Die Neue Norm: „Drei Journalist*innen, zwei Rollstühle und eine Sehbehinderung: Die Journalist*innen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 27: „Religion und Behinderung“
Judyta:
Wer hat gesündigt: Dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Johannes 9, Vers 2.
Jonas:
Herzlich willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Gerade ist das christliche Osterfest vorbei, und wir haben uns gedacht, dass wir uns in dieser Folge mal darum kümmern, wie eigentlich die Beziehungen zwischen Religion und Behinderung sind. Sind Menschen mit Behinderung immer die, die geheilt werden sollen? Oder sind Menschen mit Behinderung die, die besonders gläubig sind, weil sie in der Religion eine Art Erlösung finden? Und darüber wollen wir heute sprechen mit Judyta Smykowski und Raúl Krauthausen.
Judyta:
Hallo!
Raúl:
Hi!
Jonas:
Mein Name ist Jonas Karpa. Und wir haben in Vorbereitung zu diesem Podcast auch noch mal mit zwei Personen gesprochen, die sich mit dem Thema, ich sag mal noch besser auskennen, als wir drei es schon tun. Und zwar mit Julia Watts Belser. Das ist eine Rabbinerin und Professorin für jüdische Theologie und Disability Studies an der Georgetown University in Washington DC. Und wir haben mit Ramona Jelinek-Menke gesprochen. Sie ist Religionswissenschaftlerin an der Universität Marburg, und sie hat ihre Dissertation zum Thema „Religion und Disability – Behinderung und Befähigung in religiösen Kontexten“ geschrieben. Ich habe eben gerade so salopp gesagt, wir kennen uns sehr gut mit dem Thema aus. Wie steht ihr dem Glauben gegenüber?
Raul:
Also ich muss zugeben, dass ich zwar aus einem mehr oder weniger religiösen familiären Umfeld komme und meine Großeltern sehr gläubig waren, beziehungsweise sind, aber meine Eltern wiederum gar nicht. Und es gibt wohl die Geschichte bei mir in der Familie: Als ich in Südamerika noch lebte mit meinen Eltern, irgendein Onkel väterlicherseits, der Mormonen-Priester war, mich heimlich in Abwesenheit meiner Eltern getauft hat, weil er letztendlich sicherstellen wollte, dass ich nicht unreligiös sterbe. Und das fanden meine Eltern so übergriffig, dass sie relativ schnell entschieden haben, diese Familie auch erst mal geografisch zu verlassen und dann nach Deutschland zu ziehen. Aus vielen anderen Gründen auch. Aber das fanden die eine sehr krasse Grenzüberschreitung.
Jonas:
Hat man da eigentlich – wenn das keiner so erzählt – hat man da so ein Widerrufsrecht? Also kann man das irgendwie wieder wegmachen? Also ich habe so den Gedanken gerade, dass wenn man ja aus der Kirche austritt und dann ja wieder eintritt, muss man ja nicht die ganzen Rituale, glaube ich, ja noch mal machen. Also man muss ja nicht noch mal getauft werden, wenn du in die Kirche irgendwie eintrittst oder so. Aber kann man da…?
Raul:
Ja, also ich glaub, mein Onkel damals hat jetzt kein Netflix-Abo abgeschlossen mit mir, sondern es war einfach eher so, dass der das für sich, glaube ich, haben wollte, dass ich auf jeden Fall getauft sterbe, weil er davon ausging, dass ich sterben werde. Und ich glaube, er hat das jetzt nirgendwo schriftlich hinterlassen. Ich musste auch nie Kirchensteuer zahlen bis heute. Ich bin nirgends registriert, meine Eltern auch nicht, so. Und außerdem war es halt Südamerika. Also ich glaube, dass ist jetzt, sagen wir mal nur zwischen ihm und mir gewesen, wobei ich keinen Einfluss darauf hatte, ich war ja ein Baby.
Judyta:
Ich als Baby hatte sogar zwei Taufen.
Jonas:
Was?
Judyta:
Eine Nottaufe gleich nach der Geburt, vor ein paar Operationen und danach noch einmal so eine richtige, feierliche.
Raúl:
Aber was heißt Nottaufe?
Judyta:
Das ist im Krankenhaus. Wenn du danach Operationen hast und eventuell stirbst, dass du halt als Christin stirbst.
Raúl:
Ok, und die andere, die war dann freiwillig wegen der Geschenke?
