„Ich hätte gerne einen gesellschaftlichen Konsens, dass wir für niemanden Sonderwelten brauchen.” Ein Gespräch mit Grünen-Politikerin Stephanie Aeffner

Stefphanie Aeffner schaut lächelnd an der Kamera vorbei. Sie ist im Halbprofil zu sehen, trägt ihre langen, blonden Haare offen und trägt einen schwarzen Blaser
Sitzt seit 2021 für Bündnis 90 / Die Grünen im Deutschen Bundestag: Stephanie Aeffner. Foto: Stefan Kaminski
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Stephanie Aeffner wollte eigentlich schon nach dem Abitur in die Politik, entschied sich dann aber zunächst für ein Medizinstudium, bevor sie zur Sozialen Arbeit wechselte. Nach einer Anstellung als Qualitätsmanagerin folgte eine längere krankheitsbedingte Pause, nach der sie viele Jahre in einem „Zentrum selbstbestimmt Leben“ Menschen mit Behinderungen beraten hat und Aktivistin in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung war. 2016 wurde sie Landes-Behindertenbeauftragte in Baden-Württemberg. Seit 2021 ist sie als Bundestagsabgeordnete der Grünen zuständig für Sozialpolitik und Barrierefreiheit. Karina Sturm hat sich für die Neue Norm mit ihr unterhalten.

Karina Sturm: Sie haben einen spannenden Lebenslauf. Wie kommt man denn von einem Medizinstudium über die Soziale Arbeit zur Politik?

Stephanie Aeffner: Ich habe schon nach dem Abitur überlegt, dass ich gerne politisch tätig sein würde – ich war bereits mit zwölf Jahren im Stadtschüler*innenrat – dachte dann aber ich müsse etwas „Handfestes“ machen. Mein zweiter Berufswunsch war immer Ärztin zu werden, doch das angefangene Medizinstudium ging gesundheitlich irgendwann nicht mehr – die Studienprüfungsordnung stand behinderten Studierenden damals oft im Weg. Als Umschulung studierte ich dann Soziale Arbeit und engagierte mich gleichzeitig politisch. Dann kamen zwei Knackpunkte: Einerseits hat es mich genervt, den Politiker*innen immer zu sagen, was sie tun könnten; ich wollte das lieber selbst machen. Und andererseits habe ich als Sozialarbeiterin im Bereich selbstbestimmt leben beraten. Dabei stieß ich ständig auf Situationen, in denen Gesetze den Menschen keine befriedigenden Antworten geben konnten. Das wollte ich ändern und so bin ich zur Berufspolitikerin geworden. 

Wie vielfältig ist unsere Politik und wie sehr muss eine Person „der Norm“ entsprechen, wenn viele Menschen erreicht werden wollen? 

Zu Beginn stehen die Vorurteile. Ich glaube, alle Gruppen, die Diskriminierungsmerkmale haben, kennen es, begutachtet zu werden. Viele Menschen denken, dass sie, wenn sie eine Person mit Behinderung, Migrationsgeschichte, Rassismuserfahrung und so weiter kennen, dann kennen sie alle. Da wird schnell ein Urteil gebildet. Bei Menschen mit Behinderungen kommt noch dazu, dass Fachkompetenz viel schwerer gesehen wird und gleichzeitig wird die eigene Belastbarkeit oft hinterfragt. Politik ist schon ein sehr anstrengender Job mit wenig Schlaf. 

Portraitfoto von Stephanie Aeffner. Sie hat lange blonde Haare, trägt eine violette Bluse und lächelt in die Kamera.

Stephanie Aeffner

Stephanie Aeffner ist Bundestagsabgeordnete von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Am 26. September 2021 wurde sie in den Deutschen Bundestag gewählt. Sie ist ordentliches Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Außerdem gehört sie den drei Ausschüssen Gesundheit, Recht sowie Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung stellvertretend an. Für ihre Fraktion ist sie Berichterstatterin für Sozialpolitik, Koordinatorin des Gewerkschafts- und Sozialbeirats und Berichterstatterin für Barrierefreiheit.
Foto: Sabine Arndt

Können Sie mir ein konkretes Beispiel nennen?

Bei meiner Nominierung in meinem Wahlkreis hat die Presse mich gefragt: „Ja, sagen Sie mal, haben Sie sich das gut überlegt? Können Sie das überhaupt mit Ihrer Behinderung?“ Am liebsten hätte ich geantwortet: „Na, gut, dass Sie mich darauf hinweisen. Ich sage jetzt diese Veranstaltung ab und gehe wieder nach Hause. Ohne Sie hätte ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht…“ Zu dem Zeitpunkt war ich wohlgemerkt schon hauptberuflich in der Politik als Landesbehindertenbeauftragte in Baden-Württemberg tätig. 

Erschreckend! Gibt es noch andere Hürden, auf die Sie in Ihrem beruflichen Alltag häufig stoßen?

Das fängt mit ganz profanen Sachen an, z. B. dass  allein die Reiseplanung mein Büro sehr viel Zeit kostet. Wir müssen regelmäßig bei Veranstaltungen hinterher telefonieren,  um dann festzustellen, dass leider in Räume eingeladen wurde, die nicht barrierefrei sind. Mittlerweile sollten die Verbände auf Bundesebene wissen, dass es eine rollstuhlfahrende Abgeordnete in dem Themenfeld gibt. Aber auch bei den praktischen Dingen, wie z. B. dem Netzwerken, stoße ich auf physische Barrieren, von denen ich nicht weiß, wie ich sie auflösen kann. Unser Fraktionssaal ist so eng, dass ich genau an einer Stelle am Rand stehen kann. Alle anderen können sich zwischen den Reihen frei bewegen und mit allen sprechen während ich immer jede Person zu mir beordern muss. Genauso ist es auch im Plenarsaal im Bundestag. Behinderung kostet Lebenszeit. Das ist Zeit, die Kolleg*innen für andere Dinge nutzen können. 

