Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 57: „Stadt oder Land“
Jonas: Raul, sag mal, würdest du eigentlich gerne auf dem Land leben?
Raul: Oh, ich weiß nicht so genau.
Jonas: Also, ich meine, du wärst der Don dieses Dorfes. Du wärst der Kaiser des Kaffs und du müsstest dort überhaupt nicht fort, denn du hättest es eigentlich geschafft. Du hättest einen Stammplatz in der Kneipe, wo du anschreiben könntest. Dein Bäcker fragt wie immer? Dein Friseur kennt deinen Namen und eigentlich nichts auf der Welt würde dir zu deinem Glück fehlen. Und auf der Straße grüßt du Omas und die grüßen zurück.
Raul: Ja, das kann ich aber in meinem Kiez auch alles haben.
Jonas: Herzlich willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Wir haben rein gestartet mit einer kleinen Reminiszenz an die Band „Das Lumpenpack“, die wir gemeinsam auf dem Puls Open Air Festival in diesem Jahr gesehen haben, als auch wir dort live mit unserem Podcast aufgetreten sind. Wenn ihr diese Episode noch mal hören möchtet, das ist Episode Nummer 52 und wir möchten heute über Stadt versus Land sprechen. Wir haben uns die Frage gestellt, bzw möchten uns die Frage stellen, ob es für Menschen mit Behinderung einen großen Unterschied macht, ob sie jetzt in der Stadt leben oder auf dem Land. Welche Vor- und Nachteile es gibt und ob auch die eigenen Bedarfe, die man so im Alltag hat, erfüllt werden können und ob wir uns auch vielleicht ein Stadtleben oder auch ein Landleben vorstellen können. Und egal, ob ihr jetzt selber in der Stadt wohnt oder auf dem Land, egal wo ihr wohnt. Unseren Podcast könnt ich natürlich auch in der ARD Audiothek hören. Bei mir sind Karina Sturm und Raul Krauthausen.
Karina und Raul: Hallo.
Jonas: Mein Name ist Jonas Karpa. Ja, wie ist es für euch? Wie ist es für dich, Karina, in der Stadt zu leben oder auf dem Land? Hast du da irgendwelche Präferenzen?
Karina: Also, eigentlich hätte ich gern beides. Ich bin eigentlich ein totaler Naturmensch, aber ich liebe auch die Vorzüge von Großstädten. Also so Lieferservice und so für Essen und ja, aber meistens gibt es das ja nicht beides zusammen. Und meine oberste Priorität ist in der Regel eine gesundheitliche Versorgung und die kriege ich eigentlich immer nur in größeren Städten.
Jonas: Okay, also das ist so der wichtigste Faktor für dich, wenn du jetzt, sag ich mal komplett neu starten würdest und die Möglichkeit hättest, du jetzt quasi auszuwählen, wo du jetzt leben wollen würdest.
Karina: Ja, also ich meine, ich würde mir wünschen, ich müsste nicht anhand von Ärzten auswählen. Also es ist ziemlich scheiße, dass Entscheidungen für irgendwie Lebensraum davon abhängen, wo ich Menschen finde, die sich irgendwie mit meiner Erkrankung auskennen. Leider ist es aber allgemein so, also für meine Erkrankung gibt es deutschlandweit ohnehin nur ganz wenige Expert*innen. Also ich muss dann sowieso von Stadt zu Stadt fahren, aber was die alle gemeinsam haben ist, die sind nur in Großstädten meistens angebunden an irgendwelchen großen Universitäten. Und wenn ich auf einem Dorf leben würde, wäre es noch härter, da überhaupt hinzukommen. Und so ist die Entscheidung am Ende halt schon immer von selber gefallen.
Jonas: Weißt du, wie viele Ärzt*innen es gibt für deine chronische Erkrankung? Bzw. wie viele Leute gibt es, die es in Deutschland haben und wie viele Ärztinnen gibt es?
Karina: Also ich weiß nicht die genaue Anzahl an Expert*innen, aber es gibt zum Beispiel… Also meine Erkrankung, das Ehlers-Danlos-Syndrom, das kommt mal ganz vielen verschiedenen anderen Erkrankungen und meistens, wenn man Glück hat, gibt es einen Experten oder eine Expertin für die jeweilige Erkrankung und die haben dann Wartelisten von drei, vier Jahren. Weil natürlich dann ganz Deutschland quasi zu einer Adresse geht. Kann auch noch eine schöne Geschichte von gestern erzählen, die mich wieder daran erinnert hat, wie scheiße die Versorgung in Deutschland ist. Ich war bei einer Ärztin, die eigentlich Kassenärztin ist und die einzige Expertin auf diesem Gebiet in Deutschland ist. Und die hat irgendwie spontan beschlossen, sie nimmt keine EDS-Patientinnen mehr auf, weil praktisch alle Patienten aus Deutschland in diese eine Praxis gewandert sind und dass es sich für die einfach nicht mehr lohnt, weil die Patientinnen zu viel Zeit brauchen und zu komplex sind. Und halt nicht irgendwie nach zehn Minuten wieder aus der Praxis raus sind, um dann halt irgendwie dazustehen, während die eine Arzthelferin sagt, ja, sorry, du lohnst dich nicht. Das war nicht so schön und das passiert sehr häufig, und deswegen in Großstädten tue ich mich da ein bisschen leichter. Dann ist es zwar immer noch enttäuschend, aber zumindest habe ich die Chance, noch mal einen anderen Arzt zu finden. Auf dem Land gibt es ja teilweise einfach nur diesen einen und das war’s.
Jonas: Also du hast mehr Wahlfreiheit.
Karina: Ja
Raul: Hast du schon mal auf der Fußmatte kehrt gemacht?
Karina: Nee. Ich habe das freundlich angesprochen und habe gesagt, dass ich schon seit zehn Jahren da bin.
Jonas: Ich bin Stammkundin hier.
Karina: Genau, bitte, bitte lass mich nicht allein. Nein, es ist wirklich frustrierend, weil du immer wieder bei Null anfangen musst. Und wenn ich dann mal Ärzte für zehn Jahre kenne, dann verstehen die zumindest ein bisschen, deine Progression von Erkrankungen und so. Und das ist für mich super wichtig für Anträge bei Krankenkassen und sonstwie, dass jemand meine komplette Geschichte kennt und mich nicht erst seit zwei Wochen kennt. Und du hast halt dann schon immer gar keinen Bock mehr, überhaupt irgendwo wieder bei Null anzufangen. Deswegen wollte ich das nicht einfach aufgeben, auch wenn ich’s moralisch gesehen sehr schwierig fand und vor allem die Aussage halt einfach überhaupt nicht geht. Also sich hinzustellen und zu sagen, sorry, aber du bist uns nicht wert.
