Die Neue Norm: „Drei Journalist*innen, zwei Rollstühle und eine Sehbehinderung: Die Journalist*innen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 15: „Schule und Inklusion“
Raúl: Ey Jonas, Judy und ich haben einen Witz mitgebracht. Stell dir folgende Situation vor:
Judyta: Treffen sich zwei Rollstuhlfahrer, der eine hat unzählige Prellungen im Gesicht und ein blaues Auge.
Raúl: „Sag mal, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?“
Judyta: „Ich war bei den Paralympics.“
Raúl: „Boxen?“
Judyta: „Nein, Hürdenlauf.“
Jonas: Boah, Leute, können wir jetzt bitte anfangen, es ist auch für mich die sechste Stunde hier.
Zitat: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf Grundlage von Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel, die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken. Menschen mit Behinderungen, ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen, Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen. Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung von allgemeinen Bildungssystemen ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.“
Das war ein Auszug aus dem Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention zum Thema Bildung. Deutschland gehört eben auch zu jenen dort beschriebenen Vertragsstaaten und damit herzlich Willkommen zum Podcast „Die neue Norm“!
Es geht um Schule und Inklusion. Wir wollen uns in dieser Folge mit der Frage beschäftigen: Wie ist der Status quo bei Inklusion? Und ist die Inklusion, wie man es in manchen Zeitungen auch lesen kann, wirklich gescheitert? Was sind Stellschrauben, die verändert werden müssen, damit Inklusion gelingen kann? Und aus aktuellem Anlass stellen wir uns natürlich auch die Frage, ob Schüler*innen mit Behinderungen in Zeiten der Corona-Pandemie vergessen werden vom Bildungssystem. Mir zugeschaltet sind Judyta Smykowski und Raúl Krauthausen.
Raúl: Hallo!
Judyta: Hallo!
Jonas: Mein Name ist Jonas Karpa. Bevor wir aber tief in das Thema einsteigen, würde ich gerne noch mal auf unsere letzte Podcast-Folge zu sprechen kommen, wo es um Mobilität geht. Und wir haben eine Nachricht bekommen auf www.dieneuenorm.de und das ist eine Reaktion auf unsere Diskussion, dass sowohl Menschen mit Sehbehinderung als auch Menschen, die im Rollstuhl unterwegs sind, in der Umgebung andere Voraussetzungen brauchen. Menschen, die im Rollstuhl unterwegs sind, brauchen ja niedrige Bordsteine beziehungsweise gar keine Bordsteine, um sich mit dem Rollstuhl gut bewegen zu können. Blinde Menschen brauchen eben Ecken und Kanten, um sich mit dem Langstock orientieren zu können. Und die Nachricht, die wir bekommen haben, kommt aus der Schweiz, und dort gibt es die SIA-Norm 500. Und wenn es um Normen geht, da sind wir natürlich auf jeden Fall die richtigen Ansprechpartner*innen. Und diese Norm für bauliche Begebenheiten besagt, dass diese Stufen und Ecken und Kanten drei Zentimeter hoch sein sollen beziehungsweise hoch sein müssen. Das ist anscheinend diese magische Zahl, denn diese drei Zentimeter reichen aus, dass sich Menschen mit Sehbehinderungen, blinde Menschen orientieren können und nicht einfach vom Bürgersteig runter auf die Straße gelangen. Und drei Zentimeter reichen auch aus, damit Menschen, die im Rollstuhl unterwegs sind, egal, ob es jetzt Elektrorollstuhl oder der gute, alte, handbetriebene Rollstuhl ist, eben diese Kante hochkommen. Drei Zentimeter, eine neue Norm.
Raúl: Ich finde es total gut zu wissen, dass es sogar schon geregelt wurde und einmal ausgefochten wurde zwischen den blinden Menschen und den Menschen im Rollstuhl. Und das kann man auch in Zukunft allen Politiker*innen und Verantwortlichen, die immer noch meinen, dass das ja noch in der Diskussion sei, um die Ohren hauen, weil da gibt‘s Klärung, das ist schon geklärt.
Jonas: Magische drei Zentimeter. Jetzt möchten wir aber über Schule und Inklusion sprechen. Und zwar: wie sind unsere Erfahrungen in der Schule gewesen? Wir können auch da nochmal sagen, dass ihr beide ja eure Behinderung von Geburt an habt und auch eure Schulzeit mit Behinderung erlebt hat. Bei mir war das nicht der Fall. Wie war eure Schulzeit, die ja eigentlich gar nicht so lange her ist, oder?
Judyta: Das ist ein sehr dehnbarer Begriff, oder Raúl?
Raúl: Es war im letzten Jahrhundert, so viel können wir sagen.
Judyta: Nein, das…ja, okay, hat sie angefangen, aber nicht eigentlich aufgehört, jedenfalls…
Raúl: Bis zur Jahrhundertwende.
Judyta: Nee, bei mir nicht!
Raúl: Ich bin bis zur Jahrhundertwende zur Schule gegangen. Es war eigentlich sogar eine Jahrtausendwende.
Judyta: Ja, ich bin bis 2009 zur Schule gegangen.
Jonas: Aber den Rohrstock habt ihr nicht mehr erlebt.
Judyta: Nee, aber den Overheadprojektor!
Raúl: Genau, und die Matritzenblätter. Kennt ihr die noch, die nach Alkohol rochen?
Judyta: Nee, was ist das?
Raúl: Das ist, ja, die billige Art des Kopierens. Ich glaube, die kamen noch direkt von Guttenberg. Das war so ein ganz besonderes weiches Papier, das irgendwie, ich weiß nicht genau, wie die Technik funktioniert, aber diese Dinge rochen immer, wenn man sie frisch kopiert hat, nach Alkohol.
