umgangs sein.
Manchmal fallen diese Anpassungsleistungen Betroffenen kaum noch auf, weil sie schon ihr Leben lang daran gewöhnt sind, sich ohne darüber nachzudenken, auf die verschiedenen Hindernisse und Barrieren einzustellen.
In ihrem Buch Ableismus schreibt Tanja Kollodzieyski darüber:
“Zwei Fische schwimmen im Meer und treffen dabei auf eine befreundete Krake. Die Krake fragt: „Na, ihr beiden, wie ist das Wasser bei euch so?“ Nachdem die zwei Fische weiter schwimmen, fragt der eine: „Sag mal, weißt du, was dieses Wasser sein soll, von dem die Krake geredet hat?“ Und der andere antwortet: „Nee, ich habe auch keine Ahnung.“ Für behinderte Menschen in dieser Gesellschaft ist Ableismus so allgegenwärtig und umfassend, dass viele von ihnen Schwierigkeiten haben, derartige Strukturen überhaupt zu erkennen. [...] Die Erfahrung, von Anfang an durch Barrieren, enge Normierungen und Vorurteile ausgeschlossen zu werden, lässt Ableismus als etwas Natürliches wirken, als etwas, das so sein muss, als etwas, das Berechtigung hat.“
Kollodzieyski, 2020, Kapitel 2
Unabhängig davon, ob die ungleichen Chancen und die vielen Dinge, die man nicht so unbesorgt machen kann wie andere, einem Menschen auffallen oder nicht: Eine Einschränkung der Lebensmöglichkeiten und Risiken für die psychische Gesundheit bleiben trotzdem da, auch wenn man nicht darüber nachdenkt und die Bedingungen nicht kritisiert. Wenig zu kritisieren kann Nachteile für die eigene psychische Gesundheit bringen. Aber Auseinandersetzungen mit einer wesentlich mächtigeren Gegenseite, nämlich der gesellschaftlichen Mehrheit zu vermeiden, kann auch eine entlastende Strategie sein.
Wenn ich immer nur in meinem kleinen, vertrauten Umfeld bleibe, in dem die anderen an mich gewöhnt sind und ich bestimmte Diskussionen nicht mehr führen muss, macht das meinen Alltag leichter. Aber meine Welt auch kleiner.
Gerade Menschen, die gleichzeitig mehreren Minderheitengruppen angehören, haben oft keine eigene Community, in der sie sich nicht erklären müssen, sondern sind immer “die anderen“.
Eine Antwort
Was ist um Himmelswillen daran schlimm auf sein Handbike angesprochen zu werden??? Wie ich das erste Wurfzelt sah, habe ich die Leute auch angesprochen, eifach, weil mich das Ding interessiert hat. Ich glaube, manche Leute machen sich einfach selbst zuviel Probleme. Es gehört schon ganz schön was dazu immer und überall Diskriminierung zu sehen. Haltet mal den Ball flach und sorgt bitte nicht mit diesem ständigen Lamento über Ableismus dafür, daß noch mehr Nichtbehinderte sich aus Angst ,was falsch zu machen nicht mehr trauen, uns anzusprechen.