Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 64: „USA“
Karina: Was mich total bewegt hat aus einem Interview mit einer Person in den USA, die auch einen Rollstuhl nutzt, ist, dass bevor es da offiziell Rechte für Menschen mit Behinderung gab, musste die Person irgendwie Stunden damit verbringen, Pizzerien durchzutelefonieren und zu interviewen, um rauszufinden, ob die überhaupt barrierefrei sind.
Jonas: Herzlich willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Zu hören, wie immer, auch in der ARD-Audiothek. Was in den USA passiert, bleibt nicht in den USA. Besonders, wenn es um Behindertenpolitik geht. In dieser Folge schauen wir auf die aktuellen politischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und was sie für Menschen mit Behinderung in den USA und bei uns bedeutet. Vom Rückbau jahrzehntelanger Rechte bis zur möglichen Abschaffung von Medicaid und Medicare und warum auch Deutschland jetzt genau hinsehen sollte. Bei mir sind Karina Sturm und Raúl Krauthausen.
Raúl und Karina: Hallo.
Jonas: Mein Name ist Jonas Karpa. Ja, wenn wir in die USA blicken, Raúl, du als langjähriger Aktivist und eine Person, die ja häufig, denke ich mal, wenn du auf Bühnen bist und Vorträge hältst und gefragt wirst, ja, was sind denn so andere Länder, wo es vielleicht irgendwie besser läuft? Welche Länder können wir uns als Vorbild nehmen? Wie schaust du aktuell in die USA?
Raúl: Ich schaue tatsächlich mit großer Sorge in die USA. Auch wenn sie viele fortschrittliche Gesetze in den letzten Jahrzehnten verabschiedet haben, scheint es für behinderte Menschen auch sehr schwierig gewesen zu sein, schon in der Vergangenheit, wenn es um Katastrophen und Katastrophenschutz ging und jetzt eben ganz aktuell unter einem Präsidenten Trump, der anfängt, nach und nach komplett Sozialleistungen wegzukürzen und angefangen hat, soweit ich mich erinnern kann, in der zweiten Amtszeit, die massive Kürzung der Inklusionsvorhaben im Bildungsbereich und jetzt geht es weiter mit medizinischer Versorgung. Das ist richtig, richtig gruselig.
Jonas: Karina, du hast lange Zeit auch in den USA gelebt. Wir haben das auch schon mal thematisiert in unserem Podcast, wo wir über internationalen und weltweite Inklusion gesprochen haben. Du warst damals in den USA noch quasi vor der Trump-Ära, aber bist ja auch trotzdem manchmal, glaube ich, noch regelmäßig dort. Wie hast du das damals in den USA erlebt? War das für dich so das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, was man ja häufig immer so sagt?
Karina: Ja und nein. Also ich war tatsächlich auch schon drüben, als Trump das erste Mal Präsident war. Da hat er aber ja noch nicht so viele schlimme Dinge gemacht wie jetzt, obwohl sich das ja auch schon ein bisschen abgezeichnet hat. Aber ich war sehr privilegiert, weil ich in Kalifornien gelebt habe. Und aus Kalifornien, also spezifisch aus Berkeley, kam ja auch so ein bisschen die selbstbestimmte Lebenbewegung und so. Also Kalifornien ist allgemein ein sehr diverser, inklusiver Staat. Aber was mich total geflasht hat irgendwie, war zum Beispiel, als ich herausgefunden habe, dass ich in den USA ganz viele Barrierefreiheitssachen durchsetzen kann und darf und dass das sogar eigentlich quasi gewollt ist, dass man auf den Tisch haut und sagt, so, jetzt macht das mal anders. Zum Beispiel habe ich irgendwann gemerkt, dass ich eigentlich, wenn ich in einen Laden gehe, wo es eigentlich keine öffentliche Toilette gibt, ich aber eine chronische Erkrankung habe und akut eine Toilette brauche, die Menschen in Kalifornien, die in diesen Läden arbeiten, mich eigentlich auf deren Toilette gehen lassen müssen. Das ist gesetzlich so vorgeschrieben. Und das fand ich zum Beispiel irgendwie mindblowing. Weil in Deutschland habe ich das so ganz oft, auch im Supermarkt, dass ich irgendwie ganz dringend eigentlich zur Toilette müsste. Und alle sagen so, ja, nee, ist halt nicht. Wir haben keine Kundentoilette.
Jonas: Genau. Also du kannst theoretisch mit deinem schwerbehinderten Ausweis den quasi sozusagen vorzeigen und sagen, guten Tag, machen Sie mal bitte die Klotür auf.
Karina: Ja, man muss nicht mal wirklich rechtfertigen. Das gilt zwar nicht in allen Staaten. Also das ist irgendwie ein Gesetz, das nur in verschiedenen durchgesetzt worden ist. Aber Kalifornien war eben einer davon und ich wusste das vorher gar nicht. Ansonsten hätte ich das natürlich sofort durchgesetzt.
Jonas: Spannend, weil du gesagt hast, diese Haltung von auf den Tisch hauen und dieses Einfordern und Anklagen oder auch Verklagen ist ja das, was man häufig auch jetzt nicht nur in behindertenpolitischer Sicht irgendwie hört. Aber dieses, dass wenn auf einem Schokoriegel nicht draufsteht, dass der dazu führen kann, dass man vielleicht irgendwie an Körpergewicht zunimmt, dann ist es auch etwas, worauf man irgendwie dann nochmal klagen könnte. Also dieses, in den USA hat man manchmal so das Gefühl, dass sehr viel dann aufgrund dessen eben auch abgesichert wird. Aber es eben auch natürlich dann sehr vielleicht kund*innenorientiert ist und man eben dahingehend viele Möglichkeiten hat.
Karina: Ja, also ich hatte auch den Eindruck, dass man zunächst mehr Möglichkeiten hat, Dinge durchzusetzen. Und das hat natürlich auch wieder eine andere Seite, weil diese Klagekultur manchmal schon wirklich weit geht. Also da gab es auch ein Beispiel aus San Francisco, da ist eine junge Person, ein bisschen angetrunken, auf so ein Denkmal geklettert und runtergefallen und ganz doof gefallen und hat halt dann danach, saß im Rollstuhl und hat dann halt die Stadt verklagt, weil da kein Schild stand, dass man da nicht draufklettern darf. Und ich habe schon verstanden, auch wo das herkommt, weil also auf der anderen Seite ist das medizinische oder das Gesundheitssystem extrem teuer in den USA. Wenn du Operationen brauchst, Medikamente oder sonst was, irgendwo muss das Geld herkommen. Aber gleichzeitig ist es halt auch ein bisschen Eigenverantwortung, wo man so hochklettert und ja, naja.
Jonas: Jetzt ist es natürlich so, dass wir hier in Deutschland sind und sozusagen über den großen Teich gucken und schauen, was gerade in den USA abgeht. Und das natürlich relativ schwer ist, das einzusortieren bzw. das nachzuempfinden, weil wir eben nicht vor Ort sind. Und deswegen haben wir in dieser Podcast-Episode Interviews geführt, bzw. du, Karina, hast drei Interviews geführt mit Aktivist*innen aus den USA. Diese Interviews sind auch ein bisschen länger und ausführlicher, um auch nochmal einen besseren Eindruck zu bekommen, was dort gerade behindertenpolitisch passiert und was auch über die anderen Diversitätsmerkmale Leute da gerade für Einschränkung wieder erleben. Und genau da. Lass uns doch erstmal in das erste Interview reinhören.
Karina: Genau, ich habe ein Interview mit Jim LeBrecht geführt. Jim ist Regisseur oder Co-Regisseur von Crip Camp. Das ist eine ganz tolle Doku, die die behinderten oder die moderne Behindertenrechtsbewegung in den USA dokumentiert, die auch fast einen Oscar gewonnen hat. Und genau mit Jim habe ich über die ADA, die Entstehung der ADA und was es bedeutet, wenn tatsächlich die ADA abgeschafft wird, gesprochen.
Jonas: Die ADA sind die, kann man das so sagen, die Behindertenrechte zusammengefasst in den USA?
Karina: Also das steht für Americans with Disabilities Act.
Jonas: Gut, hören wir da mal rein.
[Interview mit Jim LeBrecht]
Karina: Hi Jim, Mensch, ich freue mich total, mit dir zu sprechen und dich endlich mal persönlich zu sehen.