Raul: Das geht nicht.
Karina: Nee, aber so ist das leider.
Jonas: Raul wie ist es bei dir, jetzt im Anschluss an diese Podcast-Aufnahme musst du auch selber zum Arzt?
Raul: Ja, tatsächlich. Also ich bin ein hoffnungsloser Romantiker. Ich mag nämlich das Land eigentlich, wenn es diese ganzen Unannehmlichkeiten nicht gäbe, so etwas wie vielleicht schwierige Mobilität, von A nach B zu kommen, zum Arzt, zur nächsten größeren Stadt vielleicht oder eben auch die Barrierefreiheit des Ortes. Aber sonst auf dem Land, dann glaube ich, könnte ich mir schon vorstellen, irgendwo mit einer schönen Landschaft irgendwo zu wohnen. Oder mit einem Bauernhof oder am Meer. Da gibt es auch schönere Orte als Berlin, wo es im Sommer schön ist, wenn man draußen ist, aber sonst ist Berlin eher unangenehm kalt, wirklich grau, nass. Und da kann man jetzt nicht sagen, dass Berlin schön ist. Das heißt, ich würde für die Schönheit, für die Ästhetik gerne aufs Land ziehen, könnte mir auch vorstellen, in einem kleinen Haus zu wohnen, muss auch nicht allzu groß sein. Ich mag es auch, eine familiäre Umgebung zu haben. Also, wenn man die Nachbar*innen kennt und mag und man sich gegenseitig mag, wenn man sich grüßt, weil dieses Dorfgefühl habe ich auch da, wo ich gerade wohne in Berlin. Was glaube ich auch daran liegt, dass man mich relativ schnell wieder erkennt. Ein kleiner Mann mit Mütze im Elektrorollstuhl, das sieht man jetzt auch nicht jeden Tag. Und dann grüßt man, wird man eher gegrüßt und grüßt auch eher zurück. Sei es der Bäcker, der Supermarkt. Die Verkäufer erinnern mich, dort kennen mich alle schon und wundern sich, wenn man mal eine Weile nicht da war.
Jonas: Ich kann das total nachvollziehen, diese Landromantik, so wie er es gerade gesagt hat. Aber Karina, für dich wäre es dann quasi, wenn du den Landarzt dort hättest vielleicht in Anlehnung an solche Fernsehserien, was ja auch schon immer sehr romantisierend dargestellt wird.
Karina: Ja, na ja, also ich glaube, so etwas existiert heutzutage gar nicht mehr. Ich habe gestern erst in einem Artikel gelesen, dass es mittlerweile so wenig Landärzte gibt, dass die verschiedenen Bundesstaaten schon versuchen, die, naja nicht bestechen, aber es schmackhaft zu machen, mit Geld zum Beispiel. In Bayern gibt es wohl eine Landarzt-Prämie von 60.000 Euro oder die fördern Medizinstudienplätze für künftige Landärzte. Aber scheinbar hat das alles nichts gebracht, es will trotzdem einfach keiner aufs Land. Und ich glaube, es ist auch noch einmal schwieriger, je nachdem, was man für eine Erkrankung oder Behinderung hat. Ich habe vor Kurzem mit einer Freundin von mir gesprochen. Josephine, die ist Mama von einer Tochter mit ganz schwerem ME/CFS nach einer COVID-Infektion und die leben im sehr ländlichen Raum rund um Mittelfranken. Und ich habe Josephine mal gefragt, wie es eigentlich ist, auf dem Land zu leben und eine Gesundheitsversorgung zu brauchen, für ein sehr, sehr schwer krankes Kind. Und das hat sie geantwortet.
Einspieler Josephine: In ganz Deutschland gibt es leider keine einzige Klinik, die spezialisiert ist auf die Bedürfnisse von ME/CFS-Patient*innen, die dem Krankheitsbild gerecht wird. Wo man, wenn man hingeht, nicht befürchten muss, dass das eine Verschlechterung eintritt, dass eine Fehlbehandlung stattfindet, dass eine Stigmatisierung erfolgt. Selbst die Kliniken, die ME/CFS kennen und schon Patient*innen haben und behandeln, haben meist keine Erfahrung mit den schwer und schwerstbetroffenen Menschen, da diese normalerweise zu Hause sind. Für die medizinische Versorgung unserer Tochter brauchen wir immer Hausbesuche. Das heißt, wir sind darauf angewiesen, dass Leute den Weg zu uns auf sich nehmen. Ich denke schon, dass das in der Stadt einfacher ist, da es einfach viel mehr Anbieter gibt, dass die Wege kürzer sind. Und dass die Leute deswegen auch eher bereit sind, das auf sich zu nehmen, um dem Kind zu helfen. Hier auf dem Land sind wir mit weiteren Wegen bei vielen auf Unverständnis gestoßen und haben sofort eine Ablehnung bekommen, wenn es darum ging, als ich gefragt habe, ob die Menschen auch bereit wären, zu Hausbesuchen, zu uns zu kommen. Es gibt in ganz Deutschland nur sehr wenige Ärztinnen, die sich wirklich spezialisiert haben auf ME/CFS und die sich auskennen. Unsere Ärztin sitzt in München, das heißt, es ist eine große Entfernung, und wir haben das Glück, dass unsere Ärztin sich per Telemedizin mit der behandelnden Kinderärztin vor Ort austauscht. Das funktioniert aber auch nur deshalb so gut bei uns, weil unsere Kinderärztin die Erkrankung selber kennt und genau weiß, was sie auch zurückmelden kann und muss, welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt und sie das selber sehr gut einschätzen kann. Die Entfernung ist ein großes Problem, weil die Expertinnen selber die Kinder nicht sehen. Gerade die Kinder, die schwer betroffen sind und zu Hause sind, keine Reisen mehr auf sich nehmen können und dadurch fällt es auch den Experten schwer, die Situation wirklich gut einzuschätzen. Die Behandlungsmöglichkeiten sind immer so, dass man mit den behandelnden Kinderärzten vor Ort sich absprechen muss. In unserem Fall haben wir wahnsinniges Glück, weil unsere Kinderärztin, die Erkrankung kennt und uns so sehr gut unterstützen kann. Sie kennt auch die Medikamente, die man dafür einsetzen kann. Viele andere Kinderärzte haben das Problem, dass sie weder die Erkrankung noch die off-label Medikamente kennen, sich nicht trauen, etwas zu verschreiben, sehr zögerlich sind und dadurch den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen.
