Bei den Oscars 2022 wurde der Film Coda in der Kategorie “Bester Film” ausgezeichnet. Außerdem erhielt der taube Schauspieler Troy Kotsur einen Oscar als bester Nebendarsteller. Viviane Grünberger, Autorin der Deutschen Gehörlosenzeitung und selbst Coda mit einer Rezension des Films.
Informationen in Einfacher Sprache
In diesem Text geht es um einen Film.
Der Film heißt Coda.
Coda ist eine englische Abkürzung.
Auf englisch bedeutet sie: Child of Deaf Adults.
Auf deutsch bedeutet das: Kind von tauben Eltern.
Im Film geht es um die Familie Rossi.
Die Tochter Ruby kann als einzige in der Familie hören.
Sie möchte Sängerin werden.
Tiefblaues Wasser, strahlender Himmel, ein schaukelnder Trawler (= Schiff für die Hochseefischerei) vor der atlantischen Meeresküste Massachusetts/USA. Während das Schleppnetz mit dem frischen Fang eingeholt wird, läuft im Radio der Klassiker „Something’s got a hold on me“ (engl.: „Etwas ergreift Besitz von mir“) von Etta James. Ruby Rossi, die zentrale Figur des Films, singt mit: „Manchmal überkommt mich ein gutes Gefühl, das ich noch niemals zuvor gespürt habe. Nein, nein.“ Das Netz entleert sich, sie fängt an, die Fische nach Größen zu sortieren. „Ich möchte euch jetzt erzählen, dass ich glaube, dass etwas von mir Besitz ergreift. Oh, das muss Liebe sein.“
In Rubys Familie sind alle – Vater Frank, Mutter Jackie und Bruder Leo – taub, bis auf die 17-Jährige. Die Einnahmen vom Fischfang halten die Familie nur mit Mühe über Wasser. Das Mädchen fährt in der Früh mit ihrem Bruder und Vater aufs Wasser hinaus, hilft beim Fischen, nimmt Funksprüche der Küstenwache entgegen, streitet über die Verkaufspreise mit den Händlern. Sie unterschreibt Verträge über den Verkauf des frischen Fischfangs und fährt danach zur Schule, wo sie oft vor Erschöpfung im Unterricht einschläft. Als wäre die doppelte Verantwortung in Familienunternehmen und Schule nicht schon genug für ihre jungen Schultern, wird sie auch noch von Mitschülerinnen gehänselt. Sie ahmen die Deaf Voice (engl.: gehörlose Stimme) nach und mobben den Teenager wegen des Fischgeruchs ihrer Kleidung. Kein Wunder, dass sie nach Wegen sucht, auszubrechen. Spontan schreibt sie sich für das Wahlfach Chor ein. Die schnelle Entscheidung dazu entpuppt sich als Chance, ihre Ängste zu überwinden und sich neu zu entdecken. Gefördert wird ihr Gesangstalent dabei von ihrem Musiklehrer, der ihr anbietet, sie für die Aufnahmeprüfungen an einer Musikhochschule vorzubereiten. Als sie ihrer Familie von dem neuen Hobby und ihren Zukunftsplänen erzählt, reagiert diese verständnislos über den Alleingang und tut ihre Leidenschaft als rebellische Flausen einer Teenagerin ab. So fragt ihre Mutter: „Würdest du malen wollen, wenn ich blind wäre?“
Angelehnt ist die Geschichte an das französische Original Verstehen Sie die Béliers? aus dem Jahr 2014 (DGZ 2 | 2015). Der Film geriet zur Karikatur Gehörloser – war doch nur eine Rolle durch einen tauben Schauspieler besetzt. Der Rest von Hörenden, die auf eine lächerliche Art und Weise versuchten, Gehörlose nachzuahmen.
Im Gegensatz dazu wird das Remake (= neue Fassung) der Drehbuchautorin und Regisseurin Siân Heder gefeiert als Hollywoods Wendepunkt in der inklusiven Darstellung von Menschen mit Behinderungen. Heder lernte zuvor ein Jahr lang ASL (= US-amerikanische Gebärdensprache) und arbeitete in der Produktion des Films unter anderem eng mit weiteren ASL-Dozenten und Beratern wie der renommierten (= mit gutem Ruf) Schauspielerin Marlee Matlin zusammen. Letztere übernahm die Hauptrolle der Mutter Jackie. Die Besetzung wird komplettiert durch den bühnen- und kameraerfahrenen Troy Kotsur als Vater Frank sowie Daniel Durant, bekannt aus Switched at Birth, in der Rolle des Bruders Leo. In einem Interview mit der Los Angeles Times erzählt Matlin, wie sie sich mit der Regisseurin sehr dafür einsetzte, taube Rollen auch mit tauben Schauspielern zu besetzen – entgegen Widerständen der Sponsoren. Sie übte sogar Druck mit einem Ultimatum (= nicht verhandelbare Voraussetzung) aus: „Stellt taube Schauspieler ein oder ich bin raus“.