Jonas: Deshalb bist du immer so gern zur Schule gegangen?
Raúl: Deswegen trinke ich jeden Abend schön mein Piccolöchen.
Judyta: Oh je, das fängt hier schon an mit Verharmlosung von Alkoholismus.
Jonas: Es hat euch augenscheinlich die Schulzeit nicht geschadet oder…
Judyta: Die einen sagen so, die andern sagen so.
Raúl: Ja genau, fragen Sie unsere Eltern. Aber zurück zum Thema, also, wie war unsere Schulzeit für mich? Ehrlich gesagt, ich habe erst nach meiner Schulzeit mitbekommen, dass die inklusive Schule, auf die ich ging, etwas Besonderes war. Also gar nicht der Standard, sondern dass es eine der ersten Schulen in Deutschland war, die Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam beschult hat. Und deswegen habe ich das nie entweder zu schätzen gewusst oder hinterfragt. Und bei dir, Judyta?
Judyta: Ich hatte einen ganz tollen Schulleiter im Gymnasium, also herzliche Grüße an dieser Stelle nochmal, dem ich sehr viel zu verdanken habe, der meine Anliegen und mich auch als selbstverständlich genommen hat in dieser Schule. Ich gehörte dazu, und er hat alles getan, dass ich auch wirklich das Gefühl hatte und hat mich ernst genommen. Das fand ich sehr schön. Das war so eine tolle Erfahrung als Jugendliche, einfach mal diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit mir. Er hat dafür gesorgt, dass die Schule auch barrierefrei ausgebaut wurde. Das heißt, es wurde ein rollstuhlgerechtes WC eingebaut.
Jonas: Nur für dich? Warst du die einzige auf der Schule?
Judyta: Nee, ich war nicht die einzige, aber ich kann, glaube ich, schon sagen, mit mir hat das alles angefangen, diese Inklusion.
Jonas: Also, das ist jetzt das Judyta-Smykowski-Gymnasium in Hamburg.
Judyta: (lacht) Nein, also ja, ich war da schon eine der ersten und genau. Aber ich glaube, es braucht diese Pionierarbeit in diesen vielen Bereichen. Ich glaube, das begegnet uns in ganz, ganz vielen anderen Bereichen, wenn man als behinderter Mensch aufwächst, dass man überall der oder die erste ist, genau also diese Selbstverständlichkeit werde ich nie vergessen. Die habe ich auch mitgenommen und habe dann auch irgendwann, als ich erwachsen wurde, irgendwie auch gedacht, ich sollte diese Selbstverständlichkeit auch irgendwie in Bezug auf vielleicht den Arbeitsmarkt auch mitnehmen und diese Ansprüche stellen. Also sehr, sehr gute Erfahrungen im Großen und Ganzen. Natürlich gab es auch die Ausgrenzungen und die Blicke, aber auch Lehrer*innen, die zum Beispiel gesagt haben, wenn ich zu spät kam: „Können wir dir irgendwie helfen?“ anstatt „Du bist zu spät“. Also vielleicht der Behindertenbonus auch dort wieder, sozusagen, den ich mir da ein bisschen zu Eigen gemacht habe, aber ich glaube, Raúl, du bist da noch ein viel größerer Experte als ich.
Raúl: Mit Behindertenbonus ausnutzen? Oh Gott, ja, da gibt es eine Geschichte, die ich ein bisschen bereue, aber auch ziemlich witzig finde. Und zwar hatten wir, ich glaube, es war siebte oder achte Klasse, im Englischunterricht in einer Klassenarbeit die Aufgabe, einen Brief an einen imaginären Brieffreund zu schreiben. Und ich dachte dann, okay, die Gelegenheit nutzt du. Die Lehrerin, wusste ich, ist sehr nah am Wasser gebaut gewesen und …
Jonas: Ich ahne Böses…
Raúl: Und ich habe mir eine Geschichte ausgedacht, dass ich jeden Nachmittag bei mir zu Hause aus dem Fenster gucke und auch gerne Freunde hätte und auch gerne Fußball spielen können möchte und dass ich so traurig sei. Und dann habe ich das praktisch runter geschrieben und bekam dann paar Tage später die Arbeit korrigiert zurück mit einer super langen Nachricht von der Lehrerin, von wegen, dass sie so toll findet, dass ich mich emotional öffne, und ich kann jederzeit zu ihr kommen, wenn ich reden möchte und so. Und ich habe dafür eine eins bekommen. Und ich wusste ja, das ist gelogen, was ich da erzählt hab, und was ich völlig vergessen hatte, und das ist dann letztendlich „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort“. Was ich vergessen hatte, war, dass der Klassenbeste bei ihr immer die Arbeit vorlesen musste, vor der ganzen Klasse. Und dann stand ich da also vorne am Lehrerpult und musste diese Lüge vorlesen vor meinen ganzen Klassenkamerad*innen. Und die haben dann protestiert und haben gesagt, das ist doch alles gar nicht wahr, wir treffen uns am Nachmittag und wir spielen doch alle gar keinen Fußball, und, hör auf zu lügen.
Jonas: Sind die dir da in den Rücken gefallen?