Jonas: Also auf der einen Seite ist es natürlich so, dass Hausbesuche ja schon so ein bisschen wie nach Luxus klingt, also dass es überhaupt möglich ist, also in einer Großstadt zu leben. Egal ob das jetzt, Berlin, Hamburg, München ist, wann kommt dort schon mal quasi die Hausärztinnen irgendwie vorbei, wenn mal was ist. Aber gleichzeitig habe man eben dort ein größeres, ein größeres Netzwerk. Jetzt nicht vielleicht selbst persönlich, aber man hat quasi eine größere Wahlmöglichkeit oder man hat mehr Angebote im Umfeld. Wobei man natürlich auch gleichzeitig sagen muss, dass gerade, sage ich mal, auch die Neuaufnahme von Patient*innen bei Hausarztpraxen generell ein großes Thema ist, beziehungsweise eine Schwierigkeit ist, weil viele Ärzt*innen genau wie du Karina, es gerade eben gesagt hast, dass sie eben auch keine neue Patient*innen mehr aufnehmen. Wobei du jetzt da schon länger in dem Sinne in Behandlung warst. Es also ist quasi ein Thema, was sehr viel damit zu tun hat, wie viele Angebotsmöglichkeiten es gibt. Und gleichzeitig natürlich auch, dass die Digitalisierung vielleicht auch dazu führt, dass man gar keine Person mehr so wirklich vor Ort benötigt. Also Stichwort Telemedizin oder eben Online-Sprechstunde, was es ja eben heutzutage eben auch schon gibt. Da braucht man auf dem Land eben nur gutes Internet. Das dann das nächste Thema.
Karina: Ja, wobei die Online-Sprechstunden, die gab es zwar während der Pandemie relativ viel, aber die sind mittlerweile auch alle wieder abgeschafft worden. Also das war ein großer Schritt in Richtung irgendwie Barrierefreiheit für einen Haufen chronisch kranker Menschen, dass sie diese Möglichkeit hatten, gerade wenn die Wege so weit sind. Aber wir sind ja wieder total zurückgegangen, so alles muss in Person passieren und wir haben das ja nicht weiter nach der Pandemie verfolgt.
Raul: Ich habe ja immer so ein bisschen Sorgen, dass diese Digitalisierung grundsätzlich nur dazu führt, dass man Patienten noch effizienter in einem bestimmten Zeitslot reindrücken kann, dass es aber nicht dazu führt, dass mehr Patienten bessere Behandlung bekommen.
Karina: Ich glaube, das ist sehr individuell. Also für so Leute wie mich, die teilweise echt nur eine Kleinigkeit brauchen, die ich auch total easy am Telefon machen könnte, aber wo ich dann irgendwie drei Stunden verschwende, um zu einem Arzt zu fahren und dann Rezept zu kriegen. Ich glaube, für mich würde es schon Sinn machen. Aber das stimmt schon, am Ende geht es halt immer irgendwie nur ums Geld, und es ist, glaube ich, das ganze Problem in diesem Gesundheitssystem.
Raul: Aber vielleicht müssen wir jetzt auch ein bisschen trennen. Also das Gesundheitssystem scheint ja ein Thema zu sein, dass egal wo du wohnst, irgendwie Probleme macht. Das steht jetzt nicht automatisch Stadt oder Land. Aber wenn man jetzt, sagen wir mal, nicht so viele Ärztinnen braucht, dazu würde ich mich jetzt zählen, ist es, glaube ich, ein Problem, dass er alle gleichermaßen betrifft. Die Frage ist, ob eine Arztpraxis auf einem Land tendenziell eher barrierefrei ist oder nicht. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das wahrscheinlich eher weniger der Fall ist und Hausbesuche sind aber vielleicht eher möglich. Meine Mutter war Hausärztin und auf dem Land und sie hat, glaube ich, die Hälfte des Tages im Auto verbracht.
Jonas: Eine mobile Praxis.
Raul: Ja, beziehungsweise die hat halt irgendwo in Brandenburg gearbeitet und musste da immer vor Ort sein. Bei Hausbesuchen und sehr viel Zeit kennt Brandenburg auf jeden Fall in und auswendig.
Karina: Also, du suchst dir deinen Wohnort nicht aus nach Gesundheitsversorgung, sondern?
Raul: Nach Barrierefreiheit. Komme ich von A nach B und wo ich arbeite? Also ich hab jetzt auch nicht so oft den Wohnort gewechselt. Aber, ich habe schon versucht, an der Arbeitsstelle möglichst nah zu sein. Und wenn das bedeutet, verkehrstechnisch gut gelegen ist, muss nicht geografisch nah sein, eher gut erreichbar.
Jonas: Du hast eben ja quasi auch so ein bisschen von der Land-Romantik gesprochen. Ich frage mich da auch immer so quasi was… Das hat natürlich auch, vielleicht auch etwas mit der eigenen Persönlichkeit zu tun. Aber was mag man mehr? Möchte man quasi vielleicht mit der eigenen Behinderung auch, sage ich mal, in einer Großstadt in der Masse untergehen und auch so ein bisschen anonym sein, im Sinne von jetzt irgendwie Blicken ausweichen und auch nicht immer als quasi klischeehaft der/die Behinderte wahrgenommen werden, sondern einfach so mit der Masse mitschwimmen oder so, wie du, Raul, es auch eben angedeutet hast, so ein bisschen, wenn man quasi wenn der Bäcker einen kennt, so dass man auch quasi weiß, okay, was sind die eigenen Bedarfe? Oder quasi, dass man sich nicht immer wieder unbedingt neu erklären muss, sondern dass die Leute wissen, okay, das ist die Person, die hat die Behinderungen, die braucht die und die Unterstützung. Und man wird quasi nochmal bewusster oder anders wahrgenommen. Wäre das für dich relevant, quasi welche Perspektive wäre dir da wichtig?