Jim: Hi Karina, es ist echt schön, mit dir zu sprechen.
Karina: Vielen, vielen Dank, dass du heute mit dabei bist. Wir wollen ja ein bisschen über die ADA sprechen, ein Thema, mit dem die meisten Deutschen wahrscheinlich überhaupt nicht so viel anfangen können. Kannst du mir erklären, was genau der Americans with Disabilities Act ist und wie er durchgesetzt wurde und welche Rolle du dabei gespielt hast?
Jim: Also ADA steht für Americans with Disabilities Act. Das ist ein US-amerikanisches Bundesgesetz, das 1990 verabschiedet wurde und es verbietet Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Das Schöne an Behinderungen ist ja, dass sie alle gesellschaftlichen Schichten betrifft. Ich bin Co-Regisseur der Doku Crip Camp. Den Film habe ich zusammen mit meiner Freundin Nicole Newham gemacht. Sie ist eine fantastische Filmemacherin. Und in dem Film geht es viel um die Vorgeschichte des ADA, nämlich um die sogenannten 504-Regelungen. Die besagten, wenn du staatliche Fördermittel bekommst, darfst du Menschen mit Behinderungen nicht diskriminieren. Ich habe miterlebt, wie sowohl die 504-Regelungen als auch der ADA Realität wurden und wie sich dadurch mein Umfeld verändert hat. Aber mein Aktivismus selbst ging nie so weit. Ich war damals im College, als der Sit-In für die 504-Regelungen stattfand. Der dauerte 26 Tage. Ich lebte in Berkeley, dem Zentrum der US-Behindertenbewegung. Leute wie Judy Heumann, die als Mutter der modernen Behindertenrechtsbewegung gilt, waren meine Freundinnen. Ich habe mich schon weiterhin engagiert, aber nicht in dem Ausmaß wie andere.
Karina: Lass uns nochmal kurz zurückgehen. Du hattest gesagt, dass sich mit dem ADA oder auch schon mit den 504-Regelungen einiges für dich verändert hat. Magst du mal kurz erzählen, wie das vorher war und was sich dann danach konkret für dich verändert hat? Also was hat sich für dich persönlich dadurch getan?
Jim: Wo fängt man da an? Was für mich den größten Unterschied gemacht hat, waren auf jeden Fall die baulichen Veränderungen. Ich bin Rollstuhlfahrer, wurde mit Spina bifida geboren, konnte nie laufen, war also immer im Rollstuhl unterwegs. Und das war eben noch die Zeit vor abgesenkten Bordsteinen, vor barrierefreien Toiletten. Das sind so die ersten zwei Dinge, die mir sofort einfallen. Es gab keine Behindertenparkplätze, also nichts von dem, was man heute vielleicht als Vorteile sehen würde, obwohl Vorteile irgendwie das falsche Wort ist. Aber wenn ich heute mit einem Behindertenparkausweis unterwegs bin, habe ich zumindest eine Chance, irgendwo zu parken. Damals nichts davon. Und auch der öffentliche Nahverkehr war für mich komplett unzugänglich. Als ich dann an der Uni war, in San Diego, und die 504-Regelungen gerade verabschiedet wurden, war ich Teil eines Planungsteams auf dem Campus. Wir haben entschieden, welche baulichen Barrieren zuerst angegangen werden. Zum Beispiel, wo braucht’s dringend Rampen zu den Toiletten? An welchen Orten würden wir anfangen? Damit ging’s los. Als Teenager oder junger Erwachsener musste man vorher überall anrufen. Immer dieselbe Fragerei. Sind Sie rollstuhlgerecht? Ja. Wir sind im Erdgeschoss. Gibt’s Stufen? Ja, eine. Macht das was? Ähm, ja. Und wie sieht’s mit der Toilette aus? Die ist eine Etage tiefer, nur über Treppen erreichbar. Man musste echt jedes Mal das ganze Restaurant ausfragen, nur um ‘ne Pizza essen zu gehen. Ich hab damals in Berkeley gelebt, einem der Zentren der Behindertenbewegung. Das war schon besonders. Vor allem nach dem ADA war es plötzlich möglich, sich einfach frei zu bewegen, ohne vorherzig Anrufe. Und es ging nicht nur um Barrieren im physischen Sinn, sondern auch um Haltungen. Menschen mit Behinderung waren einfach nicht so Teil der Gesellschaft, wie sie es in Berkeley waren. Viele Menschen mit Behinderung sind gerade wegen der Barrierefreiheit und der Community nach Berkeley gezogen, auch weil man hier leichter persönliche Assistenz findet. Aber wenn ich dann zum Beispiel quer durchs Land gefahren bin und irgendwo essen gehen wollte, war es oft total merkwürdig. Die Leute wussten gar nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Statt mich direkt anzusprechen, haben sie die Person neben mir gefragt, wo möchte er sitzen oder was möchte er essen? Und ich glaube, je mehr Barrieren abgebaut wurden und je mehr Menschen Arbeit finden konnten, Wohnungen bekamen, weil sie eben nicht mehr diskriminiert wurden, desto mehr wurden wir Teil der Gesellschaft. Und dann kamen Dinge wie Untertitel im Fernsehen, für mich persönlich nicht so wichtig, aber für taube Menschen oder Menschen mit Hörbeeinträchtigung ein riesiges Thema, oder Audiodeskription im Film. Alle diese Formen von Barrierefreiheit sind nach und nach entstanden. Und ich würde auch sagen, mit den Gesetzen und der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung kam dann irgendwann auch Bewegung in Themen wie Diversität, Inklusion und Gleichberechtigung, also DEI. Und da wurde Behinderung schließlich auch mitgedacht. Ich glaube, das alles hat sich gegenseitig beflügelt und vorangebracht.
Karina: Soweit ich weiß, hat der ADA ja auch das Recht gegeben, vor Gericht zu ziehen, oder? Also wirklich einzufordern, dass Dinge barrierefrei und inklusiv sein müssen. Und das war ja auch ein ziemlich großer Schritt, oder?
Jim: Man konnte ein Unternehmen verklagen oder zum Beispiel sagen, ich werde in meinem Job immer wieder übergangen, bekomme keine Beförderung, ich glaube, ich werde diskriminiert. Und das war ein echter Fortschritt. Aber heute wird ganz offen darüber gesprochen, diesen Schutz wieder abzubauen. Die 504-Regelungen sagen ja, wenn du staatliche Gelder bekommst, darfst du nicht diskriminieren. Jetzt gibt es eine Klage dagegen, eingereicht von 17 US-Bundesstaaten. Jeder Bundesstaat hat einen eigenen Generalstaatsanwalt. Und diese Klage läuft noch. Wenn das durchgeht, könnte es sein, dass Barrierefreiheit an einer Uni oder in einem Krankenhaus plötzlich nicht mehr garantiert ist. Dass man sie nicht mehr einklagen kann. Und das wäre ein riesiger Rückschritt. Die Konservativen hier im Land wollen den ADA eigentlich schon immer abschaffen. Sie fanden ihn zu aufwendig, zu viel Bürokratie. Dabei sind das Regelungen, die am Ende allen helfen. Und was gerade auch wirklich ernst ist, ich bin sicher, dass viele darüber sprechen, sind die Angriffe auf Medicare und Medicaid.
Karina: Ja genau, ich habe neulich erst mit einer Freundin darüber gesprochen, weil sie darauf angewiesen ist. Sie hat echt Angst um ihr Leben. Also sie wird wahrscheinlich sterben, wenn sie keine medizinische Versorgung mehr bekommt.
Jim: Und das ist auch gar nicht übertrieben. Sie meint es wirklich ernst. Und das ist auch der Grund, warum ich beim Film arbeite. Ich hoffe, dass Menschen durch gute Filme und Serien verstehen, dass wir nicht nur da sind, weil wir unsere Behinderung überwunden haben oder als Inspiration dienen. Ich hoffe, dass die Empathie und das Verständnis gegenüber solcher Menschen wie deiner Freundin wächst und dass mehr Menschen richtig wütend darüber werden, dass anderen die Unterstützung genommen wird, die sie zum Leben brauchen. Wir haben jahrelang dafür gekämpft, dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr in Heimen leben müssen. Und jetzt droht uns, dass sie uns dort wieder reinstecken.
