Inklusion auf der Theaterbühne

Zwei Personen auf einer Theaterbühne. Der Mann steuert eine Vogelpuppe. Sie zeigt in Richtung einer Frau, die ein Pinguinkostüm trägt.
Andreas Pfaffenberger und Pia Jendreizik in der Produktion „Ich bin Pinguin“ von Leute wie die, Foto: Christian Herrmann
Lesezeit ca. 8 Minuten

Wie kommen mehr Menschen mit Behinderung auf Theaterbühnen? Welche Strukturen müssen sich dafür ändern? Diesen Fragen ging das Theater der Jungen Welt in Leipzig während dem Turbo-Festival Anfang Juni nach. Andrea Schöne war digital zu Besuch und sprach mit einer Spielclubleiterin und zwei Schauspieler*innen mit Behinderung über Barrieren und Chancen.

Informationen in Einfacher Sprache

In diesem Text geht es um Theater und Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung.

Die Autorin versucht die Frage zu beantworten, wie Inklusion im Theater besser funktioniert.

Dafür befragt sie Schauspielerinnen und Theaterpädagoginnen.

Alle Teilnehmenden sitzen voller Spannung vor der Web-Cam in einem Zoom-Call. Die Probe beginnt nach einer herzlichen Begrüßung mit dem Aufwärmspiel „Kacheln putzen“. Mit Musik im Hintergrund wischen alle Spieler*innen mit den Händen, Armen oder Füßen imaginär über den Bildschirm als würden sie diesen putzen. 

In einem anderen Spiel erzählen die Teilnehmenden spontan eine Improvisationsgeschichte. Die Zuhörer*innen geben Orte, Personen und zwei Tätigkeiten vor, die in der Geschichte vorkommen müssen. Drei Spieler*innen improvisieren die Geschichte während acht weitere Spieler*innen Bewegungen und Mimik dazu machen. Das ist nur ein kurzer Ausschnitt aus einer digitalen Probe des inklusiven Spiel-Clubs Melo des Theaters der Jungen Welt in Leipzig.

Seit 2014 besteht der generationsübergreifende und inklusive Spielclub Melo, in Kooperation mit der Lebenshilfe Leipzig. Menschen mit und ohne Behinderung verschiedenen Alters und Geschlechts kommen hier zusammen. Dieses Jahr steht die Arbeit, welche aufgrund der Pandemie nur online stattfinden konnte, unter dem Motto „Liebe und Chaos“. Der Spielclub steht für alle Menschen ab achtzehn Jahren offen. Catharina Guth ist als Theaterpädagogin Teil des dreiköpfigen Leitungsteams des Club Melo. Im Leitungsteam hat niemand eine Behinderung. „Man kann gerne ohne jegliche Vorerfahrungen und Ambitionen einsteigen“, erklärt die Theaterpädagogin im Zoom-Gespräch. „Es kommt hin und wieder vor, dass aus solchen Theater-Clubs später Menschen hervorgehen, die das dann auch beruflich machen wollen. Immer wieder bekommen wir auch Anfragen von Menschen, die gerne in der Monolog-Arbeit unterstützt werden wollen, um sich auf Vorsprechen vorzubereiten.“ So stellen Theater-Clubs eine Möglichkeit dar, möglichst niederschwellig in die Theaterwelt hineinzuschnuppern. 

Foto von Jana Zöll. Sie hat die Augen weit aufgerissen und streckt ihre Hände in richtung Kamera.
Jana Zöll in der Lecture-Performance "Ich bin". Foto: Steven Solbrig

Inklusive Spielclubs als Einstieg in die Theaterszene

So war das auch für Jana Zöll, Theaterschauspielerin mit Behinderung, die mit Glasknochen lebt und einen Rollstuhl nutzt. Aus ihrem Hobby Theaterspielen während ihrer Schulzeit, machte die 36-Jährige einen Beruf. Als eine der wenigen Schauspieler*innen mit Behinderung absolvierte sie an der Akademie für Darstellende Kunst in Ulm eine Schauspielausbildung. In dieser Spielzeit ist sie als Gastschauspielerin am Theater der Jungen Welt in Leipzig und leitet hier zusammen mit dem Theaterpädagogen Paul Lederer den Kidsclub, einen Spielclub für Kinder ab sechs Jahren. Der Kidsclub und der Club Melo sind beide inklusives Spielclubs, die aber jeweils verschiedene Altersklassen ansprechen. Im Kidsclub spielen Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren zusammen Theater. Der Club Melo steht Spieler*innen ab achtzehn Jahren offen. Die Idee, den Kidsclub auch inklusiv zu gestalten, kam von der neuen Intendantin Winnie Karnofka und sie engagierte Jana Zöll dafür. „Mit Theaterpädagogik bin ich eigentlich gar nicht so vertraut“, verrät die Schauspielerin. „Ich habe den Kidsclub mitgeleitet, weil ich es wichtig finde, dass auch die Leitung solcher Clubs schon inklusiv ist.“ So könnten sich gerade Kinder mit Behinderung ihre Arbeit als Vorbild nehmen und würden eher ermutigt, sich selbst als mögliche Künstler*innen wahrzunehmen. 