Raul: Also, wie gesagt, ich tue mich gar nicht so leicht damit, es jetzt 100 Prozent pro oder kontra zu sehen. Weil ich natürlich schon auch weiß, dass ich zum Beispiel auf Assistenz angewiesen bin und das wahrscheinlich nicht so einfach ist, auf dem Land zu organisieren, einmal der Behörde klarzumachen, dem Sozialamt, den SachbearbeiterInnen vorort, dass es das gibt, dass ich ein Recht darauf habe und dann aber eben auch, Assistenz zu finden, die mir im Alltag morgens und abends auch dabei hilft, zur Arbeit zu kommen, und so weiter. Sodass ich schon auch viele Menschen mit Behinderung kenne, die dann genau deswegen in die Stadt gezogen sind, weil auf dem Land das nicht so leicht zu bewerkstelligen war. Aber auf der anderen Seite können sich ja vielleicht auch, wenn man weniger Assistenzbedarf hat, auch Nachbarschaftsdienste ergeben und/oder entwickeln, die ich jetzt selber noch gar nicht auf dem Schirm habe. Und dieses, wie soll ich mal sagen, jedes Nahe, was ich schon auch ganz schön finde, dass man auf dem Dorf vielleicht eher, dass man jeden kennt und so, ist schon auch was Schönes. Aber wenn ich jetzt zum Beispiel neu in einem Dorf bin oder auf dem Land, dann bin ich natürlich auch der, der permanent angeguckt wird, die/der dann vielleicht auch Talk Of The Town ist und das ist dann auch wieder anstrengend. Das hat man in einer Großstadt wie Berlin eher weniger.
Jonas: Wieviel unterschiedliche Assistent*innen hast du?
Raul: Ich glaube, momentan rotieren sechs.
Jonas: Okay aber wäre zum Beispiel auch die Sache, wenn du jetzt quasi jetzt wirklich in einem ganz kleinen Dorf, Kaff, was auch immer lebst, gibt es sechs Leute, die nah genug sind oder quasi diesen Weg zu dir auch immer wieder aufnehmen, um Assistenz für dich zu sein?
Raul: Genau, also bei mir ist es ja so, dass morgens und abends immer jemand anderes kommt. Ich glaube, wenn ich auf dem Land wöhnte… wohnen täte…? Dann würde ich es wahrscheinlich eher so wochenweise organisieren. Also, dass ein Assistent pro Woche dann bei mir ist, sodass die dann auch besser planen können. Und die könnten dann auch aus umliegenden Dörfern oder Städten kommen. Sie müssten dann aber bei mir übernachten zum Beispiel und da bräuchte man eben auch eine entsprechende Wohnung, die das kann.
Jonas: Und gleichzeitig irgendwie… ich halte mich so ein bisschen an dieser Romantik, so ein bisschen fest, mit diesem Umgang und irgendwie ist eine größere Gemeinschaft, die es eben vielleicht auch gibt eben auf dem Land, dass man dort mehr zusammenwächst, während das vielleicht irgendwie in der Großstadt anonymer ist und teilweise also hat man ja, wenn man irgendwie in Mietshäusern wohnt, mit zehn und mehr Parteien, wo man selbst die eigenen Nachbarn irgendwie nicht mehr kennt. Also das es irgendwie wirklich so anonym ist. Und dass man eben nicht irgendwie wenig so selbst hausintern irgendwie Unterstützung da ist oder man eben von den unterschiedlichen Bedarfen weiß. Es wird manchmal, finde ich, immer so von besonderen Bedarfen besprochen oder auch Special Needs. Wobei ich das immer schwierig finde, weil ich finde, die Bedarfe, die Menschen mit Behinderung haben sind nicht besonders oder sehr speziell sondern es sind einfach Bedarfe, die einfach unterschiedlich sind. Also jeder Mensch hat unterschiedliche Bedarfe, und die sind weder irgendwie besonders noch speziell. Aber manchmal habe ich auch das Gefühl, und das merkt man ja auch ein bisschen durch die letzten Landtagswahlen, die stattgefunden haben, oder generell auch solche Umfragen, dass es ja auch einen Unterschied gibt in der Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung, also im Sinne von vielleicht Toleranz, die da ist, beziehungsweise einer Grad Offenheit, Vielfalt, die irgendwie mehr sichtbar ist, mehr gelebt wird. Also es gibt ja, wenn man die Wahlergebnisse sich anguckt und eben unterscheidet zwischen wie hat die Stadtbevölkerung gewählt, wie hat die Landbevölkerung gewählt ja schon Unterschiede in Sachen Konservativität und wie so, ja, mit generell Vielfaltsthemen irgendwie umgegangen wird.
Karina: Da gibt es einen großen Unterschied, aber auch zwischen quasi einzelnen Bundesländern. Und was da so die Einstellungen sind. Also wenn ich jetzt zum Beispiel mal das Extrembeispiel nehmen und auf San Francisco guck, wo ich ja ganz lang gewohnt habe, das war halt die, glaube ich, diverseste Stadt, die ich jemals gesehen habe, also mit einer riesigen LGBTQI -Community – super viele Menschen, die auch intersektional unterwegs sind, also ganz viele behinderte trans Menschen und so. Ich hatte eigentlich keine Chance, andere Menschen zu treffen, außer marginalisierte Menschen, was ich eigentlich ganz geil fand, weil das dann da halt irgendwie die Norm war und nicht die Minderheit. Da merkst du natürlich – auch wenn das alles Leute sind, die marginalisiert sind, dann sind die oft auch, oder meiner Meinung nach zumindest irgendwie offener und toleranter für eben andere Diversitätsthemen. Und ich glaube, das ist in Deutschland schon auch ähnlich, dass du in den Großstädten hast du einfach mehr Leute, die doch recht liberal sind, und oft auf dem Land ist es vielleicht noch einen Ticken konservativer. Also, ich meine, ehrlicherweise, ich bin auf dem Land in Bayern aufgewachsen, das ist nochmal ein anderes Thema.
Jonas: Ich wollte grade sagen, wie war das da für dich?
Karina: Es ist eigentlich schon spannend, weil zum Beispiel diese Erfahrungen mit „Menschen verstehen unsichtbare Behinderungen und Erkrankungen nicht“ und die Vorurteile daraus, die hab ich überall erlebt, ob das auf dem Land war oder in einer Großstadt oder selbst in den USA , also, das war irgendwie universell. Das hat für mich keinen Unterschied gemacht. Was ich auf dem Land total anstrengend fand war, ich hatte immer das Gefühl, jeder weiß irgendetwas über mich. Und es war meistens nicht unbedingt die Wahrheit. Also das ist wirklich dieses Klischee. Du gehst morgens zum Bäcker und der erzähl dir irgendeine Story von irgendeiner Person aus dem Dorf, die du gar nicht wirklich kennst. Aber du weißt danach die ganze Lebensgeschichte und 90 Prozent davon sind Bullshit.