Karina: Du hast ja gesagt, dass die schon versucht haben, die 504-Regelungen zu kippen. Aber welche weiteren Bedrohungen gibt es denn für den ADA? Also wollen die wirklich den ganzen ADA am Ende komplett abschaffen? Ist sowas überhaupt möglich? Kann das passieren?
Jim: Was gerade passiert ist, dass in Bereichen wie Bildung und Gesundheitsversorgung massenhaft Leute entlassen werden, selbst wenn sie die Abteilungen nicht komplett schließen, wird einfach so stark gekürzt, dass sie kaum noch effektiv arbeiten können. Ob sie es schaffen werden, das wird sich zeigen. Aber soweit ich das verstehe, gehört das zum langfristigen Plan der Leute, die gerade an der Regierung sind. Das, was mich wirklich, wirklich wütend macht, unsere Community muss immer wieder auf die Straße gehen, demonstrieren, um klarzumachen, dass unsere Leben zählen.
Karina: Ja klar, aber wie frustrierend ist das vor allem für deine Generation? Also du warst ja schon damals dabei, als der ADA beschlossen wurde und sich wirklich was verbessert hat. Und jetzt steht ihr vielleicht wieder genau da, wo ihr ganz am Anfang wart.
Jim: Das ist eine wunderbare Frage. Es fühlte sich eine Zeit lang so an, als würde sich stetig alles verbessern, immer weiter und weiter. Zum Beispiel hat der Verkehrsminister Pete Buttigieg letztes Jahr einige neue Regeln durchgebracht, die die Strafen für Fluggesellschaften verschärfen, wenn sie Rollstühle kaputt machen oder zu spät zurückgeben, nachdem man ins Flugzeug gestiegen ist. Und kaum war Trump im Amt, haben viele Fluglinien geklagt, um diese Regeln wieder rückgängig zu machen.
Karina: Ich finde das unglaublich, weil ja viele Länder, also auch Deutschland, sich ganz viel an den USA und dem ADA orientiert haben. Das war irgendwie damals nur dieser Vorbild und jetzt sieht man sowas und das ist einfach unfassbar. Ehrlich gesagt, mir fehlen da wirklich die Worte.
Jim: Ja, das stimmt. Genau das Faszinierende daran ist, dass der ADA für viele andere Länder ein Vorbild war. Aber man muss verstehen, was gerade passiert. Es ist wie ein Strom von Ereignissen. Jeden Tag neue schlimme Sachen. Staatsbürger werden abgeschoben. Menschen werden buchstäblich von der Straße weg mitgenommen. Wir sagen immer, sowas kann hier nie passieren. Doch es passiert hier. Es passiert wirklich hier.
Karina: Und was unternimmt denn die Community gerade, um irgendwie damit klar zu kommen und gleichzeitig ihre Rechte zu schützen?
Jim: Es gibt eine Reihe von Organisationen, die vor Gericht alles tun, was sie können. Zum Beispiel die Organisation Disability Rights Education and Defense Fund, bekannt als DREDF. Viele der Gründer von DREDF waren maßgeblich an der Ausarbeitung des ADA beteiligt und sie sind weiterhin aktiv. Es gibt auch andere Organisationen, die sich engagieren. Und ich glaube, dass die jüngere Generation, und das lässt mich ganz alt fühlen, dass es wirklich an ihnen liegt, richtig Lärm zu machen und laut zu werden.
Karina: Also quasi die nächste Generation, die die ADA retten muss.
Jim: Ich denke immer, ich kann helfen, das zu organisieren, oder ich kann das machen, oder die Leute kennen mich, also werde ich laut. Und ich habe gemerkt, dass ich versucht habe, im Grunde alles auf einmal zu machen. Ich musste wirklich in mich gehen, um herauszufinden, welche Rolle ich heute habe. Ich glaube, ich bin eine Ressource für andere Menschen, die diese Arbeit tun, über meine Erfahrungen, mein Wissen, meine Geschichte zu sprechen und die Leute an unsere Geschichte zu erinnern. Wir sind eine sehr widerstandsfähige und sehr kluge Community. Und ich möchte die Leute ermutigen. Diese Zeiten sind wirklich beängstigend. Und ich ermutige alle, sich gegenseitig zu unterstützen. In der Gemeinschaft finden wir Trost und Freude. Man muss nicht auf der Straße sein und sich an Gebäude ketten. Aber vielleicht backt man Kekse für die, die an diesem Tag protestieren gehen. Vielleicht ist es wegen der Behinderung nicht sicher, das Haus zu verlassen. Aber man kann auf andere Weise aktiv sein.
Karina: Ich hoffe wirklich, dass die Community irgendwie zusammenkommt und dagegen ankämpfen kann. Vielen Dank, dass du heute bei mir warst. Es hat mich sehr gefreut, mit dir zu sprechen.
Jim: Und dieses Thema ist mir, wie so vielen anderen auch, sehr wichtig. Ich bin dankbar, dass ich diese Gelegenheit bekommen habe. Danke.
Karina: Ganz lieben Dank.
[Interview Ende]
Jonas: Das war Jim LeBrecht im Interview mit dir, Karina. Also es ist ja schon krass irgendwie zu sehen, auf der einen Seite, wie empowernd und fortschrittlich damals quasi die ADA war und was es eben auch in den USA bewirkt hat und was für Veränderungen es gegeben hat. Und gleichzeitig jetzt auch irgendwie zu sehen, dass das alles irgendwie wieder rückgängig gemacht werden könnte. Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, was so das Äquivalent eben sein kann. Weil wir haben ja eben schon darüber gesprochen, so ADA, wie kann man das irgendwie gut ins Deutsch übersetzen. Aber ich hatte so gedacht, so ist das das Bundesteilhabegesetz vielleicht irgendwie etwas, wo man sagen könnte, das wäre zumindest irgendwie in Deutschland vergleichbar damit?
Raúl: Und ja vielleicht auch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz noch in Kombination, das sehr schwach ist in Deutschland noch, weil es vor allem Websites und Apps und Automaten meint und nicht Gebäude, wohingegen das ADA in den USA eher eine umfassendere Barrierefreiheit zum Beispiel vorsieht. Also auch in Gebäuden, auch im Altbau. Und der sogenannte European Accessibility Act ist inspiriert worden vom Americans with Disabilities Act. Aber eben ein stumpfes Schwert im Vergleich.
Jonas: Und gleichzeitig habe ich auch so gedacht, okay, wenn man das jetzt wieder in den USA so peu à peu abschafft, ich könnte mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass hier in Deutschland quasi diese Gesetze wieder rückgängig gemacht werden, habe aber schon das Gefühl, dass aufgrund des politischen Wandels hier bei uns es einfach andere Stellschrauben gibt, an denen gedreht wird. Also ich war vor anderthalb Jahren mal auf einem Podium zum Thema Diversity in Dresden gewesen, wo viele Organisationen waren, die gesagt haben, dass schon damals dann Fördergelder für ihre Vereine und gemeinnützigen Organisationen entweder gestrichen werden oder dass die Voraussetzungen für weitere Förderungen sehr exorbitant hoch waren, was einfach quasi gar nicht mehr leistbar ist. Und das dann durch den ja eher auch Rechtsruck in gewissen Bundesländern, wo dann Parteien wie die AfD dann vielleicht auch schon Einfluss nehmen können, dort einfach solche Programme, solche auch Sozialprogramme dann einfach wegfallen. Und ich eher auch das Gefühl habe, dass quasi bei uns in Deutschland ja auch viele Sachen, die so auf sozialer und behindertenaktivistischer Sicht umgesetzt werden, dann gar nicht jetzt so konkret irgendwie vom Staat ausgehen, sondern das eher dann von der Gesellschaft irgendwie getragen wird.