Judyta:
Nee, da war ich ja auch noch ein Baby. Aber die war so festlicher und nicht mehr so in der Not, sondern dann noch mal richtig Familienfest.
Raúl:
Und das ist dann wie so ne doppelte Impfung?
Judyta:
Immun gegen all die Sünder:innen dieser Welt. Genau. Ja, also katholisch bin ich auch.
Raul:
Du bist geboostert quasi.
Judyta:
Genau. Ich bin komplett. Ich habe das volle Programm durch. Also…
Jonas:
Mit Kommunion und Firmung und dem ganzen…?
Judyta:
Genau, genau. Also vierfach geboostert katholisch. Katholischer geht es nicht. Genau. Das ist meine Geschichte. Und bei dir, Jonas?
Jonas:
Ja, es ist bei mir genauso. Ich bin zwar nicht notgetauft, aber, sag ich mal, normal getauft, auch Erstkommunion, Firmung. War in meiner Jugendzeit sehr lange auch in der Jugend, bei den Messdienern, aktiv. Also bin auch katholisch. Und ja, bin sehr interessiert daran, wie sich – also deshalb finde ich dieses Thema auch Religion und Behinderung so spannend – wie eben auf gewisse Gruppierungen geschaut wird und merke, dass, je mehr man sich mit dem Thema auseinandersetzt, ja auch mehr das kritisch hinterfragt. Beziehungsweise je älter man wird. Also gerade, sag ich mal, Taufe kann man sich ja nicht daran erinnern und Erstkommunion ich weiß nicht, wie es bei dir war, ist ja auch eher so ein Mitlaufen und Nachplappern. Das ist ja nicht so…
Judyta:
Ein Kreuz kriegen, das ist doch das Wichtigste. So ein schönes Halskettchen.
Jonas:
Ja, stimmt. Ja, genau. Aber das ist ja nicht das… Also in dem Moment vielleicht schön, aber eure Geschichte oder eure Beziehung zum Glauben hat das auch irgendeinen Bezug bei euch persönlich mit dem Thema Behinderung? Dass ihr irgendwie sagt „Ich glaube mehr“ oder „Ich glaube weniger, weil ich eine Behinderung habe“?
Judyta:
Also um zu dem Zitat zurückzukommen, was wir eben vorgelesen haben aus der Bibel, das macht schon sehr viel mit mir. Also wer hat Schuld? Wer hat gesündigt? Ich glaube, diese Frage kam schon in meinem Umfeld. Ich kann mich natürlich selber nicht daran erinnern. Aber später als Kind hatte ich auch so das Gefühl, dass es manchmal wirklich auch die Frage so ein bisschen gestellt wurde. Das ist ja heute das Pendant, das weltliche Pendant wäre ja: Hättet ihr das nicht verhindern können? Oder hat man das nicht gesehen bei den medizinischen Untersuchungen vielleicht? Das heißt die Frage und diese Suche nach Gründen war auf jeden Fall präsent. Und die Antwort vielleicht darauf auch irgendwie ein Gottesplan. Das ist ja auch in vielen Kulturen der Fall, dass das manchmal so erklärt wird. Und der zweite Aspekt, den wir hier auch häufiger schon besprochen haben, Raul und ich, die ja seit Geburt eine Behinderung haben, wo es ja eher von außen an uns herangetragen wurde, dass wir anders sind. Wir haben das ja nie irgendwie formuliert. Wir haben nie irgendwann gesagt: „Ich bin anders als die anderen.“ Sondern wir haben es eher so gemerkt, dass eben andere Leute das uns gesagt haben. Und ich glaube, da gibt es auch so ein bisschen so eine Parallele zur Religion, zum Glauben, dass eher andere Leute für mich beten wollten und nicht ich für mich selber.
Jonas:
Mhm.