Jonas: „Frau Sturm, haben Sie schon gehört…“
Karina: Ja, genau das war wirklich schlimm. Und das Gleiche ist halt über mich erzählt worden. Und ich war dann halt diese seltsame, kranke Personen da. Ja, also, das war am Anfang schwierig. Das hat sich dann auch irgendwann über die Zeit gelegt. Wenn du mit den Leuten ins Gespräch kommst, sind ja auch alles nette Leute und du musst halt diese ganzen Vorurteile dann irgendwann ausräumen, und das ist anstrengend und, weiß ich nicht, hatte da manchmal auch einfach keine Lust dazu. Ich will nicht die ganze Zeit darüber reden, irgendwie, wie es wirklich ist, krank zu sein. Was ist die Vorstellung der Menschen? Auf der anderen Seite habe ich auch auf dem Land super viel support bekommen von Leuten, weil wir gerade schon gesagt haben, jeder kennt jeden. Die Nachbarn kennen sich gegenseitig, wenn du irgendetwas brauchst, du gehst da einfach mal rüber und fragst, wie, um was weiß ich, ein paar Eier, Milch, sonstwas oder ob dich mal jemand zum Bahnhof fahren kann. Und die Leute machen das halt auch, weil die dich kennen. Und da war auch ganz viel so – es ist auch viel Vereinsaktivität wo ich aufgewachsen bin. Meine Eltern sind auch viel involviert in Feuerwehren und so, und deswegen war da immer Community da. Und es waren immer Leute da, die auch einfach gesagt haben, Hey, wenn ihr irgendetwas braucht, finanziell oder sonstwie support, dann sagt es einfach. Und wir machen das. Und das ist zum Beispiel auch was, weiß ich nicht, ob ich das in einer riesen Stadt, in der ich alleine bin und komplett anonym bin, da auch so hätte, beziehungsweise wie lange es dauern wird, mir da überhaupt so ein Netzwerk aufzubauen.
Raul: Ich finde auch, ehrlich gesagt, vielleicht tuen wir dem ganzen Pro-und-Kontra auch ein bisschen Unrecht, weil Dörfer sind ja auch unterschiedlich. Und auch das Land ist unterschiedlich. Wahrscheinlich kannst du…
Jonas: Kennst du ein Dorf, kennst genau dieses eine Dorf.
Raul: Genau. Und vielleicht gibt es in Brandenburg total coole Dörfer, aber wir denken sehr schnell irgendwie an Rechtsradikalismus. Und da tut man wahrscheinlich auch den Menschen vor Ort meistens Unrecht. Und ich kenne total schöne Geschichten von Menschen, die auf dem Dorf oder auf dem Land lebten, die dann aber oft, wenn die dann zum Beispiel in die Pubertät kamen und dann irgendwie schon auch das Bedürfnis nach Party und Gemeinschaft hatten, dann die Großstadt vermisst haben und dann im Erwachsenenleben hinzogen. Gleichzeitig kenne ich aber auch viele Menschen, denen die Großstadt zu viel wurde und dann mit ihren Kindern, die noch klein sind, aufs Land ziehen. Und wahrscheinlich ist es einfach so ein permanenter Kreislauf, der nicht unbedingt gut oder schlecht sein muss.
Karina: Da habe ich mit Lisa darüber gesprochen. Ich weiß nicht, ob ihr euch noch an Lisa erinnert. Die war zu Gast bei uns in der Folge zum Thema Pränataldiagnostik. Und die hat damals aus ihrem Leben mit ihrer behinderten Tochter Frieda erzählt. Lisa lebt nämlich auch sehr, sehr ländlich im Raum rund um München und findet das Dorfleben eigentlich ganz hilfreich bei Inklusion. Das ist, was sie erzählt hat.
Lisa: Ich glaube, Inklusion ist auf dem Land in gewisser Weise etwas einfacher, weil die Leute kennen sich auf dem Dorf. Sie fühlen sich eher verpflichtet, ein Kind mit Inklusionsbedarf aufzunehmen. Aber sie trauen sich, glaube ich, auch eher, einfach, weil die Hemmschwelle, wenn persönlicher Kontakt schon da ist und wenn das Kind einfach schon von Anfang an im Dorf aufwächst, dann aufzunehmen in die Betreuungseinrichtung. Gleichzeitig ist es natürlich, wenn so eine persönliche Basis schon da ist, die Kommunikation einfacher. Und das ist natürlich super wichtig, um einfach die Inklusion gut zu gestalten, weil jedes Kind mit Förderbedarf und mit verschiedensten Behinderungen braucht einfach individuelle Lösungen. Und dafür ist einfach die Kommunikation von Eltern und aber auch der Betreuungseinrichtung super wichtig.
Man gehört von Anfang an dazu, die Kinder wachsen miteinander auf. Dadurch kann wirklich von Beginn an irgendwie so ein Zugehörigkeitsgefühl aufgebaut werden, dass es nicht geben würde, wenn man sich nicht immer auf dem Spielplatz, in der Babygruppe, im Kindergarten, dann in der Grundschule immer wieder treffen würde. Und wenn da einfach schon so ein persönlicher Kontakt zwischen den Kindern da ist, dann gibt es da schon viel weniger Hemmungen. Und dann wachsen auch die Eltern in die Sache mit rein, die ja oft größere Probleme, glaube ich, oft haben mit einem Förderbedarf oder den Behinderungen von Kindern und wissen nicht so intuitiv damit umzugehen, wie es Kinder können. Deswegen ist es, glaube ich, echt auf dem Dorf so erleichternd, weil die Kinder einander nicht auskommen. Also die Wege kreuzen sich immer wieder. Man trifft sich beim Einkaufen, auf einem Spielplatz, beim Kinderturnen, im Kindergarten, spätestens in der Grundschule wieder. Da kommt man einander nicht aus, und da passiert Inklusion viel, viel leichter als in der Stadt, wo man entweder Kindergartenkontakte hat oder Kontakte vom Spielplatz. Das ist auf dem Dorf einfach alles irgendwie eins. Und dadurch bildet sich schon irgendwie so eine Einheit. Und auch die Schwächeren werden mitgenommen.