Die Umsetzung findet Jana Zöll allerdings nicht ganz geglückt. Die Kinder mit Behinderung kamen alle durch eine Kooperation mit einer Wohngruppe für Kinder mit Behinderung in den Spielclub. „Das ist natürlich wichtig, Kinder und Jugendliche aus den Institutionen mit einzubeziehen, was eher über solche Kooperationen geht. Aber wenn es darüber nicht hinausgeht, habe ich das Gefühl, der Spielclub bleibt in zwei Gruppen geteilt: Die aus der Wohngruppe und die anderen“, merkt Jana Zöll an und schlägt vor, gezielt auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung aus inklusiven Schulen und Förderschulen anzusprechen. Auch der Club Melo arbeitet mit einer Kooperation der Lebenshilfe zusammen und bedauert selbst weniger Spieler*innen mit Behinderung, als Menschen ohne Behinderung zu haben. „Grundsätzlich verstehen wir Club Melo als inklusiv, da der Theaterclub für alle Menschen offen ist und somit sowohl Menschen ohne als auch mit Behinderung teilnehmen“, erklärt Catharina Guth aus dem Leitungsteam. Ein ausdrücklicher Wunsch der Clubleiterin ist, dass mehr Menschen mit Behinderung teilnehmen. Hier steht das gesamte Team oftmals vor der Frage, mit welchen Kanälen und Institutionen sie noch mehr Menschen mit Behinderung erreichen können. 

Eine Zeichnung von einem Mann und einer Frau. Die Frau hält einen roten Herzchen-Luftballon in der Hand auf dem "Viel Liebe, viel Glück" steht.
Club Melo: Liebe trifft Chaos. Illustration: Simone Fass

Einige der Menschen mit Behinderung, die sie bereits erreichen, wollen auch beruflich Schauspieler*in werden. Ein Spieler des Spielclubs, der von Anfang an dabei ist, möchte im Film-Bereich arbeiten. Das Theater Der Jungen Welt fragt ihn unter anderem für Co-Moderationen an und auch in der diesjährigen Filmcollage „Liebe trifft Chaos“ spielt er eine wichtige Rolle. Durch die Online-Proben in dieser Spielzeit, fehlten oftmals Möglichkeiten für private Gespräche, um beispielweise solche Berufswünsche begleiten zu können. Gerade manchen Menschen mit Behinderung sei es technisch und kognitiv stellenweise gar nicht oder nur eingeschränkt möglich gewesen, an den digitalen Proben teilzunehmen. Die Herausforderung, die Bedürfnisse der Spielerinnen und Spieler herauszulesen, sei im digitalen Raum größer. Durch die pandemiebedingten Änderungen in der Kommunikationsform, könnte die Entwicklung gerade von Berufswünschen im Theaterbereich von Menschen mit Behinderung eingeschränkt sein.

Wie erreiche ich als Theater behinderte Menschen?

Um behinderten Menschen zu ermöglichen, selbst aktiv in der Theaterwelt zu sein, braucht es neben der richtigen Ansprache auch Barrierefreiheit und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in den Strukturen des Theaterhauses. Jana Zöll bemerkt, dass es grundsätzliche Mittel für Barrierefreiheit wie beispielsweise Rampen für Rollstuhlfahrer*innen oder Gebärdensprachdolmetschung für taube Menschen gibt, aber danach jede Person mit Behinderung als Individuum mit verschiedenen Bedürfnissen betrachtet werden müsse. 