Raúl:
Was ich bei mir auf jeden Fall sagen kann, dass meine Eltern – vor allem meine Mutter, ich bin ja bei meiner Mutter aufgewachsen – dass meine Mutter öfter schon so Sätze gehört hat wie „Wir beten für Sie“ oder „Hat Gott Sie bestraft?“ oder irgendwie so. Und das hat bei mir eher für Ablehnung gesorgt, auch weil meine Mutter mit mir ja nie praktizierend gläubig war. Wir sind nie in die Kirche gegangen, wir haben nie gebetet und… sie aber als Kind schon mit ihren Eltern wiederum. Aber es ist dann irgendwie verloren gegangen in der Familie, und ich habe das dann eher für mich entschieden, Glaube abzulehnen, weil sich das auch für mich schon als Kind sehr übergriffig angefühlt hat. Wenn fremde Menschen anfingen, für uns zu beten oder die Zeugen Jehovas mir irgendetwas aufdrücken wollten, besonders viel Glück wünschen wollten. Oder wenn ich Filme sehe, wo Charaktere mit Behinderung im Glauben ihre Aufgabe suchen, weil sie behindert sind, wo ich immer dachte: „Warum? Warum musst du denn glauben, dass Gott eine Aufgabe mit dir hat? Du kannst doch einfach leben und das Beste daraus machen“. So und das fand ich immer eher verstörend. Und mit dieser Idee als Kind bin ich dann irgendwie in den Religionsunterricht geraten. Weil, das hatte glaube ich auch Betreuungsgründe, dass meine Eltern mich nicht früher von der Schule abholen konnten oder irgendwie der Schülerfahrdienst. Und da musste ich immer in diesen katholischen Religionsunterricht, wo ich auch immer nicht verstanden habe, was die eigentlich alle von mir wollen und habe dann einfach Jesusbilder ausgemalt. Ohne zu hinterfragen, was ich da eigentlich ausmale. Aber das war dann so die Malstunde für mich. Und dann hatten wir eine ganz tolle Religionslehrerin, ein paar Jahre lang, wo wir aber eher so religionsübergreifend, also alle Religionen, irgendwie mal thematisiert haben. Aber eben alles in der Grundschule. Und danach hatte ich die Wahl, da nicht mehr hinzugehen. Und dann hatte ich halt früher Schulschluss, das ist so die letzte Verbindung. Und wenn ich dann Patenonkel bin, zum Beispiel, wo ich ja auch manchmal eingeladen werde, dann wähle ich immer irgendwelche Patensprüche, die nicht religiös sind, aber trotzdem schön.
Jonas:
Mhm. Das, was mir auffällt, dass quasi eure oder das, was ihr erlebt hat, dass quasi für euch gebetet wird, ja aber auch kein Einzelschicksal ist, sondern auch quasi die Rabbinerin Julia Watts Belser, die selber im Rollstuhl sitzt, dass sie uns erzählt hat, dass auch für sie gebetet wird, wo man sich eigentlich die Frage stellen könnte, das können Sie ja eigentlich alleine.
Julia Watts Belser:
Heilung ist eines der religiösen Konzepte, die ich sehr frustrierend finde. Behinderung ist für mich kein Leiden und kein Übel. Es ist ein Teil meiner Identität, ein sehr alltäglicher Aspekt meines Lebens. Wenn ich an meine Behinderung denke, ja, so bin ich [erschaffen]. So kenne ich mein Leben. Behinderung ist manchmal kompliziert. Es ist manchmal frustrierend, aber es ist auch freudig und einfallsreich und kreativ. Heilung löscht all das aus. Es versucht, das wegzumachen. Und in meiner Erfahrung als behinderte Frau begegne ich oft der Vermutung, dass ich Heilung will, dass meine Seele sich jeden Tag und jeden Moment nach Heilung sehnt und zu das sage ich „Nein, Nein“. Ich werde oft an der Straße angesprochen von völlig fremde Leute, die mir Heilung anbieten. Und ich finde es so nervig, auch wenn es gut gemeint ist, vielleicht vor allem, wenn es gut gemeint ist, dann ist es irgendwie noch schwieriger, ja, „Nein, danke“ zu sagen. Es ist so peinlich und so frustrierend und so… Mein Hauptziel in dieser Situation ist eigentlich Flucht, weil ich möchte verschwinden. Aber manchmal komm ich doch dann auf die Möglichkeit, erst zu sagen „Nein“ und manchmal auch zu sagen „Eigentlich ist es mir nicht wohl“, weil ich finde, manchmal hat man die Möglichkeit zu erklären, diese Art von Hilfe, auch wenn es gut gemeint ist, kommt immer nach jemand anders seine Erwartungen. Es tut nichts zur Sache, ob ich Heilung will oder nicht. Ich werde, ich werde nicht gefragt. Ich bin nur als Heilungsobjekt da. Ich versuche irgendwie, die Situation zu ändern, um zu klären, warum das so uncomfortable [unbequem] ist. In solchen Situationen wird man auch häufig angefasst und berührt. Es ist eine violation [Grenzüberschreitung] von Körper, und von selbst. Dieses Anbietung von Heilung fühlt sich wie ein Angriff. Es ist so ein Missverständnis meines Lebens.
