Wollen Sie zum Netto? Fragt mich der Mann, der mich gerade in voller Fahrt auf dem Bürgersteig stoppt. Ich hatte es eigentlich eilig. Äh, was, frage ich etwas verwirrt. Ne, ich will nicht zum Netto. Der liegt in Sichtweite, schräg gegenüber. Vielleicht will er wissen, wo der Netto ist? Nein, nein, sagt er – ich hätte Sie nur sonst hingebracht. Ach so, ne, nein danke, sage ich kopfschüttelnd und fahre weiter. Sehe ich so aus, als wollte ich gerade dringend zum Netto und schaffe es nicht alleine? Ich weiß es nicht. Begegnungen wie diese lassen mich oft ratlos zurück.
„Brauchen Sie Hilfe?“ Diese Frage höre ich jeden Tag, oft mehrfach. Und was soll ich sagen – ja, ich brauche Hilfe! Ziemlich oft jedenfalls. Immer dann, wenn die Eingangstür wieder viel zu schwer aufgeht, die Rampe zu steil, der Fahrstuhlknopf zu hoch ist. Mangelnde Barrierefreiheit ist mein häufigster Anlass, um Hilfe zu erbitten oder angebotene Hilfe anzunehmen. Und immer wieder gibt es Situationen, in denen andere Rollstuhlfahrer*innen vielleicht klar kommen würden – ich aber nicht. Zu klein, komme nicht dran, zu wenig Kraft. Da komme ich auch in mancher als barrierefrei deklarierten Toilette an meine Grenzen.
Mein Alltag ist also durchsetzt von vielen kleinen und großen Hilfsbegegnungen. Meistens läuft das völlig beiläufig ab. Manchmal entsteht sogar ein netter Smalltalk daraus. Zum Beispiel im Supermarkt: Komme ich an den Kaffee nicht dran, finde ich mich schon mal in einem lebhaften Austausch über die besten Barista-Methoden wieder. Mir scheint, dass Hilfshandlungen in den letzten Jahren immer unproblematischer wurden. Seltener erlebe ich die Verkrampftheit, die solche Interaktionen noch vor wenigen Jahren so oft begleitete. Vielleicht ein Zeichen zunehmender Inklusion? Vielleicht liegt es auch nur an meinem innerstädtischen Berliner Biotop, in dem der Umgang mit Vielfalt für viele Leute zum Alltag geworden ist.
Ganz unproblematisch ist das mit der Hilfe aber dennoch nicht. Allein die Tatsache, dass ich selbst einiges mitbringen muss, um durch meinen hilfesuchenden Alltag zu kommen: Lust auf Smalltalk zu haben, keine Sprachbehinderung – allein für introvertierte, zurückhaltende Menschen wären die Anforderungen daran, sich ständig aktiv selbst Hilfe holen zu müssen, zu hoch, mal ganz abgesehen von Kommunikationsbeeinträchtigungen. Ich habe das Glück, dass ich diese Hürden überwinden kann. Von selbst kam auch das nicht: Eine Umwelt voller Barrieren und ableistischer Einstellungen verlangte mir eine Menge emotionaler Arbeit ab, ein jahrelanges Training im „Stigma-Management“, wie es der Soziologie Erving Goffman nennt. Das Stigma ist in diesem Fall meine sichtbare Behinderung, mitsamt ihrem einschlägigen Symbol: dem Rollstuhl. Mit „Management“ meint Goffman die Verantwortung, die Stigmatisierte für die reibungslose Interaktion zugeschoben bekommen, das Regulieren von Spannungen und Unsicherheiten. Wenn ich irgendwo hinein will oder an etwas dran will, muss ich wohl oder übel nett sein – das habe ich früh verinnerlicht.
Was aber, wenn eine Hilfe nicht reibungslos abläuft, und ich auch mit meinem „Stigma-Management“ nicht weiterkomme? Was, wenn sie mir eher aufgenötigt wird, zum Beispiel ohne Vorwarnung meine Schiebegriffe gepackt werden? Was, wenn mir an der Kasse im Supermarkt die Waren aus der Hand genommen oder „einfach so“ in meinen Rucksack geräumt werden? Oder wenn ich mir die Jacke anziehe und plötzlich eine wildfremde Person mir an den Arm greift? Dann macht auch bei mir das Freundlich-Sein Pause.
