Transkript
Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, zwei Rollstühle, drei Journalist*innen: Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 1: Rollstuhlparcour – Was Menschen mit Behinderung von Barriere-Simulationen halten
Raul: Sagt mal, Judyta und Jonas, wir als Menschen mit Behinderung, wir hören diesen Satz wahrscheinlich schon häufiger. Sowas wie „Ich hab auch mal Zivi gemacht. Ich weiß, wie das ist.“ Und da stelle ich mir immer wieder die Frage, kann man sich eigentlich als nicht behinderter Mensch in die Lage eines behinderten Menschen hineinversetzen? Und ist das überhaupt sinnvoll?
Jonas: Herzlich Willkommen zu „Die neue Norm“, dem Podcast. Wir möchten heute über Rollstuhl-Experimente reden, Brillen, die Sehbehinderungen simulieren oder auch Dunkel-Restaurants. Kurzum alle Aktionen, die in irgendeiner Art und Weise Behinderungen erfahrbar machen. Und mit wir meine ich Judyta Smykowski und Raul Krauthausen.
Raul: Hallo
Judyta: Hi
Jonas: Mein Name ist Jonas Karpa. Ja, Raul, du hast es eben schon gesagt. „Ich habe auch schon mal Zivi gemacht. Ich weiß, wie das ist, im Rollstuhl zu sitzen.“ Den Zivildienst gibt es nicht mehr. Diese Sätze gibt es aber immer noch. Habt ihr beiden solche Sätze schon mal gehört?
Judyta: Ja, auf jeden Fall: Also dieses typische: „Ich hab mein Bein gebrochen und hatte dann sechs Wochen den Gips und bin dann auch mit Krücken gelaufen. Denn sind natürlich Treppen schwer. All dieses, was so als Smalltalk gemeint ist und so ein bisschen die Gemeinsamkeit suchend. Aber was ich einfach irgendwie schwierig finde, also das ist absolut nicht vergleichbar mit einer Behinderung, die man halt wirklich sein Leben lang hat. Und den Barrieren, mit denen man auch tagtäglich irgendwie zu tun hat.
Raul: Ja, und manchmal fühl ich mich dann auch in meiner eigenen Behinderungserfahrung relativiert. Zwei Monate sind definitiv etwas ganz Anderes als – wie Judyta sagt – tagtäglich mit den Herausforderungen des Alltags – nicht nur in Barriereformen, sondern auch in bürokratischer Art und Weise gegenüber Behörden und Ämtern, Krankenkassen und so weiter.
Judyta: Ja!
Jonas: Aber es gibt ja trotzdem diese Experimente. Das wird häufig gemacht mit Menschen, die in Sozialberufen arbeiten oder in Pflegeberufen tätig sind. Aber es geht auch schon bei den ganz Kleinen an, also mit Schülerinnen und Schülern, sich mal einen Tag oder, wir reden ja von ein paar Stunden, sich in einen Rollstuhl zu setzen oder halt Brillen aufzusetzen, die Sehbehinderungen in den verschiedensten Formen und Auswirkungen darstellen, das mal auszuprobieren
Judyta: Ja, ich finde es auch gut. Also Schüler, die sind noch jung, die haben noch nicht so die Erfahrung. Wenn sie nicht jemanden auch in der Klasse haben oder in der Schule, kommen sie vielleicht mit Inklusion, behinderten Menschen, gar nicht in Berührung. Also grundsätzlich, sich damit auseinanderzusetzen, find ich schon gut.
Raul: Ich glaube aber auch, dass das sicherlich gerade bei Schülerinnen und Schülern deswegen ganz simpel sein kann, weil die das vielleicht auch eher noch spielerisch verstehen und begreifen und dann vielleicht auch so ein bisschen eine Neugier da noch mitschwingt. Problematisch finde ich es dann, wenn Schüler*innen beziehungsweise Lehrer*innen dann anfangen, daraus einen Wettbewerb zu machen. Also dann Hütchen auf dem Bürgersteig aufstellen und dann die Schüler*innen auffordern, am schnellsten irgendwie um diese Hütchen zu fahren – oder am weitesten. Weil eine Behinderung-Simulation ja Empathie wecken soll und nicht daraus einen Wettbewerb machen soll.