Jonas:
Würdet ihr dem zustimmen? Also, ist es genau dieses Gefühl, was sie äußert? Dass es quasi ein Angriff auf euch ist und ihr quasi nur als Objekte wahrgenommen werdet, die Heilung bedürfen oder für die gebetet werden muss?
Judyta:
Ich würde ja vor allem das sagen, das Nichtgefragtwerden, wenn man als Kind für mich gebetet hat, dann war das so. Damit kann ich mich sehr identifizieren. Und auch mit dem, das ist ja auch so der persönliche Raum, der da überschritten wird. Es kommt einem sehr nah, die Menschen sind vielleicht teilweise fremd, wie gesagt, auch auf der Straße. In Polen erlebt man das manchmal, dass wirklich einfach Leute für dich beten wollen. Also das habe ich auch schon öfter erlebt, kann ich alles sehr gut nachfühlen.
Raúl:
Was ich halt interessant finde, dass wir so etwas ja in der Regel anderen Religionen zuschreiben. Also, dass sie Behinderung als etwas vom Teufel Gemachtes interpretieren. Also es gibt in unserer westlichen Welt schon sehr krude Vorstellungen vom Islam und Behinderung. Die aber, glaube ich, in unserem christlichen Glauben mindestens, vielleicht sogar mehr, verbreitet sind. Und wir es immer anderen Religionen zuschreiben, dass die irgendwie noch behindertenfeindlicher sind. Dabei ist unsere schon behindertenfeindlich genug, in der wir leben und aufwachsen, zumindest wie sie praktiziert wird, weil Gott, beziehungsweise in der Bibel steht ja auch, dass Gott alle Menschen liebt und dass alle Menschen irgendwie auch gleich sind. Und dass es nicht mehr oder weniger wertes Leben gibt, sodass man das schon auch in Frage stellen kann und vielleicht auch trennen sollte zwischen dem, was vielleicht Religion ist und wie Religion praktiziert wird.
Jonas:
Bei mir ist es zum Beispiel so: Dadurch, dass ich ja quasi meine Behinderung erst später erworben habe und auch mit der Sehbehinderung eine unsichtbare Behinderung habe, taucht es bei mir eher nicht so auf, dass da quasi Leute auf mich zukommen. Das ist dann ja, glaube ich dann bei euch nochmal dadurch, dass ihr ja im Rollstuhl unterwegs sein, ein bisschen plakativer, dass man dann das euch nochmal ansieht. Aber Raul, was du gerade gesagt, dass das, was ja in der Bibel steht, sage ich mal jetzt als Grundlage von unserer christlichen Religion, und darauf legen wir ja gerade jetzt in diesem Podcast auch so ein bisschen den Fokus, weil wir da eben auch ja, ich weiß nicht, Expert*innen in eigener Sache sind vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen, aber quasi selber von betroffen… ist auch vielleicht das falsche Wort, aber –
Judyta:
– Geboostert.
Jonas:
Genau. Dass es quasi unsere Religion in diesem Sinne ist. Und ich habe die Religionswissenschaftlerin Ramona Jelinek-Menke mal gefragt, was denn eigentlich so in der Bibel… wie da quasi Behinderung auftaucht, weil das Wort „Behinderung“ an sich ist nämlich in der Bibel gar nicht niedergeschrieben. Aber so ein bisschen merkt man schon, dass es irgendwie drin vorkommt.
Ramona Jelinek-Menke:
Im Alten Testament zum Beispiel gibt es Moses, der ja eine sehr wichtige Rolle einnimmt und auch eine Führungsposition innehat. Von ihm heißt es, dass er eben eine Sprachbehinderung hatte. Und wenn wir ins Neue Testament gucken, was ja für die christlichen Kirchen ganz wichtig ist und in dem Jesus vorkommt, also die Jesusgeschichten, da sind behinderte Menschen, die, die geheilt werden sollen oder auch werden von Jesus. Und Jesus selbst zum Beispiel wird auch von manchen Theologinnen und Theologen als behinderter Mensch gedeutet, durch … wegen seiner Stigmata, also der Verwundung, die er am Kreuz erlitten hat. Oder weil er ja auch Folter, kann man sagen, erfahren hat vor der Kreuzigung. Und so ist es dann so, dass es zu einem integralen Bestandteil des Christentums geworden ist, sich mit Verwundung oder Beeinträchtigung und auch mit sozialer Ausgrenzung zu beschäftigen. Das ist zu einem Leitthema geworden des Christentums, weil es in der Bibel sozusagen schon so angelegt ist. Und da gab es dann erstmal in der Geschichte dieses Thema der Zuwendung zu Menschen, die man als verwundet, beeinträchtigt oder ausgeschlossen empfunden hat. Und dass man selbst helfen möchte, also entweder selber leidet oder sich mit denen, die vermeintlich leiden, dass man sich um die kümmert, weil man dann durch diese Menschen und auch durch diesen Akt des Helfens Gott näher sein kann oder dem Vorbild von Jesus nachkommt.