Zum anderen können Barrieren im digitalen und analogen Raum ganz verschieden sein, weil nicht alle Spieler*innen die gleichen Ausgangsvoraussetzungen haben. Die Kinder mit Behinderung aus der Wohngruppe mussten sich zu dritt einen Computer in einem Aufenthaltsraum teilen, während die Kinder ohne Behinderung einen Computer in einer ruhigen Umgebung für sich allein hatten. Nach wenigen Wochen stiegen alle Kinder aus der Wohngruppe aus, weil sie Konzentrationsschwierigkeiten hatten. Aber auch von den nichtbehinderten Kindern blieben am Ende von zehn Kindern nur vier übrig. 

Auch in inklusiven Kollektiven wie „Leute wie die“, zu dem die taube Schauspielerin Pia Katharina Jendreizik gehört, steht Kommunikation im Vordergrund. Die Arbeit findet bilingual in Gebärden- und Lautsprache statt. Um allen Menschen zu ermöglichen, bei dem Kollektiv mitzuarbeiten, sind bei der Arbeit stets Gebärdensprachdolmetscher*innen dabei. Die Kommunikation erfordert mehr Zeit. Ohne Gebärdensprachdolmetschung würde das nicht funktionieren, auch wenn die Hörenden im Kollektiv Gebärdensprache lernen. Um klare und korrekte Übersetzungen in beiden Sprachen auf der Bühne zu gewährleisten, holen sie auch Gebärdensprachdozierende zur Beratung dazu.

Inklusive Zugänge in der Ausbildung schaffen

Trotz aller positiven Ansätze findet es Jana Zöll erschreckend, dass Spielclubs erst jetzt anfangen, sich auch für Kinder und junge Menschen mit Behinderung zu öffnen. „Gerade für Kinder und Jugendliche ist es wichtig teilzuhaben und Möglichkeiten zu haben, sich zu entdecken“, erläutert sie und fügt hinzu: „Wenn überhaupt, findet das sonst nur in einem abgesonderten Raum oder sogar in Form von Therapie statt.“ Jana Zölls Ausbildung zur Schauspielerin ist nicht gewöhnlich für Menschen mit Behinderung in der Theaterwelt. Von ihrer Schauspielschule wurde Zöll vor 15 Jahren zwar aufgenommen, musste Barrieren aber selbst überwinden. Das war für die Schauspielerin nur mit der Unterstützung ihrer Mutter möglich, da sich die Strukturen nicht an sie anpassen wollten. „Wir sind in einer Branche, wo es angeblich eigentlich um Kreativität geht. Ich bin erstaunt, wie wenig da oft möglich ist“, bemerkt Zöll und fragt sich auch, ob das Abitur als Zugangsvoraussetzung für eine Schauspielausbildung nötig ist. Die meisten Menschen mit Behinderung haben nach wie vor keinen Zugang in das Regelschulsystem. Das Abitur zu machen ist im Förderschulsystem nicht vorgesehen. EUCREA, der Dachverband zum Thema Kunst und Inklusion im deutschsprachigen Raum, möchte die Ausbildungssituation für Schauspieler*innen mit Behinderung verbessern. Dieses Jahr startete die vierjährige Kooperation „ART+“ mit Ausbildungsinstitutionen in vier Bundesländern, welche die Ausbildung für Künstler*innen mit Behinderung fördern wollen. Ziel ist, dass Kunstschaffende mit Behinderung langfristig und dauerhaft Möglichkeiten zur künstlerischen Ausbildung außerhalb der Behindertenhilfe finden. 

Zwei Frauen auf einer Theatherbühne. Die eine sitzt im Schneidersitz und schaut die andere an, die knieend eine Hand nach oben streckt.
Pia Jendreizik in der Produktion „Wach?“ von Leute wie die, Foto: Christian Herrmann
Zwei Frauen auf der Theaterbühne. Die eine schüschüttet der anderen einen Becher wasser über den Kopf.
Kassandra Wedel, Pia Jendreizik in der Produktion „Mädchen wie die“ am Staatstheater Hannover

Die meisten Menschen mit Behinderung schaffen den Einstieg in das professionelle Theaterspielen wahrscheinlich ähnlich wie Pia Katharina Jendreizik. Sie sammelte nach ihrer Schulzeit in Köln erste Erfahrungen und wollte danach auf die einzige Schauspielschule in Leipzig, die eine Schauspielausbildung in Gebärdensprache anbot. Leider musste diese aus Geldmangel schließen. Mit dem Beginn der Zusammenarbeit mit „Leute wie die“ fand sie einen Weg, sich selbst auszubilden und zu lernen. „Ich war am Anfang wirklich unbedarft, hatte keine Ahnung und sie haben mir die Möglichkeit gegeben, mich weiterzubilden. An der praktischen Arbeit bin ich dann gewachsen“, erklärt Jendreizik in einer Podiumsdiskussion über inklusives Theater beim Turbo-Festival. Sie lernt bis heute vor allem viel durch Begegnung und Kontakt mit anderen Schauspieler*innen wie beispielsweise Kassandra Wedel. „Hätte ich diese Leute nicht getroffen, dann wäre ich jetzt keine Schauspielerin“, meint Jendreizik. Als besonders große Hürde bei der Schauspielausbildung für gehörlose Menschen sieht sie die Frage nach der Finanzierung der Gebärdensprachdolmetschung.