Star über Nacht
Marlee Matlin gewann als einzige taube Hauptdarstellerin den Oscar, spielte in unzähligen Fernsehserien mit und hat einen Stern am Hollywood Boulevard. Bengi Nutz von der Deutschen Gehörlosenzeitung mit einem Porträt einer Schauspielerin, die kürzlich 55 wurde.
Und das merkt man. Der Film erfüllt eine mediale Vorbildfunktion für die Repräsentation tauber Darsteller und von Gebärdensprache. Er gibt einen Einblick in die Kultur, die sie umgibt. Bis ins Detail wurde zum Beispiel die Wohnung der Rossis am Set eingerichtet, beispielsweise die Couch mit Blick zur Tür umgestellt. An einer entscheidenden Stelle kommt die Absicht, den Film so authentisch (= echt) wie möglich zu gestalten, jedoch vom Kurs ab: Ruby, die Figur der Coda (= Kind von tauben Eltern), wird gespielt von Emilia Jones, einer hörenden Schauspielerin, die zuvor weder Bezug zu tauben Menschen noch zu Gebärdensprache hatte und für die Rolle neun Monate lang ASL lernte. Ein Fakt, der sich trotz der schauspielerischen Leistung nicht von der Hand weisen lässt. Auch wenn es nur Personen mit Gebärdensprachkompetenzen auffällt. Sehr schade – hätte man sich die ASL-Kurse nicht sparen und stattdessen eine Muttersprachlerin casten (engl.: suchen) können?
Die Frage, die sich stellt, ist: Wessen Geschichte soll hier eigentlich erzählt werden? Warum trägt der Film den Titel CODA? Kein einziges Mal wird das Wort im Film benutzt, noch wird überhaupt erklärt, wofür die Abkürzung steht. Erst wenn man auf die Idee kommt, weiter auf Apple TV+ zu stöbern, wird man fündig und mit einem einminütigen Bonusvideo belohnt. Darin heißt es unter anderem, CODA erzähle nicht nur von Taubheit, sondern von Familie und dem Erwachsenwerden.
Schon klar – das Coming-of-Age-Drama (engl.: Jugendfilm über das Erwachsenwerden) soll die Zuschauer emotional berühren. Nur warum dreht sich wieder einmal alles um den scheinbaren Gegensatz zwischen tauber und hörender Welt – nämlich die alte Leier der Musik? Ist es das Potential eines weiteren Verkaufsschlagers, der das audistische (= Diskriminierung von tauben durch hörende Personen) Schubladendenken der Zuschauer bedienen soll? Schon in Jenseits der Stille (1996) wurde Musik als Aufhänger für einen handfesten Konflikt benutzt, der die Beziehung zwischen Eltern und Kind ins Wanken brachte. Das Thema ist aber weder originell noch eine realistische Abbildung des Lebens der meisten Codas in ihren Familien.
Ohne ihre Tochter als Verbindung zur hörenden Außenwelt scheinen die Eltern verloren. Wasser zieht sich als zentrales Element durch den Film. Füllt man Flüssigkeit in ein Gefäß, nimmt es automatisch dessen Form an. Genau diese Anpassungsfähigkeit verinnerlichen Coda, wenn sie zwischen den Welten aufwachsen. Ruby wird hingegen als eine starke junge Frau inszeniert, die sich auch mal gegen die Verantwortung wehrt, die sie tragen soll und damit ihre Eltern vor den Kopf stößt.
Während die Eltern eher unter ihresgleichen bleiben, ist die Rolle des Bruders Leo interessant, der selbstbewusst den Kontakt mit hörenden Menschen sucht und sich von der Abhängigkeit seiner Schwester lossagt. Hier leistet der Film Aufklärungsarbeit indem beispielsweise Möglichkeiten der direkten Kommunikation gezeigt werden. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und kritisiert in einem Streit die Rolle der Helferin und Retterin, die seine kleine Schwester in der Familie einzunehmen scheint. Einige auf mehreren Ebenen diskussionswürdige Schlüsselszenen des französischen Originals tauchen auch in der Adaption (= Neuverfilmung) wieder auf.