Raúl: Ja voll. Und ich hab mich dann ziemlich geschämt, war aber trotzdem stolz auf meine Eins und bin dann damit nach Hause gegangen und meine Mutter war so sauer, als ich ihr meine Eins gezeigt habe und die Geschichte dahinter, dass sie gesagt hat, ich darf nie wieder in meinem Leben die Behinderung benutzen zu meinem eigenen Vorteil. Das war mir auf jeden Fall eine Lektion. Aber ich fand‘s irgendwie auch witzig. Und ein anderer super inklusiver Moment aus meiner Schulzeit ist mir heute Nacht eingefallen: Ich wurde mal aus der Klasse geworfen, weil ich so viel gequatscht habe. Und da war ich schon zehn Jahre in der Schule und bin noch nie aus der Klasse geflogen. Aber nach zehn Jahren hat es dem Lehrer einfach irgendwann gereicht und er hat mich rausgeschmissen, und das war für mich ein sehr inklusives Erlebnis. Ich fand das richtig cool damals.
Judyta: Aber ich hatte das Gleiche. Nur bei mir hatte die Lehrerin dann gesagt: „Wenn du nicht behindert wärst, hätte ich dich jetzt rausgeschmissen.“
Jonas: Oh…
Judyta: Behindertenbonus next Level!
Raúl: Also bni mir hat der Lehrer mich einfach rausgeschmissen. Das war dem scheißegal.
Jonas: Aber durftet ihr denn quasi, wenn ihr sagt, ihr wart ja beide auf Regelschulen, war es denn so, dass ihr auch beide alles mitmachen konntet? Oder habt ihr schon, jetzt neben dem Behindertenbonus, den ihr jetzt grade so benannt habt, dass es auch Situationen gab, wo eben die Inklusion nicht so gelebt wurde beziehungsweise was bedeutet für euch, wenn wir jetzt von Inklusion reden, dass Inklusion an der Schule wirklich umgesetzt wird, was sind für euch da so die Rahmenbedingungen?
Judyta: Also ganz persönlich hatte ich immer ein blödes Gefühl, wenn es um Ausflüge ging. Und das ist ja eigentlich schade. Also, ich glaube, jedes Kind freut sich auf Ausflüge. Bei mir war da gleich schon so ein Unbehagen, weil irgendwann im Laufe der Planung der Ausflüge gab es dann immer diesen Satz: „Und Judyta, was machen wir mit dir?“ Und wenn es dann so ein Satz ist, der einem so entgegenkommt, dann denkt man sich so, ja, keine Ahnung, wie wäre es, wenn ich einfach mitkommen darf? Und diese Problematik da aufzureißen und dass ich sozusagen das Problem bin, was man jetzt erst einmal lösen muss, wo man spezielle Lösungen vielleicht auch finden muss, das fand ich irgendwie immer sehr, sehr schade. Und dass das auch vor der ganzen Klasse besprochen wurde, dass vielleicht nicht erst mal meine Eltern angerufen wurden und gesagt wurde: Hier, ich habe den und den Ausflug geplant, ist das vielleicht für Judyta okay und machbar? Das hätte ich mir sehr gewünscht. Also diese Konfrontation in der Klasse, was machen wir jetzt mit dir, war immer sehr, sehr schade.
Raúl: Also bei mir gab es im Prinzip nur die Rolle des Nicht-Mitmachen-Könnens im Sportunterricht. Sonst wurde ich immer überall mitgenommen und teilweise auch wenn ich das gar nicht wollte oder Angst hatte, das haben dann die Lehrer*innen nicht akzeptiert. Da haben die mich dann einfach mitgenommen. Und im Nachhinein, muss ich sagen, war das auch richtig, weil ich natürlich auch meine eigenen Grenzen kennengelernt habe. Und was wirklich war, wenn wir heutzutage über Inklusion in der Schule reden, da kommen wir auch noch wahrscheinlich heute drauf, was da für Ausreden heutzutage benutzt werden, warum das alles so schwierig sei und was wir damals aber gemacht haben. Das kriege ich in meinem Kopf einfach nicht zusammen. Also damals war das so zum Beispiel an der Grundschule, da hatte die Schule noch keinen Aufzug und dann so einen super langsamen Treppenlift. Und der war so langsam, dass nach dreimal Benutzen einfach klar war: bis ich den einmal benutzt habe, ist die Schulpause vorbei. Deswegen macht es keinen Sinn, dass ich mit diesem Ding fahre. Und dann haben einfach, keine Ahnung, Viertklässler mich runtergetragen und ich habe Glasknochen. Und heutzutage würden wahrscheinlich alle Pädagog*innen und Eltern den Kopf über die Hände zusammenschlagen. Und damals haben wir das einfach so gemacht. Und es war völlig okay, und ich hatte keine Angst und die Kinder hatten keine Angst. Und es ist auch nie was passiert. Es ist immer nur dann was passiert, wenn Erwachsene mich getragen haben, witzigerweise. Und das ist schon sehr erstaunlich, so dieser Unterschied zwischen realer Gefahr und gedachter Gefahr.
Jonas: Ich fand es wirklich spannend, wie gesagt, ich bin ja mit Behinderung in meiner Schulzeit nicht so wirklich in Berührung gekommen. Und ich weiß nur, dass bei unserer Partnerschule damals, da wurde ein neues Gebäude gebaut, keine Ahnung, das war auch nur zweigeschossig, dreigeschossig maximal. Und dieses Gebäude bekam einen Aufzug. Und mein erster Gedanke war damals, natürlich in Hinblick auf die rivalisierende Partnerschule: Warum bekommen die ein Aufzug? Haben die a) zu viel Geld und b) sind die Schüler*innen jetzt zu faul, die zwei, drei Stockwerke nach oben zu laufen? Es war eben, weil Behinderung an der Schule überhaupt gar kein Thema war, habe ich gemerkt, das ist überhaupt nicht in meinem Kopf als Geschichte drin, dass eventuell der Aufzug nötig ist für Schüler*innen, die vielleicht irgendwie im Rollstuhl unterwegs sind. Ich glaube, der erste Gedanke war, das Lehrerkollegium ist so alt, die brauchen schon einen Aufzug. Das war, glaub ich, eher der Gedanke, als über behinderte Mitschüler*innen nachzudenken.