Raúl: Ja und wenn wir uns das mal anschauen, dass ja die ganzen Inklusions- und Diversity-Aspekte von Unternehmen in den USA ja auch zurückgedreht werden, das sind ja auch deutsche Unternehmen, die das in den USA tun und das ist dann auch nicht mehr weit, das dann eben auch in Deutschland zu tun für diese Unternehmen. Warum sollten sie es in den Ländern unterschiedlich handhaben? Es ist wahrscheinlich für sie auch leichter, das dann überall gleich zu machen. Und das ist scheinbar eh Arbeit. Ich habe auch in den letzten Jahren immer mehr das Gefühl gehabt, dass auch in Deutschland Inklusion, Barrierefreiheit und so immer eher als etwas gesehen wird, dass man als Sahnehaube auf die Torte macht, solange man Geld dafür hat. Und wenn dann das Geld aber knapp wird, dann nimmt man als erstes die Sahnehaube weg, aber die Torte bleibt. Das heißt Inklusion- und Barrierefreiheitsthemen sind Themen, die als erste gestrichen werden oder als letzte gemacht werden. Und das ist tatsächlich etwas, was uns hier auch bevorsteht. Wir brauchen mal anschauen, was Friedrich Merz in den letzten Wochen so von sich gegeben hat, wo er sagte, dass es keine weiteren Ausgaben geben darf im Sozialen, bei der Eingliederungshilfe beispielsweise. Was bedeutet, dass es über die Jahre auf jeden Fall weniger werden wird, weil wir ja auch Inflation haben und Dinge auch teurer werden. Und wenn er sagt, wir dürfen nicht mehr Geld ausgeben, dann bedeutet das mindestens auf langer Sicht, dass es weniger gibt. Und er hat es in den Bereich des Luxus getan, hat es im Kontext erwähnt, wo er gesagt hat, wir werden nicht mehr jeden Luxus uns leisten können und auch in der Eingliederungshilfe müssen wir kürzen oder sparen, was gefährlich ist. Es gibt noch andere schwierige, sehr, sehr schwierige Politiker der Rechten, die dann auch Inklusion als Ideologie abtun und so weiter. Das kann uns hier, glaube ich, auch blühen und wird schneller passieren, als wir glauben. Und deswegen ist es so wichtig, und da gebe ich Jim LeBrecht total recht, dass wir jung und alt uns zusammen tun und auch von den Erfahrungen lernen der Senior*innen der Behindertenbewegung. Aber es ist nicht mehr die Zeit, wo wir sagen können, das sollen die anderen machen, denn jetzt müssen wir alle ran. Und Inklusion ist auch nicht so ein Thema, das finde ich immer wieder wichtig, das nur für die Behinderten ist. Sondern Inklusion ist am Ende und auch Barrierefreiheit sind es am Ende Themen, von denen wir alle profitieren. Aufzüge werden zum größten Teil von Nichtbehinderten benutzt. Untertitel auch Barrierefreiheit insgesamt ist etwas, was uns den Zugang zu Produkten, Gebäuden und Dienstleistungen erleichtert. Und außerdem werden wir alle früher oder später eine Behinderung haben. Davon auszugehen, was uns nicht betrifft, ist maximal naiv.
Jonas: Ich erinnere mich noch ein bisschen an die Episode, wo wir über Mediziner*innen mit Behinderung gesprochen haben oder mit Mediziner in Behinderung, wo Dr. Leopold Rupp bei uns zu Gast war und gesagt hat, niemand stirbt ohne Behinderung. Also dieses, das irgendwann, also gar nicht jetzt zu sehen, irgendwie so als Damoklesschwert, so nach dem Motto, oh, alle Leute müssen irgendwie Angst haben, dass das passiert. Dass einfach wir als Menschen halt auch vergängliche Wesen sind und irgendwann vielleicht auch auf diese Barrierefreiheit angewiesen sind. Und dann ist es sehr, sehr vorteilhaft, wenn sie eben da ist. Gleichzeitig, und wir hatten eben so kurz auch das Thema medizinische Versorgung, Karina, du hast darüber gesprochen und das war immer so mein Eindruck im Sinne von, ja, in den USA gibt es vielleicht dann mehr Rechte und Gesetze bislang, die man irgendwie durchsetzen kann, aber im Vergleich so auf medizinische Versorgung. Stichwort, das war ja damals mit Thema, okay, Krankenversicherung, gibt es das? Ist das möglich? Wie sieht es aus, wenn du in den USA krank wirst? Dann musst du halt viele Behandlungen selber bezahlen. Wo ich immer gedacht habe, okay, das ist so ein Punkt bislang mal gewesen, wo ich gesagt habe, na, da ist, das ist doch gar nicht so gut im Vergleich jetzt, sag ich mal, zu anderen Themen, die wir hier in Deutschland erleben. Wie hast du das damals erlebt, Karina, als du da warst?
Karina: Ja, genau wie du es sagst halt. Also ich hatte den riesigen Vorteil, dass ich eine sehr, sehr gute Krankenversicherung hatte.
Jonas: Nicht, dass du sehr, sehr viel Geld hast.
Karina: Nee, also ich war damals versichert quasi über die Uni, das heißt, die war sehr günstig und sehr gut. Das hatte aber sonst niemand. Und ich habe trotzdem halt unfassbare Mengen an Geld zu allem dazu bezahlen müssen. Also irgendwie zehn Prozent zum Beispiel Beteiligung an allen Untersuchungen, was jetzt nicht viel klingt, weil zum Beispiel in Deutschland, wenn ich mir irgendwie Blut abnehmen lasse und ich muss von fünf Euro zehn Prozent dazu zahlen, dann geht das wahrscheinlich noch. Aber in den USA ist es halt, wir reden hier von irgendwie einem MRT von meinem Bauchraum für 15.000. Und dann zahlst du da halt irgendwie zehn Prozent dazu. Da kann ich in Deutschland drei MRTs komplett privat von bezahlen, ohne jede Versicherung. Also das waren schon utopische Summen auch einfach, wo ich mir dachte, wie rechtfertigt irgendeine Klinik diese Mengen an Geld für irgendwie eine MRT-Untersuchung. Ja, und das ist halt auch diese Kombination, Menschen, die chronisch krank sind, haben halt in der Regel auch einfach nicht viel Geld. Die haben auch keine guten Versicherungen, weil die nicht bezahlen können. Genau, deswegen, da hatte ich auch ein Interview geführt mit einer Bekannten, Jan Groh. Jan ist Patientenvertreterin und Autorin, hat auch Ehlers-Danlos-Syndrom und hat den coolen Blog “Oh Twist”. Das heißt, “Oh, that’s why I’m so tired”. Das mochte ich immer sehr gerne, ich fand den Blog sehr cool. Genau mit Jan habe ich darüber gesprochen, was eigentlich Medicare und Medicaid ist und was da aktuell droht, was Trump vorhat mit diesen Programmen und welche schwerwiegenden Konsequenzen das für alle chronisch kranken Menschen hat.
[Interview mit Jan Groh]
Karina: Hey Jan, ist so schön, dich zu sehen. Ich wollte mit dir kurz über die aktuelle Lage im US-Gesundheitssystem sprechen. Lass uns da gleich loslegen. Wie kommst du denn mit diesen ganzen Veränderungen klar?
Jan: Oh, Karina, danke, dass du fragst. Mir geht’s persönlich so halbwegs. Ich bin etwas gestresst, aber es geht. Ich weiß nicht, wie die Zukunft genau aussieht. Es gibt viel Unsicherheiten der behinderten Community. Ich bin selbst nicht über Medicaid versichert, deshalb betrifft mich der Wegfall nicht direkt, falls es kommt. Aber es ist trotzdem sehr belastend, vor allem für chronisch kranke Menschen wie mich. Und ich sehe viele Freund*innen, die extrem unter den drohenden Kürzungen ihrer Gesundheitsleistungen leiden.
Karina: Du hast gerade Medicaid und Medicare erwähnt. Bei uns in Deutschland haben wir sowas wie eine Art universelles gesetzliches Sozialversicherungssystem. Ist Medicaid oder Medicaid in den USA sowas ähnliches oder wie funktioniert das genau?
Jan: Gute Frage. Nein, so etwas haben wir in den USA eigentlich nicht. Medicare und Medicaid wurden 1965 unter Präsident Lyndon B. Johnson eingeführt, um unser soziales Sicherheitsnetz zu erweitern. Aber nicht jeder hat Anspruch darauf. Medicare ist eine staatliche Versicherung für Senior*innen ab 65 und Menschen, die seit mehr als zwei Jahren als schwerbehindert anerkannt sind und Sozialversicherungsleistungen erhalten. Medicaid ist ein Programm für die Ärmsten des Landes, egal ob behindert oder nicht. Sogar Menschen, die arbeiten, aber ein niedriges Einkommen haben, können Medicaid bekommen. Es ist ein bedarfsorientiertes Programm. Manche sind sogar in beiden Programmen. Wenn du Medicair hast und behindert bist oder arm genug, kannst du einen sogenannten Medicaid-Zuschlag bekommen. Ich wünschte wirklich, wir hätten ein universelles Gesundheitssystem hier. Vielleicht kommt es ja sogar irgendwann mal. Deshalb kämpfen Leute wie Senator Bernie Sanders für Medicare für alle. Das wäre die US-Version von einer gesetzlichen Krankenversicherung. Wir träumen davon. Aber im Moment ist es eher ein Sicherheitsnetz.