Jonas: Das klingt doch erstmal ganz positiv. Also auch dieses zwangsläufig dann eben eine gewisse Sichtbarkeit, die geschaffen wird, weil man sich auch gar nicht ausweichen kann.
Raul: Ungünstig wird es halt, wenn du die Leute nicht leiden kannst…
Jonas: Genau, also da wäre es natürlich dann quasi optimal, dass man vielleicht eine gute Verkehrsanbindung hat, um irgendwie schnell auch wieder wegzukommen. Und das wäre zum Beispiel etwas, was mir persönlich sehr, sehr wichtig wäre. Raul, du hast es eben auch schon mal angesprochen gehabt, Stichwort Mobilität. Ich glaube, dass das Landleben kann noch so schön sein, wenn man aber quasi, wenn dann nur der Bus einmal am Tag fährt, ist es gerade auch für mich als Mensch mit Sehbehinderung, der nicht Auto fahren kann, also schon kann, aber nicht darf, oder quasi jetzt auch nicht mit dem Fahrrad, irgendwie groß irgendwie unterwegs ist und so, sondern ich eben darauf angewiesen bin, dass es ein gutes Netzwerk des öffentlichen Personennahverkehrs gibt. Und das ist dann eben auch schwierig, wenn das eben auf dem Land eben nicht gegeben ist. Denke mal, für dich, Karina, ist es jetzt nicht so das Thema – für dich, Raul, ja, wie du gesagt, ist das genauso relevant.
Raul: Ja. Und gleichzeitig muss ich aber auch sagen, wahrscheinlich mache ich mir jetzt viele Feinde… dass es schon auch erstaunlich ist, wie viele Busse, die dann auch auf dem Land fahren, dann am Ende doch irgendwie barrierefrei sind. Also viele von denen haben halt Rampen. Das glaube ich, hat sich schon ganz gut entwickelt in den letzten Jahren…wenn er denn fährt. Und wohin fährt er – zu einem Bahnhof, wo der Bahnhof keinen Aufzug hat. Das sind dann, glaube ich, schon die größeren Probleme. Oder der Regionalexpress fährt nur bis 17 Uhr, habe ich auch schon einmal erlebt. Und dass man dann, wenn man eben kein Auto hat, schon wahrscheinlich sehr sehr aufgeschmissen ist. Ich habe neulich mal so schöne Projekte gesehen, die funktionieren aber für mich als Rollstuhlfahrer auch nicht, dass man so Mitfahrgelegenheiten bildet, in dem man einfach so eine Wartebank an Verkehrsknotenpunkten auf dem Land installiert, wo man einfach die Landbewohner*innen motiviert, einfach jemanden mitzunehmen, der auf dieser Bank sitzt.
Jonas: Quasi wie so ein fester Tramper-Punkt.
Raul: Genau, aber eben von Bürger*innen für Bürger*innen, oder auch von der Stadt oder von der Region installiert und auch gewollt. Und dass man versucht, so ein bisschen auch Nachbarschaftsverantwortung zu übernehmen. Problematisch wird es, wenn jemand vorbeifährt oder wenn es regnet oder wenn du nicht weißt, ob du, wie du zurückkommst.
Karina: Oder Sicherheit. Es klingt jetzt nicht so… selbst wenn ich die Leute kenne, weiß ich nicht, ob ich da einfach mit jeder Person, die vorbeifährt, mitfahren will.
Raul: Das stimmt – der ÖPNV wäre die Antwort, die ausgebaut werden oder ausgebaut sein müsste. Sonst würde ich als rollstuhlfahrender Mensch mich gezwungen fühlen, den Führerschein zu machen und ein Auto zu kaufen. Was ich beides als Stadtmensch nicht habe und brauche.
Jonas: Und gleichzeitig ist eben ja das Stichwort Barrierefreiheit einfach ein sehr, sehr großes. Also auch da wieder, dass natürlich in der Stadt bei weitem nicht alles barrierefrei ist – also eher viele Sachen nicht. Aber man eben dort dann die Möglichkeit hat, dass vielleicht von den, von den hundert Sachen, die man sucht, es sind vielleicht irgendwie zwei barrierefrei, und auf dem Land gibt es aber statt hundert nur zwei. Und das sind dann eben die beiden, die nicht barrierefrei sind. Also je nachdem, egal ob es jetzt Café ist oder irgendwelche anderen öffentlichen Einrichtungen, dass dort eben es einfach grundsätzlich weniger Angebot vielleicht dann eben gibt. Und wenn man dann sagt, okay, man kann halt eben nicht mit dem Bus oder mit der Bahn, weil diese eben auch nicht häufig fährt oder nicht barrierefrei ist, dann eben auch sich auf den Weg machen zum nächsten Versorgungspunkt in dem Sinne.
Raul: Genau, wobei jetzt auch mein Leben nicht so aussieht, dass ich jede Woche zum Arzt renne/fahre. Die meiste Zeit, warum ich mobil sein muss, muss ich wegen der Arbeit sein. Und wenn man Arbeit anders gestalten würde, Stichwort Homeoffice oder so, dann könnte ich mir schon auch eher vorstellen, auf dem Land eher zu sein. Einfach auch, weil die Ruhe auch die ist, die mir in der Großstadt am meisten fehlt, auch mal abzuschalten, runterzukommen. Aber vielleicht ist es, wie so meistens, dass ich das als Großstädter nur denke, weil das Gras auf der anderen Seite grüner ist, also wenn ich dann auf der anderen Seite wäre, dann würde ich vielleicht auch die Stadt vermissen und die Nähe und die Erreichbarkeit von jedem jederzeit wenn ich das möchte. Aber selbst wenn es um Freundschaften geht oder Familie geht, wie oft sieht man denn seine besten Freund*nnen oder Familie? Das sind dann vielleicht auch nur zwei, dreimal im Monat. Das rechtfertigt für mich jetzt nicht, die ganze CO2-Verschmutzung in einer Großstadt und den Lärm und den Krach und die Staus und so zu akzeptieren.