Raúl: Gut möglich. Ich glaube, beim Thema Bildung und Inklusion, da müssen wir auch mal ein paar Ebenen trennen. Weil Bildung ist ja nicht nur, sagen wir mal, Teilnahme am Unterricht und gute Noten schreiben, sondern Schule ist auch eine der wenigen Orte im Laufe unseres Lebens, wo wir auf Menschen treffen, die wir uns nicht ausgesucht haben. Also wenn wir später unserem Beruf nachgehen oder unseren Freundeskreis ausbilden, dann sind das ja meistens Menschen, die wir kennenlernen und weil wir sie mögen. Aber in der Schule ist es ja eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sind bunt zusammengewürfelt wie in der S-Bahn oder in einem Zug. Ich habe keinen Einfluss darauf, wer mitfährt. Und das heißt, Schule ist auch ein Miteinander. Und es geht dann auch um das Aushalten und auch das Kennenlernen von Menschen, die nicht so sind wie ich. Und ich meine damit gar nicht mal so sehr anders sind oder behindert sind, sondern dass wir einfach auch lernen, mit Menschen, die nicht so sind wie ich, umgehen zu lernen. Das können tolle Menschen sein, es können aber auch anstrengende Menschen sein, es können Menschen mit großen Behinderungen sein, mit Talenten oder mit komplexen Behinderungen. Und das heißt, wir lernen ganz viel auch aus Beziehungen und aus den Begegnungen, aber nicht unbedingt nur Unterrichtsstoff. Und ich glaube, das ist etwas, was wir viel mehr auch in einem ganzen Diskurs bedenken sollten, wenn wir über Inklusion in der Schule reden.
Jonas: Das ist aber auch eher das Gefühl, also das, was du ja eben gesagt hast mit dem, was passiert, wenn dich Viertklässler runtertragen versus Erwachsene. Aber hattet ihr auch generell das Gefühl, dass im Umgang eure Mitschüler*innen damit lockerer und selbstverständlicher umgegangen sind als vielleicht die Lehrer*innen?
Judyta: Auf jeden Fall. Das ist ja das Tolle an Kindern, dass man vielleicht einmal kurz guckt, einmal kurz eine Frage stellt, was hast du, und danach ist es gegessen und dann ist man befreundet.
Raúl: Wobei jetzt das natürlich auch nicht das, irgendwie, Einhorn-Wunderland ist. Also, Kinder können auch grausam sein untereinander und zueinander, das ist schon auch klar. Aber Kinder machen da keinen Unterschied, ob sie grausam zu dir sind, weil du behindert bist oder weil du Sommersprossen hast oder rote Haare. Also es gibt verschiedene Trigger-Momente, und ich glaube, es ist einfach sinnvoll als Lehrkraft oder auch als jemand, der dieses System Schule beobachtet und kennt, dass das Merkmal Behinderung nicht automatisch dazu führt, dass mehr gemobbt wird, sondern dass es immer irgendein Merkmal gibt, das einen Mobbinggrund hervorbringen kann. Und das gibt es auch an Sonderschulen.
Jonas: Vielleicht ist es an dieser Stelle einfach auch noch einmal gut, dass wir für uns, damit wir auf einem gemeinsamen Level sind, wenn wir über Inklusion reden, das einfach noch mal kurz sagen: was ist für uns persönlich das Verständnis von Inklusion?
Judyta: Ich würde sagen, Inklusion ist ein Zustand der Gesellschaft und der Umwelt, in dem jeder und jede mit den gegebenen Fähigkeiten teilhaben und sich verwirklichen kann. Würdet ihr mir da zustimmen?
Raúl: Auf jeden Fall. Ich würde vielleicht noch ergänzen, dass es auch bedeutet, dass man Unterschiedlichkeit aushalten muss.
Judyta: Uhhh…deep! Also, ich meine, jeder und jede ist anders. Das ist auch immer das, worüber ich mich sehr oft ärgere im täglichen Leben, dass man da so ein Ding daraus macht, dass die anderen anders sind als man selber. Und was bedeutet das überhaupt? Also jeder Mensch ist doch einfach anders als der oder die andere!
Jonas: Ja, und apropos anders, das ist auch das Problem oder auch eine Problematik, wenn wir über Schule und Inklusion reden, dass Bildung Ländersache ist. Heißt also quasi, wir haben zwar vielleicht eine festgelegte Definition von Inklusion und wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention, die ja auch Deutschland unterschrieben hat und festlegt, was für das Thema Bildung gewünscht und gefordert ist. Aber wir haben 16 Bundesländer, die einfach schulisch teilweise ihr eigenes Ding machen. Und ich habe im Vorfeld von diesem Podcast mit der Eva-Maria Thoms vom mittendrin e. V. gesprochen, das ist ein Verein von Eltern behinderter Kinder, die sich um Schule, Bildung, Inklusion kümmern.