Karina: Also es sind diese Programme hauptsächlich für chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung, die ja meistens wenig Geld haben, oder?
Jan: Genau. Senior*innen und Menschen mit Behinderung sind meist über Medicaid versichert. Die Ärmsten haben oft noch den Medicaid-Zuschlag. Und Medicaid heißt nicht mal überall Medicaid. Jeder Bundesstaat verwaltet das Programm selbst und darf es unterschiedlich organisieren. Das heißt, es gibt 50 verschiedene Medicaid-Programme, eines pro Bundesstaat.
Karina: Apropos Budget. Was droht diesen Programmen denn genau?
Jan: Gerade diese Woche wurde darüber diskutiert, wie stark die Kürzungen sein sollen. Ob Medicaid gekürzt wird, steht nicht zur Debatte. Die Republikaner, die gerade den Präsidenten stellen und den Kongress kontrollieren, wollen auf jeden Fall sparen. Die Frage ist nur, wie stark. Viele Menschen mit Behinderung und auch Senior*innen kämpfen dagegen und sprechen bei ihren Abgeordneten direkt in Washington vor. 150 Mitglieder der Behindertenrechtsorganisation ADAPT, das ist A-D-A-P-T, Webseite adapt.org, waren persönlich im Kongress, um zu protestieren und zu sagen, bitte kürzt nicht. 25 wurden sogar verhaftet. Aber stand heute, am Freitag, den 16. Mai, geht es im Kongress nicht mehr um das “ob”, sondern nur noch um das “wie viel”. Einige Abgeordnete fordern sogar noch tiefere Einschnitte als bisher vorgeschlagen.
Karina: Also wenn das passiert, und du sagst ja, das wird passieren, nicht ob, sondern wann, was bedeutet das für all die chronisch Kranken, die darauf angewiesen sind?
Jan: Ich bin ungern direkt. Aber wenn das passiert, werden Menschen sterben. Diese Programme, vor allem Medicaid, kümmert sich um die ärmsten Menschen und die mit Schwerbehinderungen. Medicaid übernimmt die Kosten für alle, die langfristig Unterstützung brauchen. Das betrifft zum Beispiel Pflegeheime für ältere Menschen, aber auch viele behinderte Menschen. Zum Beispiel mit Cerebralparese, Down-Syndrom, Ehlers-Danlos, Spina bifida, alles mögliche. Also alle, die Hilfe brauchen bei alltäglichen Dingen, sich waschen, essen, einkaufen, kochen, zur Schule oder zur Arbeit kommen, wenn sie überhaupt das Haus verlassen können. Und Leute wie meine Freundin Angela und ihr Sohn Stryder, der chronisch krank ist, die würden ihre Krankenversicherung verlieren, die lebensnotwendig ist. Viele Menschen würden sterben, weil sie keine medizinische Versorgung mehr bekommen. Andere, zum Beispiel alte Menschen in Pflegeheimen, könnten einfach rausgeworfen werden. Wenn sie keine Familie haben, werden sie einfach rausgeworfen. Und wenn sie Familie haben, aber die Familie die Pflegeheimkosten nicht übernimmt, wenn Medicare gekürzt wird, dann kann das Heim das Geld für die gesamte Pflege nach dem Tod der Person von der Familie zurückfordern. Also es ist wirklich ernst. Ich sehe, dass Menschen aus allen politischen Lagern sich gegen diese Kürzungen aussprechen. Ich habe sogar neulich auf Facebook eine republikanische Mutter mit einem Kind mit Down-Syndrom gesehen, die geschrieben hat “Hey, ich bin total für konservative und verantwortungsvolle Finanzpolitik, aber ihr gefährdet damit die Versorgung meines Sohnes.”
Karina: Was macht denn unsere Community jetzt damit? Also wie kann man sich überhaupt auf sowas vorbereiten? Kann man das? Also es ist ja nicht so, als könntet ihr irgendwo anders hin.
Jan: Das ist die 64 Milliarden Dollar Frage. Ich glaube, eine ganze Reihe von unterschiedlichen Dingen wird passieren. Diese Programme haben es vielen von uns überhaupt erst ermöglicht, selbstbestimmt zu leben. Und viele werden das künftig nicht mehr können. Wir werden andere Wohnlösungen finden müssen. Manche Menschen werden sich zusammentun und versuchen, gemeinsam zu wohnen. Andere schaffen das vielleicht nicht. Einige könnten obdachlos werden. Ich hoffe wirklich, dass die Menschen unabhängig von ihrer politischen Haltung als Gemeinschaft zusammenhalten und dass wir uns um unsere älteren und behinderten Mitmenschen kümmern, in allen unseren Nachbarschaften. Dass wir mal nach ihnen schauen, dass wir sicherstellen, dass sie etwas zu essen haben und das auch zubereiten können. Vielleicht sogar jemanden bei sich zu Hause aufnehmen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, wie sich das alles entwickeln wird. Aber es gibt viele Menschen, die heute nur deshalb noch leben und einigermaßen zurechtkommen, weil es diese Programme gibt. Ich kann wirklich nicht sagen, wie das alles ablaufen wird. Aber ich sehe für manche Menschen sehr düstere Aussichten. Ich glaube, wir werden mehr Obdachlosigkeit sehen und mehr Todesfälle.
Karina: Das ist so furchtbar. Mir fehlen da echt die Worte. Ich hoffe ganz arg, dass das alles nicht eintritt. Danke, dass du hier deine Perspektive mit mir geteilt hast.
Jan: Gerne. Es tut mir so leid, dass ich so düstere Nachrichten überbringen muss. Wir kämpfen hier gerade wirklich ums Überleben. Aber ich habe Hoffnung und guten Grund zur Annahme, dass unser Land das nicht lange mitmachen wird. Selbst wenn dieser Haushalt so beschlossen wird, wird es eine Gegenreaktion geben, 2026, bei dem, was wir hier die Midterms nennen. Das ist die Wahl, die genau zwischen zwei Präsidentschaftswahlen liegt. Ich glaube wirklich, dass die Menschen das so nicht hinnehmen werden. Falls das hier tatsächlich umgesetzt wird, glaube ich nicht, dass es lange Bestand haben wird, um wenigstens ein bisschen Hoffnung mitgeben zu können. Auch wenn das natürlich kein Trost ist für die Menschen, die jetzt sofort und direkt betroffen sind. Aber hoffentlich gelingt es uns, zumindest einen Teil, wenn nicht alles, rückgängig zu machen. Aber ja, ich glaube, wir stehen erstmal vor einer sehr, sehr harten Zeit.
Karina: Ja, eine sehr harte Zeit. Ich wünsche euch jedenfalls nur das Beste und hoffe, ihr schafft das alle irgendwie dadurch. Danke nochmal, dass du heute hier warst. Danke, Karina.
[Interview Ende]
Jonas: Ich finde das schon krass zu hören, was das gerade auf gesundheitlicher Ebene dann für Menschen mit Behinderung für Konsequenzen hat. Also wirklich zu sagen, okay, wenn es dort keine medizinische Versorgung gibt, dann werde ich halt sterben. Das klingt so als lapidare Aussage, aber das ist ja die größte und schlimmste Konsequenz, die es in dem Sinne irgendwie geben könnte. Habt ihr beide irgendwie schon das Gefühl, dass euch in eurem persönlichen Leben sich in den letzten Jahren etwas geändert hat an Hilfsleistungen oder wenn ihr unterwegs seid, wo ihr schon jetzt persönlich merkt, dass dort eine Art Zeitenwende passiert oder ansteht oder schon passiert ist?
