Als eine der ersten offen trans lebenden Politiker*innen sitzt Nyke Slawik seit 2021 im Deutschen Bundestag. Zur Politik kam die Grünen-Abgeordnete über Klima- und Verkehrsthemen in ihrer Heimatstadt Leverkusen. Mit unserer Redakteurin Carolin Schmidt spricht sie unter anderem über fehlende Perspektiven in der Verkehrspolitik, psychische Gesundheit und warum Politik vielfältig sein muss.
Carolin Schmidt: Guten Morgen Frau Slawik, wie geht es Ihnen?
Nyke Slawik: Ich bin ein wenig müde – wir sind auf dem Endspurt vor der parlamentarischen Sommerpause. Gleichzeitig freue ich mich auch über viele schöne Highlights auf den letzten Metern, nächste Woche ist unser parlamentarischer Regenbogenabend von der Bundestagsfraktion.
Gibt es einen Anlass, der besonders gefeiert wird?
Vor kurzem haben wir das Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet, das ist ein wichtiger Meilenstein im gesellschaftspolitischen Bereich.
Was muss sich noch ändern in puncto Gleichstellung?
Es muss noch sehr viel geschehen. Wir haben als erste Koalition auf Bundesebene einen Aktionsplan Queer leben auf den Weg gebracht, der gegen die Diskriminierung von queeren Personen vorgeht. Es ist ja leider so, dass heute Menschen immer noch täglich Angriffe oder Diskriminierungen erfahren aufgrund ihrer sexuellen Identität oder ihres Geschlechts. Wir haben auch noch eine größere Reform des Familienrechts vor, um Regenbogenfamilien gleichzustellen.
Nyke Slawik
Nyke Slawik setzt sich seit Jahren für eine sozial gerechte und vielfältige Gesellschaft und für echten Klimaschutz ein. Ihr Wahlkreis liegt in Leverkusen und Köln-Mülheim, im Herbst 2021 zog sie über die Landesliste von Bündnis 90/Die Grünen NRW zum ersten Mal in den Bundestag ein. Als stellvertretende Vorsitzende des Verkehrsausschusses kämpft sie für eine feministische Verkehrspolitik und faire Mobilität für alle. Im Familienausschuss setzt sie sich für queere Rechte und Selbstbestimmung ein. Ihre Vision einer feministischen Zukunft ist intersektional, queer und klimagerecht.
Foto: Leonie Braunschweig
Sie sind stellvertretende Vorsitzende im Verkehrsausschuss, spielt das Thema hier auch eine Rolle?
Mir fällt immer wieder auf, dass Mobilität und Infrastruktur sehr häufig aus der Perspektive von erwerbstätigen, able-bodied, männlichen Personen gedacht wird und viel zu wenig divers. Deshalb ist es mir sehr wichtig, Gleichstellungsperspektiven beim Thema Mobilität einzubringen. Es hat mich berührt, dass viele Menschen darüber gesprochen haben, dass sie zum ersten Mal die Möglichkeit hatten, Verwandte zu besuchen oder Ausflüge mit ihrer Familie zu machen, als wir das 9-Euro-Ticket eingeführt haben. Das hat mich zum Nachdenken darüber gebracht, wer eigentlich Zugang zu Mobilität hat. Wer die Möglichkeit hat, vor die Haustüre zu gehen und ganz unkompliziert von A nach B zu kommen. Meine Fraktions-Kollegin Stephanie Aeffner nutzt einen Rollstuhl. Sie erzählt häufig davon, was sie für einen großen Vorlauf braucht, um ihre Bahnreisen zu planen, um ihr Mandat in Anspruch zu nehmen.
Wie kann die Politik hier eingreifen?
Wir haben verhandelt, dass die Mobilitätsservice-Zentrale in das allgemeine Eisenbahngesetz verankert wird und dass alle Menschen einen Anspruch auf eine Unterstützung bei der barrierefreien Reiseplanung haben. Aber gerade im Bereich Barrierefreiheit muss noch viel mehr passieren, etwa, dass auch Verkehrsräume so gedacht werden, dass alle Menschen Zugang haben.
Sie haben auf Ihrem Instagram-Kanal gesagt, dass Sie über das Thema Verkehr zur Politik gekommen sind. Wie kann ich mir das vorstellen?
