Wie barrierefrei ist der deutsche Fußball? Thomas Mitterhuber von der Deutschen Gehörlosenzeitung sprach mit Holger Jegminat vom Dachverband gehörloser Fanclubs über wachsende Gehörlosenblocks, mitreißende Dolmetscher und die Pläne zur EM 2024 in Deutschland
Informationen in Einfacher Sprache
In diesem Interview geht es um die Frage: Wie erleben gehörlose Menschen Fußball im Stadion? Sie brauchen Dolmetscher für Gebärdensprache. Es geht auch um die Frage: Wer bezahlt die Dolmetschung? Außerdem gibt es Informationen, welcher Verein in Deutschland sich in diesem Bereich engagiert.
In der tauben Fußballfanszene Deutschlands ist Holger Jegminat eine bekannte Größe. Von 2014 bis 2018 war er der deutschlandweit erste gehörlose Behindertenbeauftragte eines Bundesliga-Vereins – nämlich des Hamburger SV. Den dazugehörigen Gehörlosen-Fanclub gründete er mit, später auch den Dachverband deutscher DEAF Fanclubs (DDDF).
2013 gründete sich der DDDF e. V., du bist bis heute 1. Vorsitzender. Wie kam es dazu?
Holger Jegminat: Der DDDF vertritt die Interessen gehörloser Fußballfans. Wir haben Kontakte zur Deutschen Fußball Liga (DFL) und zum Deutschen Fußball-Bund (DFB). Aber vor allem sind wir Mitglied der Bundesbehindertenfanarbeitsgemeinschaft (BBAG), sie setzt sich auch für unsere Forderungen ein.
Bevor sich der DDDF gründete, gab es mehrere Fanclubs für Gehörlose. Als Vorsitzender des HSV-DEAF-Fanclubs nahm ich an BBAG-Versammlungen teil und konnte nach und nach einige Gehörlosen-Fanclubs dazu holen. Im Laufe der Jahre sahen wir die Notwendigkeit eines Dachverbandes und so gründeten wir die DDDF, um unsere Bedürfnisse gebündelt an die Verbände herantragen zu können.
Wie viele Fanclubs sind nun beim DDDF organisiert?
Aktuell sind es 25 Gehörlosen-Fanclubs für Fußballvereine von der 1. Bundesliga bis zur Regionalliga mit insgesamt gut 1.000 Fans. Wir wissen aber von einigen weiteren Fanclubs, die nicht DDDF-Mitglied sind. Allein für den FC Bayern München gibt es vier deutsche Gehörlosen-Fanclubs – zwei von denen sind bei uns.
Wofür setzt ihr euch ein?
Unser Ziel ist gleichberechtigte Teilhabe im Stadion.
Was bedeutet das konkret?
Es sind viele Aspekte zu berücksichtigen – vom Kartenkauf über Einlasskontrolle bis hin zur Teilhabe am Stadiongeschehen. Um Tickets kaufen zu können, muss es alternative Möglichkeiten neben der telefonischen Bestellung geben, zum Beispiel online oder per E-Mail.
Das Stadionpersonal soll im Umgang und in der Kommunikation mit Gehörlosen geschult sein, dazu gehören beispielsweise die Eintrittskontrolle oder der Verkauf von Speisen und Getränken. Und wir fordern ermäßigte Kartenpreise, solange es keine vollständige gleichberechtigte Teilhabe im Stadion gibt, und sogenannte „Gehörlosenblocks“ in den Stadien: reservierte Sitzplätze, wo gehörlose Zuschauer zusammensitzen können.
Auch Fans von gegnerischen Mannschaften?
