„Die German Angst muss abgelegt werden.“ Im Gespräch mit Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen

Jürgen Dusel trägt ein weißes Hemd und einen blauen Blazer. Hinter ihm ist ein altes Steingebäude zu sehen - aus dem einen Fenster hängt eine Regenbogenflagge.
Ist überzeugt davon, dass die Demokratie Inklusion braucht - Jürgen Dusel. Credit: Behindertenbeauftragter/ Foto: Thomas Rafalzyk.
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Sein Motto lautet „Demokratie braucht Inklusion“. Wie schwierig es ist, Inklusion als Menschenrecht nachhaltig in der Politik zu verankern, was alles schon erreicht wurde in Sachen Gleichstellung und warum Musik ihm hilft, die Balance zu wahren – darüber spricht Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, mit Redakteurin Carolin Schmidt.

Carolin Schmidt (Die Neue Norm): Wie geht es Ihnen heute und wie blicken Sie auf die Sommerpause?

Jürgen Dusel: Mir geht es richtig gut. Mit Blick auf den Urlaub geht es mir noch viel besser (lacht).

In einem Ihrer letzten Instagram-Posts sprechen Sie mit der tauben Abgeordneten Heike Heubach, die im März in den Bundestag eingezogen ist. Wie nehmen Sie das Thema Vielfalt im Bundestag und auch generell in der Politik wahr?

Es gibt Menschen mit ganz unterschiedlichen Vielfaltsmerkmalen in der Politik. Aber Menschen mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen sind immer noch unterrepräsentiert. Da ist Heike Heubach als taube Frau im Parlament ein Role Model. Aber das ändert nichts daran, dass noch viel zu wenig Menschen mit Behinderungen in den Landesparlamenten, Stadtparlamenten oder im Kreistag vertreten sind. Und dass sie als „Spezialist*innen für die Behindertenpolitik“ wahrgenommen werden und nicht mit ihren jeweiligen Interessensgebieten. Da haben wir ein Defizit in Deutschland und das ist schade, weil die Perspektive dieser Menschen fehlt.

Wie sehr muss eine Person einer gewissen „Norm“ entsprechen und wie kann die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auch auf politischer Ebene verbessert werden?

Das politische System, egal ob Bund, Länder oder Kommunen, ist nicht gut vorbereitet für Menschen mit Behinderungen. Das gilt auch für das Bildungssystem, Hochschulen oder die Infrastruktur in der Mobilität. Deshalb sind die Hürden besonders hoch. Die Abläufe in den Parlamenten sind nicht barrierefrei. Es gibt nicht genug Gebärdensprachdolmetschung, Arbeitsassistenzen, Dokumente in Braille, im Großdruck, in leichter Sprache. Das ist nicht nur ungerecht, sondern ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 29. 

Sind Sie durch diese Themen politisiert worden?

Ich bin durch die Friedensbewegung der 1980er Jahre politisiert worden, den NATO-Doppelbeschluss, die Frage des Wettrüstens, die Präsidentschaft von Ronald Reagan. Durch zwei Lehrer*innen von mir, der eine war als Jugendlicher am Ende des 2. Weltkrieges in einem russischen Arbeitslager, die andere ist Jüdin, habe ich viel über den Wert der Demokratie gelernt und über die Verantwortung, die wir als Menschen für sie tragen. Vielleicht resultiert aus alledem mein Motto „Demokratie braucht Inklusion“.

Porträt-Foto von Jürgen Dusel. Er trägt ein weißes Hemd und einen dunkelblauen Blazer und lächelt in die Kamera. Seine Arme sind vor dem Bauch verschränkt.

Jürgen Dusel

ist seit Mai 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Zuvor war der Jurist mehrere Jahre Beauftragter der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderungen in Brandenburg. Dusel ist von Geburt an stark sehbehindert. Seine gesetzliche Aufgabe ist es gemäß Behindertengleichstellungsgesetz, „darauf hinzuwirken, dass die Verantwortung des Bundes, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird“. Das Motto seiner Amtszeit lautet: „Demokratie braucht Inklusion“.
Foto: Thomas Rafalzyk.

Gab es bei Ihnen spezifische Maßnahmen oder Unterstützungssysteme, die Ihnen geholfen haben, diesen Weg in die Politik zu gehen?