Und sie hat mir zum Beispiel gesagt, dass es halt bezüglich der Länder ganz unterschiedliche Entwicklungen gibt, dass es teilweise in Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein auch in Teilen von Niedersachsen eher gut abläuft, dass aber Bundesländer wie Sachsen, Baden-Württemberg und auch Bayern, es dort eher fast eine Art Symbolpolitik ist und Inklusion eher verhindert wird. Und auch in dem Bundesland, wo ich damals zur Schule gegangen bin, in Nordrhein-Westfalen, ist es so, dass es dort 2018 einen Beschluss gab, der festgelegt hat, dass Inklusion an den Schulen dann stattfindet, wenn das Ziel in der jeweiligen Klasse gleich ist. Heißt also, Inklusion findet in Schulklassen statt, wenn alle Schüler*innen in der Klasse aber auch zum Beispiel auf das Abitur hinarbeiten. Und das wiederum schließt ja auch eine große Gruppe von Schüler*innen aus, also nicht nur Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten oder wenn man halt im Bereich der Gehörlosigkeit, blinde, sehbehinderte Schüler*innen, die vielleicht jetzt nicht wirklich alle im gleichen Tempo den Unterrichtsstoff durchgehen. Sie werden ausgeschlossen und es ist sozusagen Inklusion light, wenn man es so will, und setzt überhaupt nicht das um, wie wir es eigentlich möchten, dass nämlich alle Schüler*innen gemeinsam unterrichtet werden, egal, ob sie jetzt auf das Abitur hinarbeiten oder nicht.
Judyta: Und an dieser Stelle höre ich schon irgendwie die Leute, die dann sagen: Aber was ist denn mit den schweren Fällen? Von Fällen wird da ja auch immer gesprochen und nicht von Kindern…
Jonas: Die über Tische und Bänke gehen.
Judyta: Nee, eher die Schwerst-mehrfach-Behinderten. Da gibt es ja auch ganz viele Wörter, die dann diese Kinder beschreiben. Was ist mit denen? Die können doch nicht alle mitmachen. Und da habe ich ein ganz tolles Zitat von Jutta Schöler bekommen, die war Professorin für Pädagogik und ist jetzt in Rente, und hat gesagt: Inkludierfähig müssen die Schulen werden, und die Kinder müssen nicht ihre Inkludierbarkeit beweisen. Ich glaube, diese Stellschraube muss auf jeden Fall in den Köpfen noch einmal passieren, dass das System, die Schule, die Akteur*innen, die dort alle vorhanden sind, und das Geld vor allem natürlich und die Ressourcen dafür verantwortlich sind, wie diese Kinder lernen können und nicht die Kinder selber.
Raúl: Da würde ich auch gerne ergänzen, dass diese Idee, dass die Kinder mit komplexen Behinderungen oder die verhaltensauffälligen Kinder es an Sonder- oder Förderschulen automatisch besser haben. Das ist nur die halbe Wahrheit, weil, also nehmen wir mal das Beispiel verhaltensauffälliges Kind, das Kind, das meinetwegen die eigene Wut nicht unter Kontrolle hat oder mit Stühlen durch die Klasse wirft. Wo wäre denn dieses Kind sonst, wenn es nicht an der Regelschule wäre? Es wäre an einer Förderschule und da würde es genauso mit Stühlen werfen und es wäre wahrscheinlich mit anderen Kindern zusammen, die auch mit Stühlen werfen. Und die Förderschullogik oder Sonderschullogik führt eigentlich dazu, dass wir diese Kinder mit diesen Auffälligkeiten einfach nur aus dem Blick der Mehrheitsgesellschaft nehmen und sie in extra Strukturen stecken, wo dann, sagen wir mal, in einem mehr oder weniger abgeschlossenen System wir auch nicht mehr mitkriegen, was da passiert und was für Zustände dort existieren. Aber wir glauben als Mehrheitsgesellschaft, dass die dort besser gefördert werden. Aber das stimmt nicht zwangsläufig.
Es gibt Untersuchungen, dass Kinder mit komplexen Behinderungen, wo vor allem basale Förderung wichtig ist, so etwas wie auf Toilette gehen lernen oder mit Münzen umgehen lernen, mit Geld umgehen lernen, dass diese basale Förderung auch an Regelschulen möglich ist, wenn Personal vorhanden ist. Und dieses Personal gibt es ja rein rechnerisch an Förderschulen. Das heißt, würde man Förderschulen und Regelschulen zusammenlegen, dann gäbe es auch keinen Personalmangel und es gäbe auch keinen Fachkräftemangel. Das, was wirklich Inklusion verhindert, so sagen auch Jutta Schöler und viele andere Expert*innen in dem Bereich, nicht die Ausstattung und nicht das Personal, sondern in allerallererster Linie ist die Bereitschaft das Problem und an zweiter Stelle erst die Ausstattung, Ausbildung und Zeit. Aber die Bereitschaft muss da sein. Und wenn die nicht da ist, dann gelingt es nicht.
Jonas: Ja, das muss ich auch noch einmal erwähnen, dass Eva-Maria Thoms mir gesagt hat, dass es so erstaunlich ist, dass in jedem Unternehmen, wenn irgendwie eine neue Software installiert wird, womit gearbeitet wird, dann gibt es Fortbildungen, damit jeder damit irgendwie umgehen kann und damit arbeiten kann. Aber wenn es darum geht, dass das Lehrpersonal sich vielleicht mal etwas genauer mit dem Thema Inklusion oder wie kann ich Schüler*innen mit Behinderungen fördern, damit zu beschäftigen, dass es dann eine Problematik wird, diese Fortbildung, diese Weiterbildung irgendwie an den Mann oder die Frau zu bringen. Und das, was du gesagt hast, Raúl, dass selbst wenn gesagt wird, dass an Förderschulen vielleicht der Betreuungsschlüssel toll ist und dass die Förderschule in ihrer baulichen Form ja barrierefrei und zugänglich ist und das alles irgendwie Gründe sind, warum man sagt, okay, wir schicken Kinder mit Behinderung eben auf eine Förderschule, dann muss man sich einfach auch die Frage stellen: Okay, es funktioniert hier anscheinend, eine gute Förderung, Betreuungsschlüssel, bauliche Sachen in dem Gebäude A hinzukriegen, warum kriegen wir das in dem Gebäude B, der Regelschule, nicht hin?