Jonas: So einen Rollstuhl-Parcours…
Raul: Ja, genau
Jonas: Aber generell ist es ja erst mal so, dass das Interesse ja anscheinend da ist, sich mit Behinderung auseinanderzusetzen.
Judyta: Ja, genau. Und vielleicht ist es erst mal nicht so eine Abschreckung. So… Du musst jetzt hier mit der Behinderung den ganzen Tag sozusagen leben oder im Rollstuhl die ganze Zeit verbringen, sondern wenn da so ein bisschen der Spaßfaktor dabei ist, kann es auch die soziale Komponente so ein bisschen mit drin haben.
Raul: Ich denke auch, dass man dieses ehrliche Interesse, dass ja oft auch in diesen Simulationen mit drinsteckt, nicht gleich negativ bewerten sollte. Sondern dass es schon auch wirklich darum geht, dass Menschen, die vielleicht in dem Beruf später mal arbeiten, wenn es um das Thema Behinderung geht, wirklich ein Interesse daran haben. Wie ist das eigentlich, wenn man die ganze Zeit mit einer Sehbehinderung oder sitzend durch den Alltag fährt? Oder geht? Die Frage ist nur, was zum Ziel? Ist es die eigene Simulation? Oder sind es dann nicht vielleicht auch andere Maßnahmen, die man da ergreifen kann, wo wir sicherlich später noch im Laufe des Podcast draufkommen werden. Was ich immer spannend findet, die Frage: was berichten denn dann Menschen, die diese Experimente machen?
Jonas: Nehmen solchen Experimenten, gibt es auch Events, dass du auf der einen Seite natürlich diese Rollstuhlexperimente hast, wo wirklich der Fokus da drauf ist, ein paar Stunden im Rollstuhl zu sitzen und herumzufahren. Aber dann – wir haben es ja eingangs schon gesagt, zum Beispiel Dunkel-Restaurants. Also quasi Restaurants, wo man eben dunklen einfach mal isst und das mal ausprobiert, wie schmeckt eigentlich Essen, wenn man es nicht sieht, oder wenn man quasi…man weiß zwar, was es in etwa ist, aber weil man ja nicht weiß, was auf der Gabel ist, und diese Events haben ja noch mal ganz andere Charakter, weil ich glaube, diese Behinderung nicht komplett im Fokus steht.
Judyta: Ja, aber es ist auch so ein bisschen Entertainment. Na, wie du gesagt. Finde ich auf der einen Seite ein bisschen schwierig, so dass hobbymäßig zu machen oder mal so ein Familienausflug. Auf der anderen Seite find ich’s aber auch okay. In dem Sinne, dass es mal so ein Berührungspunkt ist, mit Leuten mit Behinderung, weil ja auch blinde Leute dort arbeiten in solchen Dunkel-Restaurants.
Jonas: Wobei…, ist das nicht ein bisschen zu sehr inspirierend? In der letzten Folge haben wir über Inspiration Porn gesprochen. Und ich frage mich – das ist ja immer die Story, die in diesen Dunkelrestaurants auch mitgeschrieben wird, dass auch die Kellner, die dort arbeiten können, können nichts sehen. Natürlich, weil es dort dunkel ist. Aber sind zusätzlich auch noch blind, wo ich mich immer frage, die Person, die blind ist, der ist es doch egal, ob das Restaurant jetzt auch dunkel ist.
Judyta: Lächelt
Raul: Die Frage ist ja eher, was ist das Lernziel? Ist das Lernziel zu lernen, dass…, keine Ahnung…, es jetzt auch Kellner*innen gibt, die blind sind. Oder ist das Lernziel, wie es ist, in Dunkelheit zu sein? Und wenn wir Inklusion unterrichten wollen mit solchen Simulationen, ist, glaube ich, der Lerneffekt dann am größten, wenn die Kellner*innen in deinem Lieblingslokal bei hellem Tageslicht bedient und du nicht dafür extra in die Dunkelheit gehen musst.
Judyta: Ja, das wäre dann Inklusion, sozusagen auf dem Arbeitsmarkt oder auch wirklich in der Gesellschaft, ne? Trotzdem…
Raul: Wenn es aber um die Erfahrung geht, dann ist das sicherlich auch was Anderes, das selber mal zu erleben.