Eigentlich gar nicht. Ich war erst auf einer Grundschule für sehbehinderte Kinder und danach auf einer Regelschule. Nach dem Abi habe ich lange überlegt, ob ich Musik, Literatur oder Psychologie studieren soll, bevor ich mich für Jura entschieden habe. Ich war noch in keiner Selbstvertretung involviert, obwohl mein Vater selbst auch mit einer Behinderung gelebt hat. Erst während des Studiums habe ich mich für Verfassungsrecht und Sozialrecht interessiert, das ist die fachliche und politische Basis für mein Tun.. Und ich habe neben meiner Begeisterung für diesen Job noch viele weitere Interessen, die mir helfen, die Balance zu wahren. 

Stellen Sie sich vor, wir leben in einer inklusiven Gesellschaft, die UN-BRK ist erfolgreich umgesetzt. Welchem Thema würden Sie sich gerne widmen, abseits von Inklusion und Barrierefreiheit?

Dann würde ich mich gerne mehr im internationalen Bereich engagieren. Die Umsetzung der UN-BRK ist nur ein Punkt. Ich mache mir Sorgen, was die internationalen Beziehungen und den Multilateralismus betrifft, da derzeit autoritäre Systeme erstarken. Abseits der Politik würde ich gerne wieder mehr Musik machen, mit Freund*innen die Alpen überqueren und auch literarisch tätig sein. 

Für mich war die Musik der Weg zur Inklusion. 

Spielen Sie ein Instrument?

Ja, ich habe mit vier Jahren angefangen, Klavier zu spielen und habe sehr viel Jazz gemacht. Ich habe das absolute musikalische Gehör, was echt ein Fluch und ein Segen ist. Und ich spiele auch ein paar andere Instrumente. Zusammen mit anderen Musik zu machen, ist ein großes Glück. Für mich war die Musik der Weg zur Inklusion. 

Können Sie das in Ihre Arbeit integrieren?

Ja, etwa durch offene Formate wie unsere Reihe „Kultur im Kleisthaus“, zu der wir einladen. Die kostenfreien und barrierefreien Veranstaltungen sind für mich eine große Freude und eine tolle Alternative zu den „Gesetzeskämpfen“, die wir teilweise führen. Ende des Jahres werden wir hier zum Beispiel den Hornisten Felix Klieser zu Gast haben, dieser Musiker hat keine Arme und spielt das Horn mit den Füßen, und das in den größten Konzerthäusern der Welt.

Ihr Motto ist „Demokratie braucht Inklusion“ – wie wichtig ist diese Perspektive hinsichtlich des Rechtsrucks in Europa?

Sehr wichtig! Was mich doch zuversichtlich macht: In der G7 entsteht ein Disability Mainstreaming. Das Thema Inklusion ist in das Abschlussdokument der Staatschef*innen aufgenommen worden. Im Oktober findet ein G7-Gipfel der Minister*innen, die für das Thema Menschen mit Behinderungen und Inklusion zuständig sind, in Perugia statt. Darauf sind wir stolz – das sage ich, weil mein Team und ich 2022 den ersten G7-Gipfel zum Thema Menschen mit Behinderungen hier in Berlin organisiert haben. Das bewirkt etwas auf einem ganz anderen Level.

Wie nachhaltig sind diese Beschlüsse?

Es wird jetzt darum gehen, die Verantwortlichen bei ihrem Wort zu nehmen. Inklusion ist die beste Prävention gegen Demokratiefeindlichkeit. Das ist viel mehr, als nur die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Inklusion macht eine Gesellschaft resilienter. Mir geht es wirklich darum, mein Motto immer wieder stark zu machen. Und das gilt nicht nur in Deutschland, sondern überall.

Es gibt viel Gegenwind gegen inklusive Maßnahmen, wie jetzt zuletzt auch durch die AfD zur Tagesschau in einfacher Sprache.

Die Leute, die ein Problem mit der Demokratie haben, haben meistens auch ein Problem mit Inklusion. Das ist teilweise ein klarer Tabubruch, der vollzogen wird. Offensichtlich ist es in Deutschland immer noch gesellschaftlich akzeptabel, dass Menschen mit Behinderungen systematisch benachteiligt werden, statt unsere Systeme so aufzubauen, dass alle davon profitieren können. Ich bin manchmal so ein bisschen ratlos, womit das zusammenhängt. Deswegen ist meine Position, immer wieder klarzumachen, dass es bei Inklusion nicht um etwas Ideologisches geht, sondern um die Umsetzung von Menschenrechten. Und dass wir eine große Verantwortung haben als Deutsche mit der Shoa und mit T4. Es ist weiterhin erforderlich, dass Selbstvertretungen, Communities und politisch Verantwortliche dranbleiben und nicht locker lassen. 

Das klingt nach einem langen Prozess. Mit welchem Streitpunkt haben Sie sich zuletzt auseinandergesetzt?