Judyta: Aber ich muss sagen, so ein bisschen verstehe ich das auch, also diese Trägheit. Ich glaube, in einem Betrieb, wir kennen das ja alle, wenn man dann irgendwie diese Feedback-Meetings hat und man so sagt, man muss sich eigentlich verändern. Das ist ja auch erst mal so mit Grummeln verbunden. So, oh nein, ich muss jetzt hier Sachen verändern und es werden Sachen erwartet von mir. Also, ich glaube, da brauchst du schon wirklich eine sehr große Aufgeschlossenheit, dass du einfach sagst: Ja, Veränderung ist gut und wir sind jetzt mit Leib und Seele dabei!
Jonas: Es muss einfach, glaube ich auch, vorgelebt werden. Also ich glaube, wenn das Bildungsministerium rumeiert und sagt, ja, wie gesagt, jetzt haben wir so einen Beschluss in NRW, der sagt, ja so Inklusion, aber nur so ein bisschen. Und es gibt wahnsinnig viele Meldungen, dass halt Schulen für sich mit diesem nicht klaren Arbeitsauftrag sagen, okay, dann sorgen wir nicht für Inklusion, sondern das ist für uns in Anführungsstrichen gescheitert, also das ist wirklich immer so, dass Wording, was aktuell so läuft: Inklusion ist gescheitert. Ich glaube, wenn das von oben vorgelebt wird und auch bestimmt wird, dass das gemacht werden sollte, dann kann das auch in den Schulen ankommen. Aber wenn das nur so larifari abläuft, dann werden, glaube ich, bei dem Gedanken der Mehrarbeit oder dem sich damit Auseinandersetzen, so wie du es gesagt hast, Judyta, ich glaube, von selbst wird sich da nichts tun.
Raúl: Was ist denn in Bayern und Nordrhein-Westfalen die Begründung, warum sie sagen, das ist gescheitert?
Jonas: Es geht eben darum, dass die Strukturen dafür eben auch nicht geschaffen werden. Das ist eigentlich ein Prozess voller Ausreden, ja, wo es darum geht, wie kann man eine sinnvolle Beschulung zusammen hinkriegen? Und es gibt dort anscheinend nicht so den Drang, eben die Lösungen stattfinden zu lassen, und es teilweise jetzt so ist, dass es eben an den Regelschulen nicht funktioniert und dass die Lobbyarbeit von den Förderschulen dort einfach immer noch sehr, sehr gut läuft und das System sich selbst erhalten möchte und dass die Anzahl von Anmeldungen an Förderschulen, zum Beispiel in NRW, wieder peu à peu zunimmt und dass es dazu kommt, das neue Förderschulen gebaut werden. Das ist ein bisschen, finde ich, auch als du, Raúl, es eben gesagt hast mit den Sondereinrichtungen, es ist auch ein bisschen vergleichbar mit dem Thema Arbeitsmarkt und Werkstätten: es ist ein in sich geschlossener Bereich. Es ist ein Bereich, der außerhalb der Blickwinkel der Gesellschaft ist und es wird die Mär erzählt wird, dass Menschen mit Behinderung dort besser aufgehoben sind.
Raúl: Und sie sind sicherlich besser aufgehoben als in den momentan real existierenden Regelschulen. Aber wenn wir das als Argument benutzen, alles so zu lassen, wie es ist, dann ist es halt falsch, weil wir können ja auch dafür sorgen, dass Regelschulen besser werden und dann vielleicht Förder- oder Sonderschulen nicht mehr so stark benötigt werden. Ich finde das so spannend. Eine ähnliche Debatte gibt es auch in Berlin: Die Bildungssenatorin Scheeres hat auf einer Konferenz, auf der ich mal war, darüber gesprochen, dass sie total für Inklusion ist und so, und hat im gleichen Atemzug aber auch gesagt, dass sie ein neues Schulgebäude baut, in einer Förderschule mit 309 Schulplätzen für Förderschulkinder. Und dann denke ich auch so, wie geht denn das zusammen? Warum baust du das Gebäude nicht neben eine Regelschule und lässt Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichten? Und das ist genau wie du sagst, das wird nicht vorgelebt, sondern es wird dann, keine Ahnung, links geblinkt und rechts gefahren.
Jonas: Und die Tatsache, dass natürlich auch es ja, da sind wir auch wieder bei dem Thema, wie funktioniert das innerhalb von den Kindern beziehungsweise im Umfeld der Kinder, dass ja dann auch Förderschulen, anderes Gebäude, anderer Stadtteil, vielleicht sogar ganz raus aus der Stadt, dass selbst wenn das Kind vielleicht auf die Förderschule geht, dass es dann eben nicht im näheren Umfeld seiner Freundinnen und Freunde ist, sondern jedes Mal mit dem Taxi abgeholt wird und einmal quer durch die Stadt oder aufs Land rausgefahren wird, wo eben die Förderschule ist, an einem sicheren, wohlbehüteten Ort und das ist einfach der Trend.