Ja, natürlich. Die Gehörlosenblocks befinden sich meist in der Heimkurve des jeweiligen Gastgebervereins. Fans der Auswärtsmannschaft sitzen ja in einem eigenen Block, entgegensetzt zur Heimkurve. Sonst kann es zu Randalen kommen. Im Gehörlosenblock passiert das nicht, obwohl wir verschiedene Mannschaften anfeuern. Aber ich habe auch schon was anderes erlebt. *lacht*
Erzähl mal…
Es war ein Auswärtsspiel des HSV in Bremen vor ein paar Jahren. Ich saß mit anderen Gehörlosen zusammen in einer Sitzreihe im Weserstadion, darunter auch einigen gehörlosen Bremern. In diesem Spiel waren die Hamburger in Hochform und schossen mehrere Tore. Wir jubelten und feuerten sie an. Plötzlich wurden aus den hinteren Reihen Bierbecher auf uns geworfen. Den hörenden Zuschauern passte es nicht, dass wir inmitten der Bremer Fankurve die Gegner bejubelten. In der Euphorie hatten wir vergessen, dass wir die einzigen HSV-Fans unter Bremern waren. Daraufhin mussten wir uns zurücknehmen.
Welche Möglichkeiten gibt es eigentlich, um gehörlose Stadionbesucher während eines Fußballspiels einzubeziehen?
Am besten geht das mit Gebärdensprachdolmetschern vor dem Gehörlosenblock. Auch die große Anzeigentafel könnte genutzt werden, um Dolmetscher oder Untertitel einzublenden. Das hat es meines Wissens bislang aber noch nicht gegeben – mit Ausnahme des RB Leipzig. In Dortmund soll es ab der nächsten Saison ebenfalls umgesetzt werden.
Beim FC Bayern München gab es doch diese Untertitel-Brillen.
Ja, aber das wurde inzwischen eingestellt. Ich habe das selbst mal testen können und war nicht begeistert davon. Diese Brille zu tragen war nicht gerade komfortabel und außerdem gab es immer wieder Verbindungsabbrüche.
2013 gab die DFL Empfehlungen für Barrierefreiheit in Stadien heraus. Genügen sie in deinen Augen?
Wir sind dankbar, dass die DFL uns damals mit ins Boot geholt hatte, um unsere Expertise mit in die Empfehlungen einfließen zu lassen. Diese Empfehlungen haben jedenfalls seitdem geholfen, dass mehr und mehr Vereine den Gehörlosenblock einführen und Dolmetscher einsetzen. Da haben wir es schwarz auf weiß. Das Problem ist allerdings oft: Gibt es zu einem Bundesligaverein keinen Gehörlosen-Fanclub, fehlt auch der Gehörlosenblock. Einzige Ausnahme ist der VfB Stuttgart. Deshalb wünschen wir uns, dass sich neue Gehörlosen-Fanclubs gründen. Dann hat der jeweilige Verein auch einen direkten Ansprechpartner vor Ort und der Bedarf wird auch sichtbarer.
Zu den Empfehlungen gehören reservierte Plätze für Gehörlose (fünf Sitze pro 1.000 Plätze). Dazu genauso viele Plätze für Begleitpersonen. Warum ist das wichtig?
Für Gehörlose ist das nicht so relevant. Wohl aber für taubblinde und sehbehinderte Zuschauer. Sie benötigen auf jeden Fall eine Person, die sie begleitet und bei Bedarf auch das Spiel beschreibt.
Wir haben bei der DDDF einen taubblinden Beisitzer und versuchen, nun auch die Bedürfnisse taubblinder Fans in die Empfehlungen einzubringen. Diese brauchen Sitzplätze in der Mitte des Spielfeldes, etwa auf halber Höhe. Sonst haben sie Schwierigkeiten, dem Spiel zu folgen. Ideal wäre es daher, den Gehörlosenblock dorthin zu verlegen. Dann hätten wir und vor allem sehbehinderte Fans einen optimalen Blick.
Und hat es Fortschritte in den letzten Jahren in der Bundesliga gegeben?