Überaus lebendig beschreibt Frank so zum Beispiel bei einem Arzttermin, wie sehr ihn eine Pilzerkrankung in den Genitalien juckt. Ruby ist die Situation sichtlich unangenehm – sie übersetzt nicht alles und schwindelt ihre Eltern an, sie müssten nun lebenslang auf Sex verzichten. Das Klischee der Codas, die ihren Eltern beim Dolmetschen Lügen auftischen, wird überstrapaziert. Generell werden Sex und seine visuelle Darstellung in Gebärdensprache des Öfteren im Film als Steilvorlage für anscheinend witzige Dolmetsch-Szenen genutzt. Es lässt sich darüber streiten, ob Gehörlose so vulgär kommunizieren, wie es hier dargestellt wird. Dass Ruby überhaupt zum Dolmetschen beim Arzt und später in einer Szene vor Gericht mitkommt, ist eher unrealistisch, sind es doch gerade Bereiche, wo die Kostenübernahme gesetzlich geregelt ist.
Bei den Gesangsproben vertraut Ruby ihrem Lehrer an, dass sie wie ihre Eltern redete, als sie in die Schule kam: „Es klang falsch, hässlich.“ Auch wenn dieser Umstand den Realitätstest nicht besteht, ist die Übertragung des gesellschaftlich definierten Defizits der Taubheit auf das Selbst des Kindes bedeutsam. Eine Wendung dieser Sichtweise passiert, als sie in Gebärdensprache das Gefühl während des Singens beschreibt. In den Untertiteln wird nicht übersetzt, was sie gebärdet – die sprachliche Barriere wird umgedreht. Die Thematisierung der tauben Wahrnehmung von Musik findet im Film nur wenig Platz.
Auch wenn der Film stellenweise mit dramaturgischen Lichtblicken am Horizont überzeugen kann, kann es Codas schwerfallen, sich mit der erzählten Geschichte identifizieren zu können. Es ist ein wogendes Auf und Ab zwischen glaubhaften Darstellungen, sich wiederholenden Klischees, witzigen, wenn auch öfter platten Szenen, aber auch Statements, die den Nagel auf den Kopf treffen.
Es bleibt unklar, für wen der Film konzipiert wurde. Taube Darsteller hin oder her – zwar besteht immerhin ein Drittel der Dialoge des Films aus ASL, bei den langen Musikszenen dürften sich taube Zuschauer jedoch langweilen.
Für hörende Zuschauer werden Seh- und Hörgewohnheiten durchbrochen, was den Film attraktiv und spannend macht. In gebärdensprachlichen Szenen sind sie gezwungen, Untertitel zu lesen, denn Ruby benutzt kaum lautsprachbegleitende Gebärden. Es gibt aber auch einige Szenen, in denen ganz auf Untertitel verzichtet wurde. Eine Entscheidung, die dem Publikum beispielsweise in der letzten Szene – ohne zu spoilern – durchaus wichtige Informationen vorenthält. Weiterhin werden Hörende in die taube Perspektive hineinversetzt, als während der Chor-Auführung der Ton stumm geschalten wird. Eine Schlüsselszene, in der bei den Untertiteln von Apple TV+ keine Information darüber gegeben wird, dass genau hier kein Ton zu hören ist, in den Untertiteln der Kinoversion jedoch schon.
Butter bei die Fische (= Klartext): Am Ende ist CODA leider nicht mehr als die gelungenere Neuauflage eines Films, dessen ursprüngliches Drehbuch man besser über Bord hätte werfen sollen. Eine Geschichte wie diese könnte sich nämlich auch ohne Musik erzählen lassen. Im Grunde genommen handelt CODA von Liebe: zwischen Teenagern, zwischen Eltern und ihrem Kind und davon, einander beschützen zu wollen und gehen zu lassen. Die großen Wellen, die die Veröffentlichung nun von Hollywood über den großen Teich zu uns schlagen, laden dazu ein, genauer hinzuschauen und zu fragen: Wessen Geschichte wird erzählt?
Coda
Der Film wurde Anfang 2021 auf dem US-amerikanischen Sundance Film Festival beworben und entwickelte sich zum großen Geheimtipp. Unter zahlreichen Interessenten sicherte sich Apple mit 25 Millionen US-Dollar die exklusiven Rechte. Der Film schreibt Geschichte: Noch nie wurde in der Geschichte des Sundance so viel für eine Indie-Produktion (engl.: unabhängig) geboten. Angesichts der Pandemie ein riskantes Geschäft und ein starkes Zeichen für das Potential, das in dem Film gesehen wird. Gleich vier Preise in den Kategorien Regie, Ensemble, Grand-Jury und Publikum wurden den Machern verliehen. Weiterhin soll der Film in den USA und Großbritannien ausschließlich mit Untertiteln in den Kinos gezeigt werden, die neben den Dialogen auch auditive Informationen enthalten. Anschauen kann man den 112-minütigen Film (FSK 12) auf der Streaming-Plattform Apple TV+ seit dem 13. August 2021.
Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 09/2021) erschienen.