Judyta: Ja, ich frage mich dann immer nur – also jetzt bezogen auf den Rollstuhl, den ich ja benutzte – warum muss man das erfahrbar machen. Warum müssen das Leute machen? Warum könnt ihr mir nicht einfach glauben, wenn ich davon erzähle. Von Barrieren, von meinem Tag. Wenn Sie mit mir irgendwie enger verbunden sind, Arbeitskolleg*innen oder so. Aber dann sehen Sie es ja auch, ja, wenn Sie mit mir unterwegs sind und dieses „Ich muss das erst mal selber wissen, bevor ich dir quasi glaube“… das find ich manchmal so ein bisschen, ja auch… nicht so schön.
Jonas: Ich weiß halt nicht, ob es quasi wirklich etwas mit dem glauben daran zu tun hat. Auf der einen Seite… ich kann deine Bedenken nachvollziehen. Aber es ist, glaube ich, so, dass der Mensch etwas teilweise selber erfahren muss, damit es eben „Klick“ macht. Meine Frau hat mal in irgendeiner Arbeitsgruppe mal so eine Sehbehinderung-Brille ausprobiert und hat danach mir halt zurückgespiegelt, dass sie es seitdem besser verstehen kann, beziehungsweise, sich noch einmal besser in mich hineinfühlen kann. Und das hat, glaube ich, nichts damit zu tun, dass sie, wenn ich sage, ich sehe das nicht, dass mir das quasi nicht glaubt, sondern dass sie quasi es einfach nochmal im Alltag, sich vielleicht noch mal besser drauf darauf einstellen kann.
Raul: Wir haben ja auch in der Community gefragt, auf Social Media, was eigentlich so deren Perspektiven sind. Und was ich spannend finde, dass sich da offensichtlich die Gruppe teilt. Nämlich einmal in die Menschen mit Behinderungen, die solchen Experimenten eher kritisch gegenüberstehen. Und dann den Menschen ohne Behinderung, die sagen, sie hätten das auch mal gemacht. Und sie fanden es eher wertvoll.
Judyta: Es bestätigt ja eher die These von Jonas oder das Erlebte von Jonas, also, dass man das erleben muss, um es zu glauben. Quasi.
Jonas: Muss man sich eine Stunde in den Rollstuhl setzen, um herauszufinden, dass Treppen nicht so barrierefrei sind?
Judyta: Lacht
Jonas: Aber gleichzeitig ist es aber auch wichtig, diesen anderen Meinungen, denen Raum zu geben. Dass es vielleicht für Menschen ohne Behinderung der Zugangspunkt ist, das besser nachvollziehen zu können.
Raul: Aber warum glaubt ihr denn, was ist denn das problematische an solchen Experimenten?
Judyta: Ja, die Art und Weise, wie sie durchgeführt werden, glaube ich. Also, wir haben ja schon die paar Stunden angesprochen. Das sind dann so auch die AOK-Shopper, wie wir sie nennen. Also so Rollstühle aus irgendeinem Fundus. Die halt nicht angepasst sind, die dann auch noch schwer bedienbar sind. Weil Rollstühle sind eigentlich etwas, was sehr, sehr angepasst ist, sehr individuell ist…
Raul: Oder auch sportlich sein kann.
Judyta: Genau! Ist ja natürlich dann auch die Frage, was macht man an diesem Tag oder in diesen paar Stunden, den Parcours oder auch wirklich den Kantstein um die Ecke, auf der auf der normalen Straße quasi.
Raul: Was mir manchmal so ein bisschen bitter aufstößt, ist zu sehen, wer denn diese Experimente überhaupt anleitet. Also wenn es dann oft so ist, dass in den Schulklassen, dann der Lehrer oder die Lehrerin dann – keine Ahnung – aus dem Krankenhaus um die Ecke, die Rollstühle ausleiht. Dann die Schüler*innen in den Rollstuhl setzt und kein einziger Mensch mit Behinderung überhaupt dieses Experiment anleitet und auch zeigt, wie es gehen kann. Denn es ist, glaube ich, eher eine Beschäftigung als wirklich eine Lernerfahrung.