Raúl: Spannend finde ich auch, was, wenn man das jetzt mal juristisch auch darlegt, was bedeutet eigentlich der Satz „Inklusion hat seine Grenzen“ oder „Die Inklusion ist gescheitert“? Rein juristisch gesehen ist Inklusion ein Menschenrecht. Das heißt, man könnte auch sagen: Menschenrechte haben ihre Grenzen oder aber Menschenrechte sind gescheitert. Dann hat das eine ganz andere Dramatik. Dann reden wir letztendlich nicht mehr darüber, ja, ist halt so, sondern dann reden wir darüber, das darf nicht sein, Menschenrechte dürfen nicht scheitern, Menschenrechte dürfen keine Grenzen haben. Und dieses „Inklusion ist gescheitert“ oder „Inklusion hat seine Grenzen“ erzählt oder bedient eigentlich auch nur das Narrativ, dass das Kind mit Behinderung die Last ist. Aber es wird nicht erzählt, dass fehlende Ausstattung oder Bereitschaft oder Personal die Probleme sind.
Es gibt sicherlich Situationen, die schwierig sind. Aber diese sind eben, wie gesagt, auch an Förderschulen schwierig, nur eben aus dem Blickfeld der Mehrheitsgesellschaft. Vielleicht noch ein Satz, der mir wichtig ist: In der Inklusionspädagogik gibt es sehr wohl die Möglichkeit, dass man sagt, dass man Kinder mit und ohne Behinderung voneinander trennt, wenn es um Lernen geht, aber eben nicht dauerhaft, also nicht in einem extra Gebäude Kilometer weit auseinander, sondern eher situativ. Also, es ist doch klar, dass ich mit meinen Glasknochen nicht beim Medizinballweitwurf mitmache. Deswegen gibt es eine situative Trennung, wo ich dann eben was anderes mache. Es ist auch sonnenklar, dass ein Kind mit einer Lernbehinderung oder mit einer geistigen Behinderung eher nicht an einer Kurvendiskussion teilnimmt, aber vielleicht trotzdem mit Mathe macht, aber eben auf dem eigenen Niveau. Und das nennt man zieldifferentes Lernen. Das ist eigentlich auch Standard inzwischen in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern von nichtbehinderten Kindern. Das muss man einfach nur eben erweitern auch um den Aspekt Behinderung, und Inklusion als Nicht-Gleichmacherei, Inklusion als auch nicht „Alle müssen Astronautin werden“, sondern Inklusion heißt eben, dass man gemeinsam, so viel es geht, am gleichen Ort Zeit verbringt.
Jonas: Ja, aber das, was du gerade gesagt hast, Raúl, finde ich eben auch besonders wichtig, weil es nochmal das erklärt, dass wir auf der einen Seite ja immer wieder sagen, dass Schüler*innen in ihren individuellen Stärken gefördert werden sollen. Also quasi wir differenzieren wirklich sehr und auf der anderen Seite wollen wir halt bei dem Thema Inklusion, dass eben alle zusammen lernen. Und das verstehen viele noch nicht, dass das eben trotzdem auch irgendwie gemeinsam geht. Und dass eben das keine Gegensätze sind zwischen dem, jeder individuell und trotzdem alle gemeinsam. Nur jetzt ist es natürlich so, dass, wenn wir über Schule und Inklusion reden, das Thema Schule und Bildung ist gerade in den Corona-Pandemiezeiten gefühlt viel mehr in den Medien vertreten. Auf einmal wird sich darüber gesorgt, wie es ist für Schüler*innen, nicht in die Schule zu gehen beziehungsweise unter welchen Umständen. Und, ja, in den Pandemiezeiten gibt es jetzt einfach gewisse besondere Regeln. Und wie ist es für Schüler*innen mit Behinderung in den Corona-Zeiten? Haben sie ebenso die gleichen Chancen oder werden sie sogar eventuell vergessen?
Judyta: Ich habe zum Beispiel in meinen Recherchen gelesen, dass Schulhelfer*innen jetzt nicht automatisch auch nach Hause kommen, wenn man Homeschooling macht. Also, dort wird das System sozusagen nicht auf Zuhause übertragen und wir alle kennen ja die allgemeinen Probleme auch des Homeschoolings und der Schule während Coronazeiten, aber man muss halt sagen, Förder- und Sonderschulen, da geht es noch mal, da ist es noch rudimentärer und die Konsequenzen sind einfach weitreichender, wenn das da nicht funktioniert.
Raúl: Oder in inklusiv beschulten Regelschulen, die jetzt auf das Wechselmodell umgestiegen sind oder halbe Klassen, wird oft behinderten Kindern oder Eltern behinderter Kinder gesagt, es wäre besser, wenn Sie ihr Kind zu Hause beschulen könnten, damit die nichtbehinderten Kinder in der Klasse sein können, und das sind natürlich auch einen Ausschluss.
Judyta: Nee, es ist ja andersrum: Sie gehören der Risikogruppe an und deswegen sollten sie zuhause bleiben.
Raúl: Oder dass dann eben auch gesagt wird, ja, wir können dem Kind mit Behinderung nicht so leicht verständlich machen, dass es Abstand halten soll, und dann findet der Ausschluss statt, und der wird wahrscheinlich auch so lange bleiben, bis weit über die Pandemie-Zeit, weil einfach die Lobby auch sehr klein ist von Menschen, die für den alten Status kämpfen.
Jonas: Eva-Maria Thoms vom mittendrin e. V. fand das sehr, ja, im wahrsten Sinne des Wortes demaskierend. Also, dass das System der Förderschulen, weil auf der einen Seite aus der Lobbyarbeitssicht ja gesagt wird, dass es der perfekte Ort ist, wo Schüler*innen mit Behinderung wohlbehütet, mit einer perfekten Förderung, ihren Schulalltag bewerkstelligen können, und auf der anderen Seite die Förderschulen die Ersten sind, die sagen, wir können eben nicht unseren Schüler*innen beibringen, wie man Abstand hält, wie man eine Maske trägt, wie man in dieser Corona-Zeit umgeht und eher die Schulen als allererstes geschlossen haben und auch es sehr, sehr lange gedauert hat, nachdem die Schulen jetzt peu à peu wieder geöffnet wurden, dass auch die Förderschulen wieder geöffnet haben. Also quasi das System hat sich auf einmal so ein bisschen selber demaskiert.