Jonas:
Finde ich irgendwie einen sehr spannenden Ansatz, zu sagen „Ok, Jesus ist einer von uns, er hat auch eine Behinderung“. Das ist ja… also wir kommen drin vor, in dem Fall, wenn man es so deutet, aber man erkennt auch, wo es herkommt mit dem Thema Heilung. Wenn Leute auf der Straße euch ansprechen und für euch gebetet wird, wo, sag ich mal, die Grundlage ist, wie… es gibt einfach diese vielen Heilungsgeschichten. Also, wie anfangs gesagt, die Begriffe „Behinderung“ oder „behindert sein“ tauchen so als Wörter nicht in der Bibel… kommen in der Bibel quasi nicht vor. Aber es wird ja schon häufig von Lahmen, von Krüppeln, von blinden Menschen gesprochen, die dann eben in den Jesusgeschichten quasi geheilt werden und dann wieder sehen, wieder gehen, wieder sprechen können. Und dass sie sehr, sehr dankbar dann eben auch sind.
Judyta:
Ich kann das auch verstehen, dass… oder diese Geschichte von anderen, vermeintlich schwächeren, ärmeren Menschen zu helfen, also für sie zu beten, dass es einem was gibt. Also kann man das vielleicht irgendwie mit Barmherzigkeit und mit Spenden vielleicht vergleichen, also dieses etwas für andere tun und sich dann besser fühlen, das kann ich total nachvollziehen. Und ich nehme das auch Christ*innen total ab, dass sie so sehr an Gott glauben, dass es für sie eine Freude ist, wenn sie sozusagen sehen, dass Gott auch heilt. Dass etwas verbessert wird. Aber da muss man ja wieder ansetzen, dass sozusagen dieser Grundgedanke ist, man muss für jemanden beten, der eine Behinderung hat, und der ist eben in meiner Sicht auch schon falsch. Also Raul hat es ja auch schon angesprochen. Eigentlich die Vielfalt der Kinder Gottes ist ja eigentlich so, dass wir da alle mitgemeint sind. Und so wie wir sind. Also das heißt, wir müssen nicht verändert werden eigentlich.
Raúl:
Ich frage mich halt auch, ob man diese Annahme, dass geheilt werden soll und dass Lahme wieder gehend gemacht werden sollen und Blinde wieder sehend und Krüppel wieder nicht Krüppel. Das sind ja auch Vorstellungen von Körpern, die nicht der Norm entsprechen und die Menschen wieder der Norm entsprochen werden sollen. Und ich frage mich, ob darin vielleicht auch die unterschiedliche Wertschätzung von Männern und Frauen zu finden ist, die wir in der Kirche zumindest erleben, dass Frauen nicht Pastoren werden dürfen zum Beispiel, weil Frauen eben nicht Norm-Männer sind und also ob man das nicht ähnlich verorten kann. Und dass, um es mit Philipp Möller mal zu zitieren, einer der großen, wie soll man sagen, Kritiker*innen der Kirchen in Deutschland, dass der sagt, dass eigentlich auch ganz viele Menschenrechte, eigentlich fast alle Menschenrechte, gegen die Kirche und gegen den Glauben erkämpft werden mussten, wie zum Beispiel die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Wie zum Beispiel, dass behindertes Leben genauso wertvoll ist wie das Leben ohne Behinderung. Und dass das vielleicht auch irgendwie mehr zusammenhängt, als wir wahrhaben wollen.