Raúl: Ich würde jetzt nicht unbedingt sagen, dass das was mit Zurückdrehen oder Rollback zu tun hat direkt was Gesetz angeht. Aber die letzten Jahre, in denen ich in Krankenhäusern sein musste, aus medizinischen Gründen, ist mir schon aufgefallen, dass es zunehmend schwerer war als behinderter Mensch, die Bedarfe, die man hat, den Unterstützungsbedarf, den man hat, dem Personal verständlich zu machen. Einfach auch Sprachbarrieren, die ganz offensichtlich existieren, bei denen nicht alle gut Deutsch sprechen, noch nicht, das ist natürlich auch eine Frage der Zeit. Aber auch, dass der Betrieb insgesamt sehr unter Druck zu sein scheint und wenig Beinfreiheit für die einzelnen Mitarbeiter*innen vor Ort vorhanden ist, um Dinge auch mal schnell anzupassen oder schnell zu lösen. Und ich, glaube ich, alleine für eine Untersuchung in den letzten Monaten sechsmal ins Krankenhaus gegangen bin, weil immer irgendetwas gerade nicht da war, nicht verfügbar war, nicht entschieden werden konnte und man selber angefangen hat, Botendienste im Krankenhaus zu machen, weil es anscheinend auch dafür gar keine Struktur mehr gibt im Gebäude, dass die Dokumente von Station 1 in Station 4 gebracht werden. Also so Kleinigkeiten, die mir einfach aufgefallen sind, die früher nicht so waren. Was jammern auf hohem Niveau ist im Moment noch, wenn man das vergleicht mit den USA. Aber ich sehe schon, wenn wir Dinge anfangen zu ökonomisieren, wie zum Beispiel Krankenhäuser oder Bildung oder auch andere Bereiche, die Menschen, die besondere Bedarfe haben, dann unter die Räder geraten können.
Karina: Ich habe irgendwie das Gefühl, das geht so in beide Richtungen. Auf der einen Seite fühlt es sich für mich immer so an, als gäbe es mittlerweile unter medizinischem Personal mehr Awareness, was so Dinge angeht, wie Gender Bias und Gaslighting und so. Zumindest, also ich bin zum Beispiel letztens auf eine Konferenz eingeladen worden, um aus der Patientinnenperspektive zu sprechen, was früher nie passiert wäre, dass man auf einer Mediziner*innenkonferenz als Patientin auftauchen darf und irgendwie, also es hat keinen interessiert, was ich zu sagen habe, das ist irgendwie besser geworden. Aber auf der anderen Seite, zum Beispiel meine Realität ist ohnehin schon, dass ich ständig irgendwelche Termine privat bezahle, weil es halt für mich irgendwie einfach keine Ärzte mehr gibt mit Kassenzulassungen, die sich überhaupt mit so komplexen Patientinnen auseinandersetzen wollen. Nur, dass ich es halt in Deutschland kann, weil es nicht so extrem teuer ist wie in den USA zum Beispiel. Also, wenn ich hier einen Termin für irgendwie 100 Euro zahle, versus irgendwie 1000 in den USA, ist das ein Riesenunterschied. Aber gleichzeitig ist es halt auch wieder, viele Menschen mit chronischen Erkrankungen wie meiner können sich auch in Deutschland einfach keine privaten Termine leisten und das ist halt schon ein Riesenproblem, wo die Behandlung halt einfach immer schlechter wird.
Jonas: Und das ist eben so, finde ich, jetzt gerade auch bei dem Thema im heutigen Podcast hier, wenn wir über die USA sprechen, so etwas, was ja trotzdem eine Relevanz für uns hat. Wir könnten natürlich auch sagen, okay, was in den USA passiert, bleibt in den USA, was interessiert uns das? Wir haben hier unsere eigenen Themen, beziehungsweise manche Sachen laufen gut, manche eben auch ein bisschen schlechter, aber es tangiert uns ja nicht. Aber das ist eben trotzdem spannend und das hören wir jetzt gleich in unserem dritten Interview, was du, Karina, geführt hast, dass es eben doch auch konkrete Auswirkungen auf eben in den USA lebende einzelne Menschen hat, die das eben dort merken, als auch, dass natürlich die USA durch die globale Welt und das globale Wirtschaftssystem und die ganze Vernetzung auch inzwischen ja direkt oder auch eben indirekt Einfluss nehmen auf andere Länder hier in Europa und es deswegen schon in der Art und Weise schon ein bisschen spürbar ist, was in den USA passiert und wie das für Auswirkungen auf uns hier hat.
Karina: Ja, ich habe mit Day Al-Mohamed gesprochen. Day ist oder war früher der Director of Disability Policy im Weißen Haus, noch während der Biden-Harris-Regierung. Und genau, Day ist eine Policy-Expertin und außerdem eine blinde Filmemacherin. Die gerade auch eine preisgekrönte Serie gemacht hat, die heißt “Renegades” läuft in PBS. Und mit Day habe ich gesprochen über Diversity, Equity und Inclusion, also was das überhaupt für ein Begriff ist, wie diese Initiativen in den USA zustande kamen und was das eben auch bedeutet, dass die gerade schon weitestgehend abgeschafft werden.
[Interview Day Al-Mohamed]
Karina: Hi Day, es ist so schön, dich wiederzusehen. Lang ists her. Du bist ja sowohl Filmemacherin als auch Politikexpertin, und es wirkt so, als würde sich deine gesamte Arbeit um Diversität und Inklusion drehen. Die USA galten lange als Vorbild für andere Länder, wenn es um Diversity-, Equity- und Inclusion-Initiativen – also kurz DEI – in den verschiedensten Bereichen ging. Kannst du mir erklären, worum es bei solchen Initiativen im Allgemeinen geht – und ganz besonders im Kontext von Menschen mit Behinderungen?
Day: Also die Idee hinter Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion – also DEI – ist eigentlich gar nichts Neues. Ein Teil davon ist sogar in unserer Verfassung verankert, und wir finden es auch in Bürgerrechtsgesetzen und anderen Regelungen wieder. Im Grunde geht es um ein Prinzip, das den meisten aus der amerikanischen Geschichte bekannt ist: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Und die Idee ist, dass wir alle gleichen Zugang zu diesen Rechten haben sollten.
Aber gleichzeitig erkennen wir, dass wir – so sehr wir auch diese Ideale predigen, dass jeder theoretisch Präsidentin werden kann oder ein großes Unternehmen leiten könnte – in der Realität noch weit davon entfernt sind. Es gibt nach wie vor große Ungleichheiten, zum Beispiel im Hinblick auf Hautfarbe oder Geschlecht. Frauen haben nicht dieselben Chancen wie Männer, People of Color nicht dieselben wie Weiße. Und für Menschen mit Behinderungen gilt das erst recht: Der Zugang ist nicht gleich, die Chancen sind nicht gleich, und der Weg zum Erfolg ist oft viel schwieriger.
Karina: Und was bedeutet das konkret? Auf welche Bereiche bezieht sich das?
Day: Ich glaube, ein gutes Beispiel, wo DEI-Initiativen besonders sichtbar sind, ist im Bildungsbereich, aber auch bei der Beschäftigung – also in der Arbeitswelt. Und natürlich gibt es auch Kontroversen, weil manche Menschen denken: “Oh, bekommen andere da jetzt etwas Unfaires?” Aber wenn DEI-Initiativen richtig umgesetzt werden, geht es nur darum, das Spielfeld anzugleichen – also gleiche Ausgangsbedingungen für alle zu schaffen.
Nehmen wir zum Beispiel Barrierefreiheit oder Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderung. Das ist nichts “Extra”, das jemandem einen Vorteil verschafft. Es geht nur darum, überhaupt Zugang zu bekommen – also überhaupt erstmal durch die Tür zu kommen, um sich dann auf gleichem Niveau mit anderen zu messen. Das ist alles.
Und das gilt eben auch für Dinge wie Outreach, also gezielte Ansprache. Wenn zum Beispiel eine Universität auffällt, dass die Mehrheit der Studierenden weiß ist, obwohl die Stadt, in der sie liegt, eigentlich sehr divers ist, dann kann man sich fragen: Liegt das wirklich daran, dass sich keine anderen Menschen qualifizieren? Oder vielleicht daran, wo und wie die Uni wirbt – geht sie vielleicht nur in bestimmte Schulen, aber nicht in mehrheitlich schwarze Stadtteile?