Jonas: Es ist natürlich auch immer die Frage, was kann man wirklich simulieren? Also, jetzt Nicht-Gehen-Können, Nicht-Sehen-Können? Ja, aber hat es wirklich… gibt es einen Unterschied zwischen Behinderungen, die… ja, dieses Wort, das ist immer so schrecklich, die man im Laufe des Lebens erworben hat oder ob man quasi schon seit Geburt behindert ist. Beziehungsweise ja, ich weiß nicht, Glasknochen… kann man das simulieren?
Judyta: Lacht
Raul: Ja, ist halt schwierig. Man kann da halt simulieren, dass man vielleicht, also, ich nicht laufen kann…
Jonas: Ja.
Raul: Aber du hast recht, dass gerade so angeborene Behinderungen, ja oft diese Erfahrung gar nicht haben. Also Menschen, die eine angeborene Behinderungen haben, haben oft die Erfahrung gar nicht von diesem Vorher/Nachher. Also ich habe zum Beispiel nie das Bedürfnis gehabt, laufen zu können. Und wenn jetzt aber ein Schüler oder eine Schülerin jetzt von jetzt auf gleich in einem Rollstuhl sitzt oder gesetzt wird, dann gibt es ja diesen Moment des Schocks oder dieser Überwältigung der Situation. Und die kann so prägend sein, dass sie vielleicht auch jede einzelne Mini-Erfahrung im Rollstuhl überschattet. Und das finde ich dann… finden solche Experimente… Ich finde solche Experimente dann deswegen problematisch, weil sie den Effekt der Gewöhnung, dass ich vielleicht mich daran gewöhnt habe, nicht laufen zu können, nur bedingt simulieren.
Jonas: Kann es auch sein, dass sie die Angst schüren? Also, dass man sich quasi in den Rollstuhl setzt und das ausprobiert und danach wieder aufsteht und sagt: „Gott sei Dank brauche ich keinen Rollstuhl!“ beziehungsweise den Gedanken halt hat, ich möchte nie in einem Rollstuhl enden.
Judyta: Ja, das, das kann man haben. Ich glaube, das ist menschlich. Aber da kommt es auch wieder auf die Anleitung an. Also, wenn ich jemanden habe, der mir das alles erklärt und im Rollstuhl sitzt und dann auch zeigt, wie er die und die Situation macht, dann werde ich das vielleicht nicht so auf mich beziehen, sondern auf diesen Menschen, wie er tagtäglich damit umgeht und nicht, was mit mir passieren könnte.
Raul: Also zu unterrichten zum Beispiel, das Hilfsmittel auch Freiheit bedeuten können. Oder einen Aufzug, jemanden, der im Rollstuhl sitzt, in die Lage versetzt, teilzuhaben oder das… keine Ahnung… Sprachassistenten blinden Menschen den Alltag erleichtern können. Und es ist nicht immer nur um das Defizit geht vielleicht.
Jonas: Ja, ich wollte grad fragen, also quasi ihr seht euren Rollstuhl bestimmt nicht als schlimm, sondern es ist ja quasi die Freiheit vor euch, dass ihr jetzt überhaupt hier gerade mit mir am Tisch sitzen könnte.
Judyta: Ja, er knarzt gerade ein bisschen, das nervt… Lacht
Jonas: Ja, okay, aber das sind, das sind halt dann ganz alltäglichen Probleme…
Judyta: Genau.
Raul: Also, ein alltägliches Problem, das ich zum Beispiel habe – total banal – mein Rollstuhl, der ist relativ laut, weil er elektrisch ist. Ich kann mich nicht anschleichen, das heißt, ich kann… meine ganzen Mitbewohner wissen „Ah, Raul ist zuhause.“
Judyta: Lacht
Raul: Ich kann nicht einfach heimlich irgendwo sein.
Jonas: Das finde ich aber super. Ehrlich gesagt, wenn… wir haben ja hier relativ lange Flure. Ich sehe halt nicht, wenn du am anderen Ende des Flures bist, aber ich höre dich.
Raul: Jetzt mal eine ketzerische Frage: du brauchst ja wahrscheinlich kein Licht, oder, wenn du als sehbehinderter Mensch unterwegs bist? Sparst du Strom?
Jonas: Licht jetzt, wo?
Raul: Zuhause zum Beispiel.