Und die Pandemie hat einfach nochmal freigelegt, dass es eben nicht krisengeschützt ist, und dass dort zwar gesagt wird, ja, hier wird optimale Förderung betrieben, aber dazu gehört eben nicht nur Lesen, Rechnen, Schreiben beizubringen, sondern man kann ja auch Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten die AHA-Regeln beibringen, auch wenn es vielleicht etwas länger dauert, aber es ist ja möglich. Wie gesagt, Corona ist jetzt natürlich ein Sonderfall und wir meckern ja ganz schön, dass Inklusion in den Schulen nicht so wahnsinnig gut funktioniert. Aber welche, um bei dem Bild zu bleiben, welche Stellschrauben kann man denn drehen, um die Inklusion an den Schulen voranzubringen? Was muss sich ändern?
Raúl: Also bei den Recherchen bin ich auf einige ziemlich spannende Projekte gestoßen, unter anderem gibt es zum Beispiel vom Verein Pfeffersport in Berlin, damit haben sie auch den goldenen Stern des Sports gewonnen, das ist Deutschlands erfolgreichster Vereinswettbewerb für Breitensportarten, der vom Deutschen Olympischen Sportbund vergeben wird, ein Ausbildungsprogramm für Sportlehrerinnen oder Trainerinnen, wie sie inklusiven Sport anbieten können, ohne Fachkräfte sein zu müssen. Also einfach so auch ein bisschen kreativer mit dem Sport umzugehen, um auch zum Beispiel Kinder mit den verschiedensten Talenten und Körperlichkeiten teilhaben zu lassen. Und auch mal nicht behinderte Menschen oder Schüler*innen auch mal Sportarten ausprobieren zu lassen, die sonst eher paralympisch sind oder eben von behinderten Menschen gemacht werden. Da gibt es auch ganz viele Spaßmomente dabei und Inklusion muss nicht immer etwas sein, was so was Bedeutungsschweres beinhaltet.
Wir selber haben ja bei den Sozialhelden auch ein Projekt gemacht, das nennt sich Wheelmap macht Schule, wo es Unterrichtsmaterialien im Internet zum Download gibt, wo Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren behinderten Klassenkamerad*innen die Nachbarschaft erkunden können auf Barrierefreiheit, und der Fokus quasi nicht auf Behinderung gelegt wird, sondern eben auf die Umwelt und die Schülerinnen und Schüler gemeinsam die Umwelt erfahren als Orte der Inklusion oder auch des Ausschlusses, der Exklusion, und dann gemeinsam beim Diskutieren darüber und dem Berichten und den Praxistest machen zu dem Thema dann auch über Sprache und Behinderungen lernen, was darf man sagen, wie sagt man es dann richtig, und das Ganze letztendlich eher so erforschend begriffen wird als dieses von oben herab, ich als Lehrer sag jetzt, wie es zu sein hat.
Judyta: Ich würde auch gerne anschließen an dieses Schulmaterial, was du erwähnt hast, also Schulbücher sind da natürlich auch irgendwie, müssen da verändert werden und werden zum Glück auch immer weiter verändert und anders bebildert, dass auch mal Menschen mit verschiedenen Hautfarben und Kinder mit verschiedenen Hautfarben vorkommen oder auch Kinder mit Behinderungen. Und was mir da irgendwie auch eine Herzensangelegenheit wäre, dass die Kinder dort nicht problematisiert werden, sondern halt auch wirklich Teil der Geschichte sind, und die Behinderung vielleicht in dem Sinne in der Geschichte, die man da im Deutschunterricht durchnimmt, vielleicht keine Rolle spielt, sondern dass es einfach eine Eigenschaft der Schülerin oder des Schülers ist.
Jonas: Bis hin zur Tatsache, dass es natürlich optimal wäre, wenn es auch Lehrer*innen mit Behinderung gäbe, also mehr.
Judyta: Genau, das wäre noch mal richtig empowernd für Kinder mit Behinderungen, wenn man da eine Lehrerin hätte oder einen Lehrer, der vielleicht genauso ist wie man selbst.
Jonas: Das war zu meiner Schulzeit ganz am Ende so, dass dort ein Lehrer eingestellt wurde, der zu kurze Arme hatte und deshalb nicht an die Tafel schreiben konnte und dann alles mit einem Overheadprojektor gemacht hat.
Judyta: Also so, wie nichtbehinderte Lehrer*innen eigentlich auch.
Jonas: Ja, das stimmt da leider so quasi, es war dann nicht so das High End Gadget, sondern er hat den OHP genommen.
Wie war es bei euch in der Schulzeit? Habt ihr dort Inklusion feststellen können? Oder vielleicht seid ihr jetzt Eltern und habt Kinder mit und ohne Behinderung und erlebt dort hautnah, wie es ist, vielleicht auch die Unterschiede der einzelnen Bundesländer. Schreibt uns gerne eine Mail an [email protected] oder [email protected]. Ihr könnt auch gerne mit uns diskutieren auf unseren Social-Media-Kanälen, bei Instagram, Facebook und Twitter. Wir sind sehr gespannt über eure Erlebnisse und freuen uns dann, wenn ihr auch beim nächsten Mal wieder bei unserem Podcast „Die neue Norm“ mit dabei seid. Bis dahin, tschüss!
Raúl: Ciao Kakao.
Judyta: Tschüss!