Große Fortschritte. Zum einen gibt es immer mehr Gehörlosenblocks – inzwischen in etwa jedem zweiten Stadion der 1. Bundesliga. So einen Block gibt es seit zwei Jahren auch bei der deutschen Nationalmannschaft. Bei jedem Heimspiel der DFB-Elf wird auch ein Gebärdensprachdolmetscher eingesetzt. Dafür haben wir uns eingesetzt. Einige Bundesligavereine machen das auch (siehe dazu die Tabelle). Es geht also vorwärts, Schritt für Schritt.
Und vereinzelte Vereine fangen an, Videos auf ihren Webseiten und den sozialen Medien zu untertiteln und mit Dolmetscher-Einblendungen zu versehen. Ganz vorne ist hier der BVB. Aber im Medienbereich hinken wir insgesamt noch weit hinterher. Immer mehr Vereine bieten Podcasts (= Audio-Beiträge im Internet) an, damit können wir nichts anfangen. Manchmal werden Transkripte angeboten, aber oft mit Zeitverzögerung. Vorbildlich ist hier die BBAG, die auch Podcasts anbietet, aber zeitgleich mit Untertiteln.
Die Leichte Sprache ist dagegen auf dem Vormarsch, obwohl sie eine relativ junge Forderung ist. Oft glaubt man, sie sei auch für Gehörlose geeignet. Aber das stimmt nicht für jeden. Wir bestehen deshalb weiterhin auf DGS.
Zweite Liga voraus!
Welche Bundesligavereine Gehörlosenblocks und Gebärdensprachdolmetschung anbieten:
Erste Bundesliga
Zweite Bundesliga
Welche Aufgabe hat ein Dolmetscher im Stadion?
Als wir beim HSV 2017 anfingen, Dolmetscher einzusetzen, gab es für mich eine überraschende Erfahrung: Der Dolmetscher übersetzte die Ankündigungen des Stadionsprechers vor dem Spiel und das Lied „Hamburg, meine Perle“. Aber sobald der Ball rollte, kam kaum noch etwas von ihm. Ich wunderte mich und forderte ihn auf, weiterzumachen. Er entgegnete, der Stadionsprecher sage aktuell gar nichts. Ich war die Kommentation aus dem Fernseher gewohnt und begriff, dass es im Stadion anders läuft. Da sagen die Sprecher meist nur wichtige Infos, Tore und Spielerwechsel an.
Was also soll der Dolmetscher da machen? Wir sind inzwischen dazu übergegangen, dass es seine Hauptaufgabe ist, den gehörlosen Fans die Stimmung rüberzubringen. Er soll die Zurufe und die Gesänge der Fans übersetzen. So kann der gehörlose Fan die Stadionatmosphäre dann auch miterleben.
Was sollte ein Dolmetscher mitbringen?
Allen voran eine Leidenschaft für den Fußball und eine gewisse Nähe zu den Fans. Man muss die Gebärden der wichtigsten Begriffe und Vereine kennen. Sie sollen auch Emotionen rüberbringen und die gehörlosen Fans mitreißen können.
Viele Dolmetscher arbeiten im Stadion ehrenamtlich. Warum?
Der DDDF bekommt regelmäßig Anfragen von Vereinen, ob sie die Dolmetscher selbst bezahlen müssen. Wir antworten immer, dass wir eine Bezahlung ablehnen. Das liegt an den sogenannten Blindenreportern. Ehrenamtlich beschreiben sie die Fußballspiele für blinde und sehbehinderte Fußballfans. Unsere Position ist: Solange die Blindenreporter kein Honorar bekommen, sollte das auch für Dolmetscher gelten. Sonst passt das nicht zusammen.
Deshalb verlangen wir auch keinen bestimmten Berufsabschluss. Bei den HSV-Heimspielen zum Beispiel wechseln sich drei Personen ab – zwei von ihnen sind Codas ohne Dolmetscherausbildung. Und es funktioniert.
Welche Bundesligavereine sind aus deiner Sicht vorbildlich?