Jonas: Doch natürlich
Raul: Brauchst du viel Licht oder wenig Licht?
Jonas: Es kommt… ich brauch punktuell Licht.
Raul: Ah… spotlight.
Jonas: Es geht natürlich immer darum, dass mir, wenn es komplett dunkel ist, dann würde ich mich natürlich auch irgendwo hinlegen. also nicht zum Schlafen. Aber Äh, ja, stolpern. Deshalb …
Judyta: Aber wir können nicht stolpern, Raul. Lacht
Raul: Das stimmt. Aber wir können super gut Telefonleitungen mitreißen.
Judyta: Wie…?
Raul: Ja, oder Kabel. Ich hab ganz oft in meiner Wohnung Wände… Kabel aus der Wand gerissen…
Judyta: Oh, Gott… Lacht
Raul: Weil ich mit meinem Hinterrad irgendwo hängengeblieben bin und dann der ganze Putz abgerissen wurde.
Jonas: Oh, Gott!
Raul: Ja…
Jonas: Nein, aber um noch einmal zurückzukommen auf diese Experimente…
Raul: Danke.
Jonas: Das sind jetzt zum Beispiel Sachen, die man jetzt nicht binnen einer Stunde in irgendeiner Art und Weise simulieren kann. Also, wo man sich fragt okay, was… das sind ja quasi die, die Kleinigkeiten des Alltags, die lustigen, nervigen, wie auch immer Geschichten, die einem passieren. Die man nicht irgendwie in, ja in einer Stunde, in einem halben Tag, in einen ganzen Tag simulieren kann. Also was bringt es?
Raul: Ja, die Frage kann man auch dem Journalismus stellen, der öfter mal genau diese Experimente dann auch für die Kamera oder fürs Mikro macht.
Judyta: Ja, man kann echt irgendwie denken, dass das deren Hobby ist, von Journalist*innen zu machen. Und man merkt dabei halt immer, dass sie das gemeinsam mit jemandem machen, der betroffen ist – was ja schon mal gut ist. Aber auch bei den Fragen, die immer gestellt werden. Also, die fahren dann immer durch die Stadt. Der nicht behinderte Journalist*in und die behinderte Person. Dann wird immer gefragt: Was vermisst du? Wie war’s für dich damals vor dem Unfall oder so? Das sind alles legitime Fragen. Aber sie führen so ein bisschen dazu, dass das alles so als allzu schlimm gilt und auch sehr anstrengend. Und das ist ja normal, wenn man etwas macht, was irgendwie mit Sport zu tun hat im weitesten Sinne, oder das erste Mal sich körperlich in so einer Art betätigt, dass es irgendwie anstrengend ist. Aber das Problem ist, dass es dann im Experiment eher um die Erfahrung des Journalisten geht und nicht der behinderten Person.
Raul: Und eigentlich könnte man auch die Personen mit Behinderungen interviewen und ihr glauben
Judyta: Sind wir wieder beim Glauben…
Raul: … anstatt dass die die Journalistin oder der Journalist des selbst erfahren muss, bevor es überhaupt eine Nachricht wird.
Judyta: Ja, genau! Und die Frage ist ja auch, wohin gehen die Leute? Also, es gab viele Experimente, da geht man so die Straße entlang oder auch an die Bahnhöfe. Dass da oft die Aufzüge kaputt sind, das wissen wir ja. Und, es ist natürlich auch gut, dass das gezeigt wird. Aber es gibt weniger Experimente, wo man in eine Bar geht zum Beispiel und einfach auch so tolle Sachen macht. Sachen macht, die Freude machen oder die einfach die Menschen machen in ihrer Freizeit.
Jonas: Eines der bekanntesten Experimente ist das Jenke-Experiment, der eben eine Woche, glaub ich, im Rollstuhl unterwegs war und eben das, was du gesagt hast, ausprobiert hat. Also versucht hat, mal spontan mit der Bahn von A nach B zu kommen.
Raul: Man muss dazusagen, es ist ein Privatsender gewesen. Die ja dann oft doch ein bisschen voyeuristischer, sensationistischer an die Sache herangehen.