Und das heißt dann ja auch, Sie bekommen noch weniger Schlaf als alle anderen!

Genau. 

Sie setzen sich auch für Barrierefreiheit und Antidiskriminierung ein. Müssen oder wollen Sie dieses Thema im Rahmen Ihrer Arbeit platzieren?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Ich war eigentlich immer von Herzen Sozialpolitikerin und wurde dann irgendwann gefragt, Teil der Landesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik zu werden. Das kam von Außen. Auf der anderen Seite trägt mein eigenes Erleben von Behinderung auch dazu bei, dass man Gesagtes viel schlechter ignorieren kann, sodass ich es natürlich auch in konkreten Verhandlungssituationen nutze, dass die Person, die das Problem hat, im Raum sitzt. Dadurch sind diese Themen für Kolleg*innen nicht so abstrakt. 

Sie haben selbst „Brüche“ in Ihrem Lebenslauf und Phasen der Arbeitslosigkeit erlebt. Haben diese Erfahrungen Ihre politische Arbeit und Ihre Sicht auf Sozialpolitik geprägt?

Meine Mutter war Gemeindekrankenschwester. Sie hatte viele ältere Frauen als Patientinnen, die sehr arm und einsam waren. In den Schulferien waren meine Schwester und ich oft nachmittags dort und haben z. B. vorgelesen. So habe ich früh gesehen, wie privilegiert ich bin. Die Ungerechtigkeit, Armut und Existenzsorgen dieser Menschen haben mich immer umgetrieben. 

Behinderung kostet Lebenszeit

Haben Sie in Ihrem beruflichen Alltag mit Ableismus zu tun und wie gehen Sie damit um?

Ja, das gibt es natürlich immer wieder, z. B. wenn ich mich auf Social Media für Barrierefreiheit einsetze, und so Kommentare kommen wie, „Herr Schäuble hat sich auch nie beschwert“. Dabei geht es doch nicht um Beschweren. Ich setze das Thema Ableismus immer wieder auf die Tagesordnung und ich glaube, das finden die anderen ziemlich nervig und denken das wäre nur für mich. Dabei verstehen sie nicht, dass der Bundestag ein Arbeitsort für viele Menschen ist. Der Bundestag ist auch ein Ort, wo Bürger*innen und Vertreter*innen von Verbänden unterwegs sind. 

Im Wahlkreis ist Ableismus auch immer wieder Thema, z. B. wenn ich eine Einladung zu einem nicht barrierefreien Event bekomme und mir dann gesagt wird: „Ach, kommen Sie, da helfen wir Ihnen, da ziehen wir Sie einfach die Treppen hoch.“ Das mache ich nicht mehr. Und die Reaktion stößt an vielen Orten auf Unverständnis.

Gibt es spezifische Maßnahmen oder Unterstützungssysteme, die behinderten Politiker*innen helfen, Ihre politischen Ziele zu erreichen?

Der Bundestag hat das Thema Behinderung nicht so auf dem Schirm, dass er proaktiv in allen Bereichen Barrieren abbaut. Das passiert eher auf Beschwerden hin. Ich würde mir aber wünschen, dass es eine Stelle in der Verwaltung gibt, die systematisch Barrieren erfasst und abbaut. Damals wollten alle von meiner Erfahrung profitieren und mit mir eine Begehung eines Gebäudes machen. Ich gebe meine Erfahrungen gerne punktuell weiter, aber wir haben hier 31 Gebäude. Wenn ich mich ständig mit der mangelnden Barrierefreieheit im Bundestag befasse, fehlt mir die Zeit für meine fachliche Arbeit als Abgeordnete, was meine eigentliche Aufgabe ist. 

In der Fraktion und Partei nehme ich das ganz anders wahr. Als ich noch in der Landespolitik war, wurde für Delegationsreisen immer ein extra Auto für mich bestellt. Das heißt, während alle Kolleg*innen im Bus nett miteinander reden konnten, saß ich alleine anderswo. Heute ist es ganz selbstverständlich, dass sich meine Fraktion darum kümmert, dass es einen rollstuhlgerechten Bus gibt.

Trotzdem stößt man oft an Grenzen, die eine Partei nicht lösen kann. In kleineren Städten haben Ortsverbände oftmals Schwierigkeiten, barrierefreie Veranstaltungsorte oder Räume zu finden. Und sie haben auch wenig finanzielle Mittel. Wenn da z. B. ein gehörloser Mensch Mitglied ist und alle Sitzungen gedolmetscht werden müssen, dann hat dieser Verband weniger Geld, das er für politische Arbeit ausgeben kann. Das ist auch ein Wettbewerbsnachteil, denn die Partei, die keinen Bedarf für Dolmetschung hat, kann in andere Dinge investieren. Das ist ein strukturelles Problem. 

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten in Bezug auf Ihre politischen Ziele, welches Ihrer Ziele würden Sie gerne erreicht sehen?

Ich hätte gerne einen gesellschaftlichen Konsens, dass wir für niemanden Sonderwelten brauchen und dass sie immer schädlich sind. Und das zieht sich in Deutschland durch: Behinderte Kinder gehen auf bestimmte Schulen, haben da keine Netzwerke, was sich dann durchs Berufsleben zieht, wo sie keine anderen Lebenswelten kennenlernen. Wir müssen einen politischen Prozess starten, der diese Sonderwelten in den Blick nimmt und Inklusion als Grundlage für eine demokratische, vielfältige Gesellschaft versteht.

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Es gibt gerade so einen coolen EM-Song von den Bhangu Brothers, den ich richtig cool fand. 

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