Karina: Ich habe da eine ganz spannende Studie vom BMAS dazu gelesen, die ist jetzt nicht explizit aufgeteilt in Stadt oder Land. Aber da ging es um Barrieren im öffentlichen Raum versus an Verkehrsmitteln. Also Menschen mit Behinderung in Privathaushalten, in Einrichtungen und so weiter gefragt. Und die Leute in Privathaushalten meinten, für die ist es… also Hindernisse auf der Straße sind das größte Problem, dann Lautsprecheransagen seien nicht verständlich genug, dann das offensichtliche: der Aufzug fehlt oder ist kaputt. Automaten sind zu schwer zu bedienen, oder Pläne und Aushänge sind zu schwer zu lesen. Und bei den Barrieren in Verkehrsmitteln haben die Leute aus Privathaushalten gesagt, es gäbe zu wenig öffentliche Verkehrsmittel, was irgendwie anscheinend in Stadt und Land ein Problem ist. Die verfügbaren sind nicht nutzbar. Es gibt nicht genug Taxen oder halt eben keine barrierefreien Taxen. Und die Leute können sich kein Auto leisten.
Raul: Was ich krass finde: ich bin ja relativ häufig auf dem Land unterwegs, irgendwelche Vorträge haltend oder Lesungen machend und wie teilweise ausgestorben dann Bahnhöfe zum Beispiel sind inzwischen. Jedes Geschäft, das es da drin mal gab, ist zu. Es gibt kaum noch Bahnpersonal. Und wenn ich dann zufälligerweise nach 17/18 Uhr an einem Bahnhof ankommen will, dann sagt die Deutsche Bahn zu mir, das geht nicht, weil der Bahnhof kein Personal mehr hat und das macht mir schon Sorge, wenn dieser Fachkräftemangel dazu führt, dass die Mobilität von behinderten Menschen immer weiter eingeschränkt wird, weil Bahnhöfe, Züge und so weiter nicht so barrierefrei sind, dass ich ohne fremde Hilfe ein- und aussteigen kann.
Jonas: Das ist so ein großer Rattenschwanz, der da einfach hinterherzieht. Aber gleichzeitig, das war eben ja schon ein bisschen Thema, dass dieses Miteinander und auch, sage ich mal, Aufeinandertreffen, dass viele, ja, vielleicht auch Menschen mit Behinderung wegen der Versorgung, wegen der Möglichkeit, wegen der Barrierefreiheit dann sich eher irgendwie im städtischen Raum bewegen oder dort leben, gleichzeitig es aber auch sehr viele Einrichtungen gibt wie Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Fördereinrichtungen. Also früher sogenannte Sonderschulen oder auch Wohnheime, die ja trotzdem selten direkt in der Innenstadt sind oder Downtown, sondern auch so ein bisschen ausgelagert werden, so in den Speckgürtel der Region, also nicht komplett irgendwie aufs Land raus, aber schon so ein bisschen, schon so ein bisschen außerhalb. Es widerspricht eigentlich so ein bisschen auch unseren Bedürfnissen, beziehungsweise dem, was, glaube ich, Menschen mit Behinderung für ein Bedürfnis haben.
Raul: Da fällt mir eine Anekdote ein: ich habe vor ein paar Wochen jemanden kennengelernt mit seinem elektrischen Rollstuhl, der auf dem Land wohnt. Und der hat sich ein Akku-Pack auf seinen Rollstuhl bauen lassen, einen sogenannten Range-Extender, damit er einfach weiter fahren kann. Der Akku hält normalerweise so 20 Kilometer…
Jonas: …also eine Powerbank.
Raul: Eine Powerbank für seinen Rollstuhl, damit ist er jetzt… 40 Kilometer kann er jetzt weit fahren. Und er meinte, damit komme ich dann auch von Dorf zu Dorf. Und das fand ich interessant. Das ist auch eine Art und Weise. Andere würden halt aufs Fahrrad steigen. Und der baut sich halt einen Range-Extender in seinen Rollstuhl.
Jonas: Heißt also, wenn man jetzt irgendwann mal eine Person im Elektrorollstuhl auf der Landstraße sieht…
Raul: …hat der auch ein Nummernschild. Ich weiß nicht, was man macht, wenn es regnet oder kalt ist. Aber das ist das gleiche Problem wie bei Radfahrer*innen.
Jonas: Ich meine, das ist dann so kreativ gedacht in dem Sinne. Und deshalb finde ich es eigentlich ganz gut und auch wichtig, wenn eigentlich solche Einrichtungen… also erst mal, wenn es keinen Sondereinrichtungen gäbe, und wenn, dass es einfach ein bisschen mehr zusammenwächst, weil ich glaube, dass das Thema Schule und Inklusion und dieses, schon im frühkindlichen Alter auch einfach Begegnungen schaffen ist sehr, sehr wichtig.
Karina: Ja, total. Da hatte ich auch noch mal kurz mit Lisa drüber gesprochen, die mir erzählt hat, wie es in ihrer Region mit Friedas Inklusion so aussieht.
Lisa: Bei uns lief die Inklusion am Anfang ganz holprig an und wurde dann aber innerhalb kürzester Zeit durch viele Gespräche und einfach individuelles Hinschauen und individuelle Lösungen supergut und hat echt wirklich funktioniert. Die Bereitschaft der Einrichtung war total da, Inklusion zu machen. Körperbehinderungen waren jetzt eher neu. Das hat man eben am Anfang gemerkt und hat dann aber zusammen einfach Lösungen gefunden, was total schön war und jetzt einfach seit – sie ist jetzt das vierte Jahr im Kindergarten – funktioniert einfach die Inklusion hervorragend. Ja, ich glaube, das macht es einfach leicht, dass ich im Dorf bekannt war, dass es, man einfach schon einen persönlichen Kontakt hatte. Die Erzieherin von der Frieda kennt mich, als ich noch klein war, kennt mein Mann, als er noch klein war. Die Großeltern kennen sich, also, es ist einfach, man ist ineinander verwoben in einem Netzwerk auf dem Land, und da ist natürlich auch eine gute Basis für die Kommunikation da. Und ich glaube, eben dieses dörfliche Miteinander hat uns das schon sehr erleichtert. Und eben die Bereitschaft auf allen Seiten, da eine einfach diplomatische und gute Lösung fürs Kind zu finden, einfach echt auch noch einmal befeuert.
Jonas: Ich glaube, das ist natürlich auch so, dass, wenn man sich irgendwie engagieren will, man vielleicht irgendwie im Stadtgebiet mehr so auch in Personenvernetzung mit Aktivismus hat. Aber das es ja eben auch sehr, sehr viele gute Organisation gibt so im ländlichen Bereich, also, dass auch dort Aktivismus trotzdem auch möglich ist. Ich meine oder wie sind deine Eindrücke, Karina, dort gewesen, als du damals auf dem Land gewohnt hast oder ja immer noch, immer noch jetzt nicht in einer Großstadt lebst?