Dasselbe gilt auch für Unternehmen bei der Mitarbeitendensuche: Viele gehen immer nur zu den gleichen Elite-Unis. Aber warum nicht mal gezielt an Historically Black Colleges and Universities (HBCUs) gehen, um dort nach Talenten zu suchen? Es geht also nicht darum, die Anforderungen zu senken, sondern darum, den Suchradius zu erweitern und neue, oft übersehene Gruppen aktiv einzubeziehen.
Karina: Du hast gerade erwähnt, dass manche Menschen glauben, Menschen mit Behinderungen oder andere marginalisierte Gruppen würden da was bekommen, das sie nicht verdienen. Aber es ist ja nicht so, dass man nur eingestellt wird, weil man behindert ist – also als eine Art Token-Person. Was passiert denn gerade in den USA mit diesen Diversity- und Inklusionsinitiativen?
Day: Am ersten Tag seiner Amtszeit hat Trump eine Executive Order erlassen, die alle DEI-Programme auf Bundesebene abgeschafft hat. Die hieß: ‘Beendigung radikaler und verschwenderischer Regierungsprogramme zu DEI und Präferenzen’. Schon der Titel zeigt, wie negativ das Ganze geframet wird – als seien diese Programme illegal oder diskriminierend. Und ganz konkret: Auch DEIA – also Programme, die sich explizit mit Disability, Equity, Inclusion und Accessibility beschäftigen – sollen abgeschafft werden. Also selbst Barrierefreiheit wird infrage gestellt.
Alle entsprechenden Bundesstellen wurden sofort geschlossen, Stellen gestrichen, Fördergelder gestrichen – egal unter welchem Namen die Programme liefen. Es betrifft zum Beispiel Programme für Wanderarbeiter*innen oder die OSHA, die Arbeitsschutzinformationen auf Spanisch für Bauarbeiter zur Verfügung stellt – was absolut sinnvoll ist, weil viele dieser Menschen Spanisch als Muttersprache sprechen. Doch auch das wurde als ‘DEI’ eingestuft und damit abgeschafft. Das zeigt: Solche Maßnahmen verschlechtern die Lage für alle, nicht nur für marginalisierte Gruppen.
Das war nur die erste Executive Order. Die zweite hat sich gegen geschlechtliche Vielfalt gerichtet – unter dem Titel ‘Schutz von Frauen vor Extremismus der Gender-Ideologie’.
Karina: Ich kann kaum glauben, dass es überhaupt erlaubt ist, so einen Titel zu verwenden.
Day: Genau. Und im Grunde wird Geschlecht dort definiert als eine unveränderliche biologische Klassifikation – entweder männlich oder weiblich – und jede Form von Gender-Identität wird gestrichen. Alle Bundesbehörden müssen also sämtliche Richtlinien, Aussagen oder Programme entfernen, die irgendeine Form von ‚Gender-Ideologie‘ enthalten.
Und das wird besonders im Gesundheitsministerium zu großen Problemen führen – das sehen wir bereits. Denn dort geht es ja um die Gesundheitsversorgung aller Amerikaner*innen. Um herauszufinden, was funktioniert und was nicht, braucht man Daten. Also erhebt man Informationen – zum Beispiel über das Geschlecht, auch für trans und nicht-binäre Menschen. Das ist entscheidend, um Gesundheitsentwicklungen – auch psychische – nachvollziehen zu können. Und plötzlich dürfen sie das nicht mehr erfassen oder ansprechen. Das wird komplett gestrichen. Es wird also sehr, sehr problematisch.
Und dann gibt es noch ein drittes Dekret – das ist meiner Meinung nach das Problematischste. Da beginnt es, auch auf andere Teile der USA und sogar ins Ausland auszustrahlen. Es heißt: Beendigung illegaler Diskriminierung und Wiederherstellung von leistungsbasierten Chancen.
Damit wird festgelegt, dass sämtliche Behörden und Ministerien alle bevorzugenden oder diskriminierenden Maßnahmen, Richtlinien, Programme, Empfehlungen oder Regelungen beenden müssen. Und wenn man genau hinschaut, zielt das nicht nur auf die Bundesbehörden, sondern bezieht auch die Privatwirtschaft mit ein.
Dieses Dekret hebt übrigens auch eine Executive Order von Präsident Johnson aus dem Jahr 1965 auf. Die hatte festgelegt, dass Bundesauftragnehmer etwaige Unterrepräsentation – z. B. aufgrund von Geschlecht oder Herkunft – erkennen und adressieren sollten. Trump sagt jetzt stattdessen: Wenn du Bundesmittel bekommen willst, musst du bestätigen, dass du mit dem aktuellen Antidiskriminierungsgesetz konform bist – was bedeutet: keine DEI-Programme mehr.“
Karina: Im Grunde ist das dann also eher ein Diskriminierungsgesetz auf Bundesebene, kein Antidiskriminierungsgesetz, oder?
Day: Genau. Und das richtet sich jetzt eben auch an die Privatwirtschaft.
Karina: Das ist so furchtbar. Kannst du mir ein konkretes Beispiel geben, wie sich das auf dich oder andere behinderte Menschen auswirkt, die du kennst?
Day: Target, die Ladenkette, hatte eine großartige DEI-Politik und wurde sogar gelobt, weil sie Behinderung in ihrer Werbung sichtbar gemacht haben. Sie haben erkannt, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Behinderung repräsentiert werden – nicht nur barrierefrei, sondern auch sichtbar und als normaler Teil des Lebens.
Als diese neuen Anordnungen kamen, hat Target offiziell gesagt, dass sie ihre DEI-Programme zurückfahren. Sie haben viel Gegenwind bekommen, aber es ist trotzdem frustrierend. Denn oft kämpfen wir dafür, dass Behinderung normalisiert wird – dass wir in der Werbung und überall sichtbar sind. Und dann kommt ein großer Laden, der das landesweit so gut gemacht hat, und plötzlich heißt es: Nein, wir machen das nicht mehr.
Karina: Ja. Also haben sie es nur gemacht, weil jemand sie dazu gezwungen hat. Und jetzt, wo sie nicht mehr dazu verpflichtet sind, haben sie aufgehört.
Day: Genau, ich glaube, sie wurden dazu ermutigt und haben es gemacht – und jetzt heißt es einfach „Nein“. Aber wir werden sehen, dass andere wie Costco sagen, „Nein, wir stehen weiterhin dazu.“
Ich denke aber, man wird das vor allem im Bereich Beschäftigung merken. Firmen werden weniger bereit sein, Leute einzustellen, weil sie nicht als die wahrgenommen werden wollen, die „diesen DEI-Kram machen“. Dabei sollten sie ja weiterhin die bestqualifizierte Person einstellen.
Und all diese einfachen Dinge, wie mehr gezielte Ansprache, werden wegfallen. Manche sagen dann, „Wir machen das einfach unter einem anderen Namen.“ Aber ich glaube, das hilft nicht wirklich, weil es nur die Sicht bestärkt, dass das, was er sagt, irgendwie berechtigt sei – anstatt klar zu sagen, dass das falsch ist.
Karina: Aber es gibt doch Leute, die sich dagegen wehren, oder?
Day: Das Problem gerade ist, dass der Kongress hauptsächlich von Republikanern dominiert wird. Und viele sagen einfach: „Okay, mach weiter, was du tun willst“, obwohl einige schon sehen, welche Nachteile das für ihre Wähler*innen hat.
Also passiert vom Kongress her kaum etwas. Das ist ein Teil der Regierung, dazu kommt das Weiße Haus, das derzeit ziemlich schlecht agiert, und ein weiterer Teil – also zwei von drei Regierungszweigen blockieren oder verschlechtern die Lage.
Bleibt der dritte Zweig, die Justiz, also die Gerichte. Viele Menschen klagen und sagen: Das ist illegal, das ist falsch, hört auf damit! Das Gute und Schlechte an Gerichten ist, dass sie sehr langsam sind. Denn jede Entscheidung soll sorgfältig geprüft und endgültig getroffen werden. Es gab schon einige gute Urteile.
Das Schwierige bei Gerichten ist aber die Umsetzung: Wie sorgt man dafür, dass die Regierung und alle anderen sich auch daran halten? Momentan erleben wir ein Hin und Her: Einige Mitglieder der Exekutive sagen, sie müssten sich nicht an Gerichtsentscheidungen halten. Deshalb sprechen manche von einer Verfassungskrise, weil die USA eigentlich aus drei gleichberechtigten Regierungszweigen bestehen – und die Gerichte sollen entscheiden, ob Gesetze oder Exekutivanordnungen verfassungswidrig sind.