Judyta: Ja, das Krasse fand ich an dieser Sache bei Jenke von Wilmsdorff das Ende, wo er dann quasi auf einer Filmverleihung ist, also einer Preisverleihung und dann sich freut, dass er endlich wieder gehen kann. Auf dem roten Teppich steht er dann theatralisch auf. Ja, es ist so irgendwie der Nagel auf dem Kopf für eine Sendung. Das war echt schlimm.
Raul: Und das ist die Frage, ist das die Lernerfahrungen, die die Leute, die die Simulation machen, mitnehmen sollen…
Judyta: Ja, genau – endlich wieder gehen!
Jonas: Ja! Wir merken ja auch, dass da viel drüber gesprochen wird. Also quasi nicht nur, dass wir in der Community im Social Media gefragt haben und unendlich viele Antworten bekommen haben. Oder auch Judyta, wie du gesagt hast, dass viele Journalist*innen darüber berichten und immer und immer und immer wieder darüber berichten, wo man sagt, ist die Geschichten nicht langsam auserzählt? Aber es ist auf jeden Fall ein Thema. Es gibt sogar Studien darüber.
Raul: Genau eine Studie zum Beispiel ist die von Michelle Nario- Redmond aus dem Jahr 2017 mit dem Titel: „Crip for a day – the unintended negative consequences of disability simulations“, die herausgefunden haben, dass sich die Studierenden nach den Simulationen unwohler und verwirrter gefühlt haben und hilfloser als vor dem Experiment, weil sie eben genau diese negativen Erfahrungen gemacht haben, wie barrierevoll die Welt ist und dass sie auch letztendlich Angst davor haben, selber irgendwann mal in dieser Situation zu sein. Und was den Kritikern vor allem Sorge bereitet an der ganzen Geschichte ist, dass hier ja Ängste und Klischees bestätigt werden. Und wenn man sich nun fragt, was sind das für Menschen, die diese Experimente machen, dann sind das oft zum Beispiel Azubis oder Studierende der Heilerziehungspflege. Und wenn die jetzt also lernen, dass Menschen mit Behinderung es so schwer haben im Leben und dann später mit diesen Menschen arbeiten, bestätigen Sie ja vielleicht sogar auch ein Vorurteil und ein Klischee. Und das hat große Auswirkungen dann später auch auf die Menschen mit Behinderung, mit denen sie später zu tun haben. Es zieht einen ganzen Rattenschwanz an Herausforderungen mit sich. Gleichzeitig sagen aber auch Kritiker*innen, dass es vielleicht hilfreich sein kann, diese Simulationen zu machen, wenn man gleichzeitig auch Lösungen präsentiert. Also zum Beispiel: vermittelt das Hilfsmittel am Existieren und wie sie funktionieren, dass man ihnen zeigt, wie man einarmig eine Dose öffnet, dass man ihnen zeigt, wie man im Rollstuhl U-Bahn fährt und das Ganze nicht als ausweglos darstellt, sondern einfach die Hacks und Lifehacks der Menschen mit Behinderung mitvermittelt.
Jonas: Und da wäre jetzt quasi die Frage, wenn wirklich Menschen ohne Behinderung sagen, dass es für viele einen Aha-Effekt gegeben hat, was wäre dann eine Lösung, damit Menschen mit Behinderungen nicht in Situationen kommen zu sagen: „Glaubt uns bitte“. Also, dass man diese beiden Punkte irgendwie zusammenführen kann. Das ist Experimente gibt, die Behinderung simulieren. Womit aber wir auch sagen können, das ist zielführend.
Judyta: Die Anleitung. Also, dass Leute dabei sind, die selbst diese Hilfsmittel benutzen. Dass die sagen können „Ihr könnt jederzeit fragen, wie ich das mache. Wie kommt man jetzt hier über den Kantstein? Oder wie kommt man mit dem Langstock am besten hier lang.“ Das auf jeden Fall.
Raul: Und dann habe ich mich vorhin gefragt, wie wäre es eigentlich, wenn man nicht Behinderungen simuliert, sondern parieren? Also, warum muss ich mich in den Rollstuhl setzen um zu erfahren, dass Treppen doof sind? Könnte ich nicht auch als laufender Mensch in meinem Alltag auf eine Mauer stoßen, die mich daran hindert, zur Arbeit zu kommen.
Jonas: Also quasi eine sehr große Treppe.