Karina: Ich habe mich oft relativ alleine gefühlt, wenn ich ehrlich bin. Ich hoffe, meine Eltern hören sich das hier nicht an, sonst sind sie wieder traurig.
Jonas: Grüße!
Karina: Grüße, hey Mama! Aber ne, es ist halt immer, wenn, also wenn du etwas Seltenes hast oder also einfach eine chronische Krankheit, die viele Leute nicht kennen, nicht verstehen, da ist wenig Gemeinsamkeit irgendwann. Also, ich hab mich ja dann in eine Richtung entwickelt, in der ich auch viel irgendwie aktiv geworden bin. Artikel geschrieben habe über Behinderung, Bücher geschrieben habe, jetzt in diesem Podcast bin und das sind alles Themenbereiche, die viele andere Menschen als eine Nische sehen und nicht verstehen und wenig Berührungspunkte da sind, das heißt, man hat automatisch irgendwie einfach viel, viel weniger Gemeinsamkeiten. Und ich glaube, das ist auch gar nicht irgendwie absichtlich oder irgendwie böse gemeint. Also ich interessiere mich ja dann gleichermaßen vielleicht nicht so viel für deren Einsatzgebiete. Ja, aber dadurch steht man auf dem Land doch relativ alleine da, weil es einfach nicht so viele Menschen gibt, die halt im selben Bereich irgendwie Interesse haben. Deswegen bin ich ja so viel in Berlin, weil es da so viele Menschen gibt, die genau das machen, was ich auch mache. Und da ist es sehr viel einfacher für mich, irgendwie Anschluss zu finden.
Jonas: Ich glaube, dass auch noch mal ein Unterschied, ob man jetzt, sage ich mal, gleichgesinnte Personen sucht, die vielleicht die gleiche Behinderung haben, um dort irgendwie eine Vernetzung zu haben und Erfahrungen auszutauschen, was vielleicht die einen oder anderen Wehwehchen angeht oder wie gesagt, Bedürfnisse auch sind. Aber wir ja auch trotzdem… wobei Menschen mit Behinderung keine homogene Gruppe sind, aber die das ganze Jahr so ein bisschen auch größer denken. So ein bisschen versuchen, vielleicht irgendwie eine Community zu sein. Und das ist natürlich dann vielleicht noch mal leichter, wenn es darum geht, jetzt nicht irgendwie eine Person zu suchen auf dem Land, die genau die gleiche Behinderung hat wie man selbst.
Karina: Ich glaube, jeder sucht irgendwie nach Zugehörigkeit und nach Community. Und das ist halt irgendwie einfach schwierig, wenn es so wenig Menschen gibt, die da überhaupt, also im Bereich Aktivismus, aktiv sind. Also ich habe schon viel Aktivismus auf dem Land erlebt, nur halt nicht unbedingt per se im Bereich Behinderung. Und das war halt der Bereich, für den ich mich interessiert habe.
Raul: Aber was ich ein bisschen beneide auf dem Land ist so dieses Ehrenamt. Es gibt ja dann Feuerwehr und Pfadfinde*innen und vielleicht auch Dorf- und Kirchengemeinschaft.
Jonas: Wärst du gern bei der Freiwilligen Feuerwehr?
Raul: Ich glaube schon. Ich glaube… ich wäre jetzt vielleicht kein Feuerwehrmann, aber dieses Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl, das muss schon etwas Besonderes sein. Wenn ich jetzt bei meinen Cousins mir so anschaue, wie die zum Beispiel auch sportlich in Vereinen die ganze Zeit aktiv waren und das einfach jedes Wochenende Beschäftigung war. Klar geht das auch in einer Großstadt. Aber, ich glaube, auf dem Land ist es auch normal…sagen wir mal: schöner. Stell ich mir so vor zumindest.
Jonas: Und gleichzeitig finde ich es total wichtig, aber auch noch einmal zu betonen, dass natürlich vielleicht auf dem Land weniger Angebote sind, also auch für… unabhängig jetzt von Inklusion, dass es vielleicht weniger Sachen gibt, dass die Großstadt mehr hergibt. Aber Inklusion ist ja trotzdem ein Menschenrecht. Also im Sinne von, wir reden jetzt nicht darüber, dass quasi ein Nice-To-Have wäre, wenn irgendwie auf dem Land irgendwie auch Arztpraxen barrierefrei wären oder wenn der öffentliche Personennahverkehr barrierefrei wäre, sondern es ist einfach, die UN-Behindertenkonvention sagt: Inklusion ist ein Menschenrecht. Teilhabe ist ein Menschenrecht, und deswegen ist es irgendwie nichts, wo wir großartig irgendwie darüber diskutieren sollten oder beziehungsweise sagen würden: Ach, das wäre, das wäre schon nett, wenn es auf dem Land das gäbe, aber es ist halt ein… das ländliche Gebiet, da gibt es halt weniger. Und dann geben wir uns damit irgendwie zufrieden. Es ist total schön, diese Beispiele auch heute gehört zu haben, dass es funktionieren kann, dass dort ein Zusammenhalt ist. Dass auch Begegnung stattfindet. Eine Sichtbarkeit stattfindet von Menschen mit und ohne Behinderung, auch quasi im frühkindlichen Alter. Aber dass es trotzdem darum geht, dass gewisse Sachen eben auch es umzusetzen gilt, weil jedem Menschen mit Behinderung oder ohne Behinderung sollte ja die Wahlfreiheit haben, selber entscheiden zu können, möchte ich auf dem Land leben/möchte ich in der Stadt leben. Und ich möchte einfach in einem Umfeld sein, wo meine Bedürfnisse wahrgenommen und erfüllt werden und es mir persönlich irgendwie gut geht.
Raul: Absolut.
Jonas: Deswegen ist es schön, mal eure Erfahrungen zu hören, wohnt ihr in der Stadt, wohnt ihr auf dem Land, habt ihr dort positive oder negative Erfahrungen gemacht? Schreibt uns gerne direkt als Kommentar unter diesem Podcast. Oder schreibt uns eine Mail an [email protected]. Alle Informationen zu diesem Podcast findet ihr natürlich auch in unseren Shownotes auf www.dieneuenorm.de. Diesen Podcast findet ihr selbstverständlich auch in der ARD-Audiothek. Und wir freuen uns, wenn ihr dann beim nächsten Mal – egal aus der Stadt oder vom Land – auch wieder mit dabei seid. Bis dahin.
Raul, Karina und Jonas: Tschüß