Ich komme aus Leverkusen und dort kämpfen viele Menschen gegen den gigantischen Autobahnausbau vor Ort. Das war damals für mich als umwelt- und klimabewegte Person ein Punkt, der mich sehr stark politisiert hat. Ich kämpfe auf Bundesebene dafür, dass sich die Infrastrukturplanung mehr an Klima- und Umweltschutz-Zielen orientiert. Als ich angefangen habe, mich verkehrspolitisch zu engagieren, ist mir sehr schnell aufgefallen, wie wenig divers die Mobilitätsszene ist. Hier im Bundestag haben wir eine Art Ahnengalerie an der Wand, wo die ehemaligen Ausschussvorsitzenden abgebildet sind. Es sind ausschließlich weiße Männer. Bislang hat noch keine Frau dem Verkehrsausschuss vorgesessen. Frauen, queere Personen, von Diskriminierung betroffene Menschen haben aber andere Perspektiven und Bedürfnissen.
Was würden Sie sich hier konkret wünschen?
Mehr Barrierefreiheit: Aufzüge fehlen oder sind ständig kaputt, es gibt unterschiedlich hohe Bahnsteigkanten etc. Aber auch die Perspektive von Frauen oder mobilitätseingeschränkten Personen, die ja häufig eine geringere Körpergröße haben und dadurch einen ganz anderen Blickwinkel einnehmen, wird gar nicht mitgedacht. Das kann zu einem starken Unsicherheitsgefühl führen, etwa bei engen und schwer einsehbaren Passagen. Ich stelle auch die Infrastrukturplanung grundsätzlich in Frage: Warum geben wir dem Auto so viel Platz in Innenstädten?
Fehlt es generell an Vielfalt in der Politik?
Puh… (lacht) – zu diesem Punkt habe ich sehr viele Gedanken. Die letzte Bundestagswahl war historisch, weil der Bundestag viel diverser geworden ist.
Das ist ein schönes Aufbruchssignal, auch noch drei Jahre später. Ich bin mit Tessa Ganserer zusammen als eine der ersten offen als trans lebenden Personen eingezogen. Über Stephanie Aeffner habe ich bereits gesprochen. Mit Awet Tesfaiesus ist die erste Schwarze Frau in den Deutschen Bundestag eingezogen. Schahina Gambir, auch eine Fraktionskollegin von mir, ist in Afghanistan geboren und als Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Ich finde es bewegend, dass so viele Frauen mit sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten in den Bundestag eingezogen sind.
Im Sinne der Repräsentation?
Absolut. Ich selbst kannte zwar andere trans Personen, aber keine davon war in der Politik aktiv. Das war auch ein Moment, wo ich gedacht habe, dass ich selbst politisch aktiv werden muss. Ich weiß, dass es empowered ist, sich selbst in der Politik und in den Parlamenten repräsentiert zu sehen. Und gleichzeitig ist es für uns nach wie vor eine sehr schwere Aufgabe, weil natürlich die Strukturen in der Politik gar nicht auf Diversität so ausgelegt sind.
Politik muss divers sein, um zu guten Entscheidungen zu kommen, die möglichst viele Menschen abbilden.
Nyke Slawik
Sondern?
Sie sind nach wie vor sehr stark auf Wettbewerb ausgelegt und davon profitieren eher Leute, die sehr gesund sind, die viele Ressourcen haben, auch ökonomisch gesehen. Die langen Sitzungen oder die Art und Weise, wie bei uns die Termine im Parlament gelegt werden, sind nicht familienfreundlich. Aber es bricht alles mehr und mehr auf. Ich sehe sehr viele junge Kolleg*nnen mit Kindern hier. Die Geschäftsordnung wurde endlich so geändert, dass Säuglinge auch mit in den Plenarsaal dürfen. Politik muss divers sein, um zu guten Entscheidungen zu kommen, die möglichst viele Menschen abbilden.
Was muss sich noch verändern innerhalb dieser Strukturen?
Es kommt natürlich darauf an, über welche Art von Diversität wir hier sprechen. Es können Dinge wie eine Arbeitsassistenz für einzelne Personen sein, die Vereinbarkeit von Familie und Mandat, aber auch so etwas wie Psychohygiene. Es kann eine große psychische Belastung für Menschen sein, wenn sie als Teil einer marginalisierten Gruppe ständig mit menschenfeindlichen Aussagen konfrontiert werden.
Wie gehen Sie um mit Hass und Diskriminierung?