Da gibt es viele (lacht). Es ist mein Job, darauf hinzuwirken, dass der Bund seine Verpflichtung, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen, auch einhält. Das bedeutet, dass ich unbequem sein muss. Der letzte große und leider immer noch aktuelle Streitpunkt ist, ob man private Anbieter*innen von Produkten und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit verpflichten soll. Und ich sage natürlich ja, weil Menschen mit Behinderungen nicht nur ins Rathaus, sondern auch ins Restaurant, ins Kino oder zur Ärztin gehen. Es gibt Politiker*innen, die das anders sehen, auch wenn es in anderen Ländern schon Gesetz ist. 

Wo bleiben die im Koalitionsvertrag versprochenen Reformen für mehr Barrierefreiheit – der Entwurf für die Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes?

Das ist genau der Punkt – und eine Frage der Glaubwürdigkeit der Regierung: Das BGG muss diese Verpflichtung zur Barrierefreiheit jetzt regeln, die Politik muss endlich liefern! Hubertus Heil hat den Entwurf bereits vor Monaten angekündigt, die Koalition muss sich jetzt endlich einigen. Ich erwarte auch vom Justizminister, dass die Reform des AGG nicht ein leeres Versprechen bleibt.

Es ist wichtig für die eigene Psychohygiene, auch das zu sehen, was wir erreicht haben.

Wie erklären Sie sich dieses Zögern?

Ich glaube, es ist eine German Angst, die abgelegt werden muss. Da spielt auch Ideologie eine Rolle. Es gibt ein Unverständnis, dass Teilhabe ein Rechtsanspruch ist, hier müssen die Prioritäten justiert werden. In unserem Grundgesetz steht „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Das löst ein Leistungsrecht aus, wie wir beim Thema Triage durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gesehen haben. Am Ende des Tages zählt, was wir durchgesetzt bekommen, wo wir Mehrheiten erkämpfen. Das bedeutet auch, Kompromisse einzugehen in der Hoffnung, dass es einen nächsten Schritt geben wird. Das ist manchmal sehr mühsam und braucht eine hohe Frustrationstoleranz. Andererseits ist es wichtig für die eigene Psychohygiene, auch das zu sehen, was wir erreicht haben.

Was war da Ihr Highlight?

(Überlegt) Ich könnte jetzt sagen, vierte Stufe Ausgleichsabgabe, weil wir das schon so lange gefordert haben, aber das ist es gar nicht. Mein Highlight ist das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz – nicht gerade Leichte Sprache. Das ist jetzt durchs Kabinett gegangen und im parlamentarischen Verfahren, ist also noch nicht beschlossen. Aber ich hoffe sehr, dass der Bundestag als Gesetzgeber das beschließt. 

Was wird dadurch verändert?

Es wird dazu führen, dass die Hilfsmittelversorgung von Kindern und Erwachsenen sich deutlicih verbessert, weil bei Verordnungen durch Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) oder Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) die Krankenkassen diese ohne lange Überprüfung genehmigen müssen. Gerade für viele Eltern von Kindern mit schweren Behinderungen wird das ein unglaublicher Fortschritt sein, weil nervige und zeitraubende Auseinandersetzungen damit Geschichte sind.

Gibt es einen Link, den Sie mit uns teilen wollen, zu einem Song, einem Artikel oder einem Video, das Sie zuletzt erfreut hat?

John Lennon’s Song Imagine begleitet mich schon lange und berührt mich immer noch sehr.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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Eine Antwort

  1. “Ich mache mir Sorgen, was die internationalen Beziehungen und den Multilateralismus betrifft, da derzeit autoritäre Systeme erstarken.”

    Das habe ich nicht verstanden. Herr Dusel ist doch der, der gegen internationale Rechte, 1948 kommend von der WHO, 1951 anerkannt von Deutschland, bis eindeutig in die Zukunft besteht verstößt und indirekt deutlich sagt” WHO, ihr könnt mich mal. Ich schreibe dass, was von Euch seit 1948 kommend, um was mir nicht passt für Deutschland. Und dass ich dabei gegen Art. 8 Abs 1b UN-BRK verstoße ist mir auch total egal. Nationales Recht von einer kleinen Gruppe in Deutschland steht über internationalen, seit Jahrzehnte anerkannten Recht. Ich, der Behindertenbeauftragter der Bundesregierung halte mich an nichts und mache mein eigenes Ding für Deutschland. Egal ob es bestimmten deutschen Gruppen auch Ihre Rechte mit und ohne Behinderung wegnimmt – mir egal. Ich ziehe das durch was ich will – scheißauf Jahrzehnte internationale Rechte und Rechte von bestimmten Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderung.”

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