Wie sprechen wir über Behinderung auf Theaterbühnen?

Wenn Pia Katharina Jendreizik als gehörlose Schauspielerin auftritt, unterscheidet sie zwischen drei verschiedenen Reaktionen von hörenden Menschen auf die Gebärdensprache: „Kinder nehmen Gebärdensprache sofort als etwas Natürliches auf, Jugendliche kennen sich wenig aus und sind etwas ungläubig und Erwachsene finden es „interessant und inspirierend”.“ Es zeigt, wie der Umgang mit Behinderung gesellschaftlich je nach Alter immer mehr von außen geprägt und „erlernt“ wird. Gerade deswegen spielen die Darstellung von Behinderung auf der Bühne und inklusive Inszenierungen so eine große Rolle. Jendreizik bringt die Gehörlosenkultur in ihre Arbeit stets ein, ohne die Behinderung direkt in den Vordergrund zu stellen. „Solche Aspekte können ganz natürlich mitgezeigt werden, ohne das explizit zu thematisieren“, erklärt die taube Schauspielerin. Beim Staatstheater Hannover machte Jendreizik beispielsweise die Erfahrung, dass ausschließlich auf Lautsprache geachtet wurde. „Das ist ein sehr klassischer Blick auf die Sprache“, meint die Schauspielerin. Und gleichzeitig ein klassischer Blick auf Theatermachen obendrein. Um inklusiv zu arbeiten, brauche es daher auch für Jendreizik ein Konzept wie übergriffige Fragen, auch vom Publikum, seitens des Theaters abgewehrt würden.

Künstlerische Entscheidungen in der Autor*innenschaft und Regie gezielt an Künstler*innen mit Behinderung zu geben, stärkt auch für Jana Zöll insbesondere die Perspektive behinderter Menschen auf der Bühne. „Die Stücke über Behinderung, die es gibt, werden einfach immer wieder aus der Perspektive von Menschen ohne Behinderung erzählt. Das verstärkt auch gewisse vorgefertigte Perspektiven“, gibt Zöll zu bedenken. 

Neues Selbstverständnis von Theater schaffen

Dieses Jahr erarbeiteten die Spieler*innen des Club Melo für die Abschlusspräsentation in der Leipziger Oper mit allen anderen Leipziger Spielclubs einen Film mit dem Thema „Liebe und Chaos“. „Der Film ist eine liebes-chaotische Filmcollage mit Gebärdensprachübersetzung“, beschreibt Catharina Guth das Jahresabschlusswerk vom Club Melo. In dem Film singen und tanzen die Spieler*innen und stellen szenisch ihre eigenen Themen oder die Gedanken und Erfahrungen anderer dar. „Sie hinterfragen die Liebe, versinken im Chaos zwischen Gedanken und fordern die Gefühle heraus“, erklärt Catharina Guth weiter. Alle Inhalte des Films erstanden innerhalb von acht Monaten digital. Das Thema des Films ist inklusiv, thematisiert Behinderung aber nicht direkt. Die Veranstaltung trägt dazu bei, Menschen mit Behinderung in der Theaterarbeit öffentlich sichtbarer zu machen und andere Menschen vor und hinter der Bühne ins Theater zu ziehen. Nicht nur Jana Zöll und Pia Katharina Jendreizik wünschen sich mehr Fördermittel und Zeit für die Umsetzung von inklusiven Produktionen und das starre Hierarchien innerhalb der Theaterstrukturen aufgelöst werden. Dann ist der Weg frei für mehr Schauspieler*innen mit Behinderung in Theaterhäusern und für weniger Stereotype auf der Bühne. 

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2 Antworten

  1. Die inklusive Theatergruppe RAP-SODEN in Stuttgart arbeitet seit 2011 mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen erfolgreich im In- und Ausland. Ein Erfahrungsaustausch wäre begrüßenswert.

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