Da fallen mir zwei ein: Borussia Dortmund und der RB Leipzig. Bei jedem Heimspiel stellen sie Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung. Vorne am Gehörlosenblock, mit gutem Blick auf das Spielfeld. Der BVB bezahlt als einziger Bundesligaverein die Dolmetscher selbst. Unser Vizepräsident Florian Hansing ist als Projektmanager beim Fanprojekt Dortmund angestellt und das macht sich natürlich bemerkbar.
Zum Beispiel können sich an spielfreien Tagen auch taube Besucher per Smartphone-Guide durch das BVB-Stadion führen lassen: Seit 2020 hat diese App eine DGS-Übersetzung. Das ist bundesweit einmalig. Und dort arbeitet in der Nähe des Gehörlosenblocks eine gehörlose Mitarbeiterin in einer Imbissbude. So gibt es keine Missverständnisse in der Kommunikation. Zuvor hatte ich einmal eine Krakauer (= Bratwurst) bestellt, bekam jedoch einen Kakao. *lacht*
In diesem Jahr lief die EM 2020. Hast du alle Spiele im Fernsehen verfolgt?
Natürlich verfolge ich alle Spiele mit der Nationalelf.
Die Untertitel werden da live erstellt. Wie ist da die Qualität?
Bei mir laufen die Untertitel sowieso. Über die Übersetzung kann ich mich eigentlich nicht beklagen. Auf meinem HbbTV-Gerät lassen sich die Untertitel anpassen. Für Fußballspiele entferne ich die schwarzen Balken und reduziere die Schriftgröße, so dass ich mehr vom Spiel sehen kann. Aber solange der Ball rollt, guck ich eigentlich nur darauf. Bei langweiligen Matches habe ich dann mehr von den Untertiteln. *lacht*
Braucht es auch Dolmetschereinblendungen bei Fernsehübertragungen?
Bloß nicht während des Spiels! Die würden nur ablenken. Aber bei Anmoderationen, Halbzeitanalysen und Interviews nach dem Spiel würden sie sich eignen.
Bei den Weltmeisterschaften 2014 und 2018 gab es von der FIFA Spielzusammenfassungen in International Sign. Hättest du dir das auch bei der EM 2020 gewünscht?
*überlegt* Ich weiß nicht, wie groß der Bedarf daran war. Wir haben auch kein Feedback dazu bekommen. Ich persönlich habe mir die Videozusammenfassungen nicht angeschaut. Mir wären Spielzusammenschnitte, die man im Internet findet, ohnehin lieber.
Die EM 2024 findet in Deutschland statt. Was ist dazu geplant?
Einiges. Zusammen mit der BBAG und KickIn!, der Beratungsstelle für Inklusion im Fußball, stehen wir seit einem Jahr auch schon mit dem DFB in Kontakt. Dort sind wir Ansprechpartner für gehörlose und taubblinde Fans. Bei der DDDF haben wir im vergangenen Dezember eine Arbeitsgruppe für die EM gegründet. Diese wird dann ein Konzept ausarbeiten und gemeinsam mit den Kooperationspartnern dem DFB vorlegen. Wir wünschen uns Gehörlosenblocks, Dolmetscher für International Sign und Untertitel auf der Anzeigentafel. Außerdem soll es in jedem EM-Stadion eine gebärdensprachkompetente Anlaufstelle für alle Fragen geben.
In den Austragungsstädten sollen während der EM auch Fantreffs und Stadtführungen in Gebärdensprache angeboten werden. Eigentlich dürfte es vonseiten des DFB keine größeren Schwierigkeiten geben, die sind im Grunde offen dafür. Problematischer ist vielmehr die UEFA. Sie stellt sich gegen viele Forderungen. Dazu gehört auch die Ablehnung neulich, das Münchner Stadion beim Spiel Deutschland gegen Ungarn bunt beleuchten lassen zu dürfen. Wir werden sehen, wie weit wir kommen.
Vielen Dank für das Interview!
Dieser Artikel ist zuerst in der Deutschen Gehörlosenzeitung (Ausgabe 07/2021) erschienen.