Raul: Also eine sehr große Treppe zum Beispiel. Oder – keine Ahnung – als hörender Mensch plötzlich alle um mich herum nur noch Gebärdensprache sprechen.
Judyta: Das wär so cool!
Raul: Wenn, wenn praktisch diese Erfahrung eher mache, als er mich selber in die Lage versetzen zu müssen, gehörlos zu sein oder im Rollstuhl zu sitzen. Da glaube ich, könnte man nochmal darüber nachdenken, ob das vielleicht auch ein spannender Lehrweg wäre. Aber auch noch mal hier zu den Wissenschaftler*innen zu dem Thema vorhin. Die sagen auch, dass man auf jeden Fall viel mehr Forschung dazu machen sollte. Das über den Sinn und Unsinn von solchen Simulationen es noch zu wenig Erfahrungen gibt. Und sie stellen auch so ein bisschen die Frage, ob man das nicht auch erweitern könnte auf andere Berufsgruppen. Also müssen es jetzt Journalist*innen sein? Könnten es nicht auch Ingenieur*innen oder Architekt*innen seien, die solche Erfahrungen machen?
Judyta: Also, ich wäre sehr dafür! Schon wieder so ein bisschen gehässig von mir, ne, aber ich finde es trotzdem so… dieses punktuelle, einfach mal sich damit auseinanderzusetzen mit jemandem dabei, das finde ich sollten noch viel mehr Menschen machen.
Jonas: Richtig, das kann man ja auch auf viele Berufsgruppen, wenn nicht gar auf alle in irgendeiner Art und Weise… ja, ausweiten.
Judyta: Aber eigentlich steht da drüber der Punkt, dass wir wieder viel zu wenig miteinander zu tun haben. Also die Inklusion in der Gesellschaft noch nicht gegeben ist, das steht eigentlich über allem.
Jons: Ich glaube, man bräuchte solche Experimente eigentlich nicht, wenn es keine Barrieren mehr gäbe.
Raul: Oder wenn der/die Lehrer*innen zum Beispiel selbst im Rollstuhl säße und tagtäglich den Schüler*innen zeigt, wie man ein Leben im Rollstuhl verbringt. Wenn die Architektin im Rollstuhl Gebäude bauen würde mit Rampen und Aufzüge. Aber ich glaube, wir können auch festhalten, dass es total wichtig ist, überhaupt erst bei Menschen mit Behinderungen, die ja schon seit Jahrzehnten sagen, was die Herausforderungen in unserer Gesellschaft sind, dass wir denen zuhören. Also hinsetzen, still sein und zuhören ist, glaube ich, für die nichtbehinderten Menschen ein sehr wichtiger am Weg, um zu verstehen, wie es ist, mit einer Behinderung zu leben und wahrscheinlich auch der zielführender, als sich selbst mal für ein paar Stunden in den Rollstuhl zu setzen oder eine Sehbehinderten- Simulations-Brille aufzusetzen. Und dann zu glauben, man wüsste alles.
Jonas: Genau, solche Experimente sind erst mal per se nicht schlecht, wenn man sie richtig durchführt und quasi unter Anleitung und einem auch einfach klar wird, dass diese Abbildung von einer Stunde, einen halben Tag nicht das wirklich wahre Leben ist, sondern dass noch viel mehr dahintersteckt und dass wir einfach gemeinsam in den Dialog kommen und Menschen mit Behinderungen dort geglaubt wird. Wir haben eben über die Studien gesprochen. Studien sind immer sehr, sehr drög. Wir haben aber auf unserer Webseite „Die neue Norm“ diese Studie nochmal bereitgestellt. Ein Link dazu, wenn da Interesse ist, haben wir dort wie gesagt die Studie und noch viele andere Artikel zu diesem Thema. Ihr könnt uns natürlich auch weiterhin auf den Social Media Kanälen Twitter, Facebook, Instagram folgen und wir würden uns freuen, wenn ihr auch beim nächsten Mal wieder dabei seid, wenn ihr keine Folge unseres Podcasts von „Die neuen Norm“ verpassen wollt, könnt ihr diesen Podcast natürlich auch gerne abonnieren. Und wir freuen uns, wenn ihr beim nächsten Mal wieder dabei seid.