Das Trump-Team sagt aber: „Es ist meine Aufgabe, das Land zu führen. Niemand kann mir sagen, was ich zu tun habe.“
Karina: So funktioniert Demokratie eigentlich nicht. Wie wirkt sich das alles, was gerade in den USA passiert – vor allem in Bezug auf DEI – auf andere Länder aus, zum Beispiel in Europa?
Day: Wir haben immer diesen riesigen US-Stolz, diesen amerikanischen Exzeptionalismus – im Guten wie im Schlechten, das ist eine lange bekannte Geschichte. So funktionieren wir nun mal. Und ich denke, das aktuell beste Beispiel dafür, das sowohl positiv als auch negativ ist und zu meinen Favoriten gehört, ist die US-Botschaft in Stockholm. Die hat eine Anfrage an die Stadtplanung in Stockholm geschickt wegen Trumps Anti-DEI-Politik. Die sagten: Hey, die Auftragnehmer des US-Außenministeriums und alle, mit denen wir zusammenarbeiten, müssen sich an die Anti-Diversity-, Equity- und Inclusion-Richtlinien der Trump-Administration halten. Also, Stockholm, ihr solltet das auch tun.
Allein die Dreistigkeit, das so zu sagen: „Hey, wir sind die USA, und unsere Anti-DEI-Gesetze sagen das, also müsst ihr, die Stadtplanung Stockholm, euch daran halten.“ Im Grunde heißt das: Unterschreibt diesen Brief und erklärt euch bereit, unsere Regeln zu befolgen. Ich wünschte wirklich, ich könnte den originalen Brief der Stadtplanung sehen, aber ich glaube, die Antwort war nein – was gut ist.
Was mich aber beunruhigt, ist: Das ist das sichtbarste Beispiel, das wir kennen. Wie viele andere Fälle gibt es wohl weltweit, von denen wir nichts hören? Wie oft üben die USA Druck aus – sei es wirtschaftlich, finanziell, militärisch oder auf andere Weise –, um zu sagen: Ihr müsst uns folgen. Besonders, weil sie ihre finanzielle Macht einsetzen, um das durchzusetzen.
Also, das ist meine Sorge: Er versucht im Grunde, seine eigene Form von Anti-DEI-Verhalten zu exportieren.
Karina: Ja, das ist wirklich beängstigend, wenn man hier in Deutschland sitzt und diese rechten Bewegungen auch sieht. Und ich habe das Gefühl, die USA sind uns da gerade nur ein paar Schritte voraus.
Vielen Dank für deine Zeit und dafür, dass du mir all diese Einblicke gegeben hast.
Ich hoffe, wir können bald wieder sprechen. Ich wünsche dir ganz viel Glück und alles Gute in den USA.
Day: Danke. Ich denke, es werden auf jeden Fall ein paar interessante Jahre.
[Interview Ende]
Jonas: Interessante Jahre, die uns bevorstehen. Das ist irgendwie schön ausgedrückt. Wirkt noch ein bisschen zynisch, habe ich das Gefühl. Also wie ging es euch, wenn ihr das gehört habt, was Day in dem Interview gesagt hat?
Raúl: Ich finde insgesamt, wir hatten drei Interviews, das ist nochmal ein krasser Unterschied, ob man sowas in einem Artikel liest oder ob man das persönlich von jemandem hört, wo dann eben auch die Sorgen wirklich mitklingen und wo die Interviewpartner sich entschuldigen, dass sie keine besseren Nachrichten haben und so. Also das geht schon nochmal mehr unter die Haut, finde ich.
Jonas: Wie ging es dir, Karina, als Person, die die drei Interviews geführt hat?
Karina: Ich meine, ich finde es halt schlimm, irgendwie diese ganzen Menschen zu kennen und zu wissen, was da jetzt vielleicht irgendwie auf die zukommt. Also ich kenne ja trotzdem ganz viele chronisch kranke Leute in den USA und wenn ich mir vorstelle, dass manche von denen vielleicht die nächsten Jahre nicht überleben, das ist schon, also eigentlich ist das gar nicht vorstellbar. Man kann sich nicht vorstellen, dass sowas tatsächlich in der heutigen Zeit passiert.
Raúl: Wir haben uns daran gewöhnt, dass Dinge besser wurden. Aber wir sehen jetzt eben auch in Bundesländern in Deutschland, die jetzt von den Rechten mitregiert werden, dass da auch oder auch bei den Konservativen sogar schon völlig schonungslos, hemmungslos, erbarmungslos auch Leistungen, die man lange für selbstverständlich glaubte, erstmal gekürzt werden.
Jonas: Was können wir denn in der Situation machen? Also ich spüre bei mir so eine gewisse, auf der einen Seite Hilflosigkeit, also jetzt bei den Themen, was die USA betrifft. Das ist so, ja, wie gesagt, auf der einen Seite weit weg und gleichzeitig irgendwie dann doch so nah und durch die Interviews und die Stimmen der Leute, die wir gehört haben, auch nochmal wirkt es so greifbar in dem Sinne. Aber ich frage mich schon, was wir jetzt so aus unserer deutschen Perspektive machen können beziehungsweise ob man wirklich sagt, ja, in auch allen guten Themen war vielleicht, was Behindertenpolitik, Behindertenrechte anging, war die USA immer so ein paar Jahre voraus und jetzt ist eine gewisse Entwicklung in den USA, wo sie auch wieder voraus sind und Deutschland wird irgendwie oder Deutschland und Europa werden irgendwann sozusagen nachziehen und diese Entwicklung in dem Sinne mitgehen. Was können wir machen, um diese Verschlechterung irgendwie aufzuhalten?
Raúl: Also ich glaube, was wir alle auf jeden Fall machen sollten, ist erstmal anerkennen und verstehen, akzeptieren, dass es nicht mehr reicht zu sagen, das wird hier schon nicht passieren, weil wir das wahrscheinlich auch in den USA lange geglaubt haben und wir sehen, wie schnell sowas passiert. Das heißt, jetzt ist es wirklich an der Zeit zu glauben, wenn Betroffene sowas erzählen, wenn sie vor etwas warnen, dass wir genau hinschauen und das nicht zu deren Problemen machen, sondern zu unser aller Problem und dann gemeinsam mindestens uns darüber informieren, diesen Podcast weiterempfehlen, die Geschichten weiterempfehlen und aufhören, rechte und konservative Parteien zu wählen, weil das ist ihre Agenda.
Jonas: Und in dem Sinne einfach aufmerksam sein, wachsam sein und sich auch dem, wie du gesagt hast, auch ein bisschen so gegenüberstellen, weil es eben Konsequenzen hat für Menschen mit Behinderung, für Menschen mit chronischen Erkrankungen und so wie du Raul ja auch am Anfang gesagt hast, auch mehr inklusive, dass es kein behindertenspezifisches Thema ist. Das ist etwas, was uns alle als gesamte Gesellschaft angeht, auch wenn es weg wäre, die gesamte Gesellschaft betreffen würde und das miteinander verschlechtern würde. Deswegen geht es uns alle irgendwie an und deshalb ist es wichtig, da drauf zu gucken und zu sehen, was dort passiert und die Stimmen der betroffenen Leute zu hören.
Karina: Was ich total wichtig finde, ist, dass wir einfach alle zusammenhalten und laut werden. Also ich habe auch immer so ein bisschen Angst, dass wir uns zu schnell irgendwie spalten lassen und dann selbst in der eigenen Community uns manchmal gegenseitig attackieren und so, obwohl es jetzt gerade irgendwie wichtiger ist, als je zuvor zusammenzuhalten und eine große Community zu sein.
Jonas: Und zu diesem Zusammenhalt gehört eben auch, einander zuzuhören und diese Perspektiven wahrzunehmen und ihnen eine Plattform zu geben, was wir heute versucht haben und mal rübergeschaut haben in die USA, wie dort die Situation von Menschen mit Behinderung aussieht. Das war die neue Norm der Podcast. Vielen Dank, dass ihr dabei wart und wir freuen uns, wenn ihr beim nächsten Mal auch wieder mit dabei seid. Alle Informationen zu diesem Podcast findet ihr natürlich auf www.deneuenorm.de und in der ARD Audiothek. Bis dahin. Tschüss.
Raúl und Karina: Tschüss.