Unangekündigte Hilfe, vor allem wenn sie dicht an meinem Körper vonstatten geht, empfinde ich als Verlust von Kontrolle, als übergriffig. Dass auch behinderte Menschen eine Privatsphäre haben, scheint trotz aller Inklusionsbemühungen immer noch nicht bei allen Menschen angekommen zu sein.
Stattdessen hält sich hartnäckig das Bild: Alle behinderten Menschen brauchen Hilfe. Und zwar immer und überall. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass mir ständig Hilfe angeboten wird – auch wenn es gar keinen erkennbaren Anlass dafür gibt. Ich brauche nur irgendwo herumzustehen: Es dauert keine zwei Minuten, dann kommt jemand und fragt, ob ich Hilfe brauche. Es reicht, dass ich mit dem Rollstuhl immer das fahrbare „Hilfesymbol“ dabei habe.
Das Bild wird genährt von medialen Darstellungen, die Behinderung individualisieren und als leidvolles Schicksal konstruieren. Als etwas, das nicht mit Barrierefreiheit, gleichen Rechten und staatlicher finanzieller Unterstützung beantwortet werden sollte, sondern mit einer „Rettung“ durch nichtbehinderte Mildtätigkeit und Almosen. Die österreichische Spendenkampagne „Licht ins Dunkel“ geht vor allem jetzt zur Weihnachtszeit immer noch mit zweifelhaftem Beispiel voran, wie eine aktuelle Recherche des Journalist*innenkollektivs andererseits.org zeigt.
Was „nett gemeint“ ist, kommt nicht immer nett an. Für meine angespannte Reaktion auf unangekündigte Hilfe gibt es nicht immer Verständnis. Meine Versuche, die Kontrolle über die Situation zurück zu erlangen, wird oft eher als Arroganz oder Verbitterung gedeutet. Auch der verständnislose, gestresste Blick, dem ich dem Bürgersteig-Mann vorm Netto entgegenwarf, erntete einen ebenso verwirrten Gesichtsausdruck, als wolle er sagen: Da will man mal nett sein, und dann eine solche Undankbarkeit! Das in vielen Religionen verankerte Gebot der Barmherzigkeit, der Auftrag der „Hilfe für die Schwachen“, stößt eben nicht in jeder Situation auf Gegenliebe. Schließlich steckt in diesem Gebot auch etwas Machtvolles. „Gutes tun“ stellt unwillkürlich eine Machtbeziehung her: Die eine Person hilft, der anderen wird geholfen – und verpflichtet sie zu Dank. Die vermeintliche Selbstlosigkeit des Helfens entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als etwas, das den Helfenden eine Menge Anerkennung und das Gefühl der „guten Tat“ verschafft und die „Geholfenen“ unter Zugzwang setzen kann.
Ist es deswegen falsch, zu helfen? Nein. Dass Menschen sich gegenseitig helfen, aufmerksam sind für die Bedürfnisse anderer – eigentlich ist es das genau das, was wir brauchen in einer Gesellschaft, in der die Einzelnen zuallererst für sich selbst verantwortlich sein und miteinander konkurrieren sollen. Helfen, ja bitte! Aber zu den Bedingungen der Hilfeempfänger*innen, und ohne sie auf Hilfsbedürftigkeit zu reduzieren. Vorher zu fragen hilft immer – reflexhaftes „Draufloshelfen“ ist niemals eine gute Idee.
Außerdem kann man sich auch selbst fragen, worum es gerade geht: Braucht die Person vielleicht einfach ein bisschen länger, um ihre Jacke anzuziehen? Möchte sie das vielleicht lieber selbst tun? Macht sie wirklich den Eindruck, dass sie gerade Hilfe braucht? Oder geht es vielleicht eher um die Erwartungen, die ich an mich selbst richte, oder die andere an mich haben, nämlich mich hilfsbereit zu zeigen? Wird man sich der Macht bewusst, die im Helfen steckt, hat man die Chance, sie in eine Kooperation unter Gleichgestellten zu verwandeln.
Eine Antwort
Super Artikel, vielen Dank. Helfen ist gar nicht so einfach. Sie habn das toll auf den Punkt gebracht.