Ich finde es wichtig, dass wir uns als Parlament, dass wir uns als Demokrat*innen darauf verständigen, dass wir kontroverse Debatten wollen und dass Kritik und kritische Auseinandersetzungen gut für die Demokratie sind. Aber dass wir ganz klar dort die Grenze ziehen müssen, wo Menschen aufgrund ihrer Identität diffamiert werden. Leider nimmt der Populismus zu, Parteien machen gezielt Stimmung durch Unwahrheiten gegenüber verschiedenen Menschengruppen, ob das geflüchtete oder queere Menschen sind. Es braucht einen Aufstand der Anständigen in der Demokratie, die sich genau dagegen wehren und sagen, das möchten wir nicht.
Und auf der persönlichen Ebene?
Ich versuche, mich davon abgrenzen, Zeit für mich zu nehmen, in der ich das verarbeiten und mal tief durchatmen kann. Ich fahre in Berlin sehr viel mit dem Fahrrad – auf dem Weg in den Bundestag und nach Hause trete ich nur die Pedale und bin ganz bei mir.
Sie haben sich 2022 eine Auszeit genommen und in den Sozial Medien ganz offen über Ihre psychische Gesundheit kommuniziert, was für Politiker*innen immer noch ein Tabuthema ist.
Auf jeden Fall. Menschen, die eine psychische Erkrankung entwickeln oder in einer mentalen Notsituation sind, haben sehr viel mit Gefühlen von Scham zu tun, fühlen sich isoliert – mir ging es ähnlich. Als ich das öffentlich gemacht habe, war das für mich auch eine Form der Befreiung und es hat mir geholfen, da rauszukommen.
Wie blicken Sie aus heutiger Sicht auf diese Zeit?
Sehr viele Gespräche wären vermutlich niemals entstanden, wenn ich das nicht so offen thematisiert hätte. Ich wünsche mir, dass wir in der Politik oder auch in anderen Arbeitsfeldern normalisieren, dass wir alle Gefühle haben und dass wir auch über diese Gefühle reden müssen. Das ist ein ganz wichtiger Teil des Menschseins. Die Politik ist immer noch so ausgerichtet, dass Gefühle als Schwäche gelesen werden können. Ich sage können. Das gilt es, aufzubrechen.
Welche Rolle spielt Allyship in diesem Kontext für Sie?
Es gab viele Allies auf meinem Weg und ich bin sehr dankbar dafür. Ich hätte meinen Weg in den Bundestag nicht geschafft, ohne die tollen Menschen in meiner Partei, die sich hinter mich gestellt haben. Die Grünen sind aus der Frauenbewegung und aus der Lesben- und Schwulenbewegung hervorgegangen – das wirkt bis heute nach. Wir besetzen unsere Plätze paritätisch, wir haben uns mit verschiedenen Vielfaltsperspektiven auseinandersetzt. Allyship bedeutet für mich, solidarisch zu sein mit Menschen, die aufgrund einer vermeintlichen Norm, der sie nicht entsprechen, Diskriminierung erfahren. Und sich, unabhängig unserer verschiedenen Diversitätsmerkmale, unserer Lebensgeschichten, zu verbünden.
Veränderung passiert nicht von allein. In welchem Verhältnis stehen Aktivismus und Politik für Sie?
Es gibt viele Überschneidungen – wir als Abgeordnete sind ja auch nicht erst seit unserem ersten Tag im Bundestag politisch aktiv. Viele Abgeordnete in der aktuellen Legislaturperiode haben einen aktivistischen Hintergrund. Aktivismus und zivilgesellschaftliches Engagement sind sehr wichtig für uns als Politik, da beides unabhängig von Verhandlungen in Koalitionen oder der Frage, wie wahrscheinlich es ist, zeitnah eine Mehrheit für die Position zu bekommen, passiert. Beides macht auf Themen aufmerksam, die wichtig sind und die Menschen bewegen – da liegt sehr viel Kraft drin.
Möchten Sie noch einen Link zu einem Song oder einem Artikel teilen, der Sie zuletzt begeistert hat?
Die letzten zwei Wochen habe ich den ABBA Song „Angel Eyes“ rauf und runter gehört. Ein Ausschnitt davon war zuletzt viel auf Social Media in Reels und TikToks zu hören, deswegen hatte ich einen Ohrwurm davon. Generell höre ich zwischen Terminen, wenn ich durchs Regierungsviertel laufe, gerne ein bisschen Musik. Das entspannt mich an stressigen Tagen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
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