Jonas:
Aber wenn man jetzt zum Beispiel sieht, wie du gesagt hast, dass behindertes Leben auch wert ist, gleichzeitig ja aber die Kirchen ja zum Beispiel extrem gegen Abtreibung sind. Heißt also quasi dort, wenn man sagt, Abtreibung kommt quasi eher dann vor, wenn gesagt wird „Ok, das Kind hat potenziell vielleicht eine Behinderung“, wo die Kirchen dann sagen „Nein, das…“ –
Raul:
Ja, aber was ich da so schwierig finde, dass da dann eben der Körper der Frau geringgeschätzt wird. Also, dass man es quasi pauschal doof findet und Frauen aber natürlich genauso ein Recht haben zu entscheiden, ob sie das Kind austragen wollen oder nicht, mindestens bis zum dritten Monat. Und da finde ich diese Absolutheit, die letztendlich die Kirche da vertritt, wird der Komplexität des Themas nicht gerecht.
Jonas:
Es geht aber nicht nur darum, wie Behinderung in der Bibel drin vorkommt, sondern quasi vielleicht auch was, wie es quasi dann interpretiert wird, was es für Aufgaben gibt für Menschen mit Behinderung. Und das sagt Ramona Jelinek-Menke dazu:
Ramona Jelinek-Menke:
Klassischerweise, sag ich mal, ist es so, dass da die Behinderung eines Menschen in der Bibel dazu dient, dass Jesus seine Macht demonstrieren kann. Ja, dass er zeigen kann: Er kann dieses Wunder vollbringen und einen blinden Menschen sehend machen. Und dann kann es auch so sein aus dieser religiösen Sicht, dass man eine Behinderung als Strafe auch interpretieren kann. Für Sünden zum Beispiel. Das ist aber, wenn ich das mal so salopp sagen darf, ein bisschen aus der Mode gekommen, dass man das als Sünde interpretieren möchte. Sondern, also das ist mir so begegnet in meiner Arbeit, also in den Interviews, die ich geführt habe, dass man sagt eine Behinderung ist schon da, um, ja, die Macht Gottes zu demonstrieren, dass man merkt, das ist nicht einfach so. Menschen sind nicht einfach standardmäßig so und so. Sondern Gott ist mächtig und macht die Menschen so. Und das wird den Menschen bewusst, indem Menschen nicht immer gleich sind.
Dann wird Behinderung auch als Schicksal oder als etwas Negatives, als etwas Defizitäres schon betrachtet. Und das zeigt dann nicht behinderten Menschen, dass sie dankbar dafür sein können, dass sie keine Behinderung haben. Also es ruft eben dieses Zeichen, die Behinderung als Zeichen Gottes, ruft den nicht behinderten Menschen in Erinnerung, dass es nicht selbstverständlich ist, dass sie sind, wie sie sind. Und das ist kein Widerspruch. Weil das…dann sind alle von Gott geschaffen und auch so gewollt, wie sie sind, weil jeder und jede seine Aufgabe hat, ob behindert oder nicht. Und dann heißt „vor Gott gleich sein“ oder „gleichermaßen Gottesgeschöpf zu sein“ oder „von Gott geliebt zu sein“ heißt für Christinnen und Christen nicht immer unbedingt, dass man auch in der Gesellschaft die gleiche Position hat. Diese Schlussfolgerung „Alle Menschen sind gleich vor Gott“ muss auch heißen „Alle haben die gleichen Chancen in der Gesellschaft“. Also diese Schlussfolgerung wird nicht unbedingt gezogen von Christinnen und Christen, weil sie sagen: Jeder hat auch in seinem Leben seine Aufgabe. Also zum Beispiel jemand hat eine Behinderung und ist dafür ein Zeichen für jemanden ohne Behinderung. Und es gibt die Aufgabe, für jemanden Helfer oder Helferin zu sein. Und es gibt die Aufgabe, hilfsbedürftig zu sein.
Jonas:
Fand ich irgendwie einen interessanten Aspekt, beziehungsweise ich musste sofort daran denken, dass du, Raúl, ja häufig schon mal gesagt, du wolltest eigentlich nie Berufsbehinderter werden. Und als ich das hörte, wie die Rolle von Menschen mit Behinderung gedeutet werden kann, war ich kurz davor, mir irgendwie neue Visitenkarten zu machen und irgendwie zu sagen „Ok, es ist mein Job, Menschen ohne Behinderung zu zeigen: Seid glücklich, dass ihr keine Behinderung habt. Oder durch meine Behinderung erwecke ich ein Helfersyndrom bei – also Helfersyndrom klingt jetzt bisschen auch negativ – aber können sich Menschen irgendwie engagieren und können mich unterstützen und so.“ Wie gesagt, meine Visitenkarten sind vielleicht bald schon fertig.
Judyta:
Ich will ja auch keine Aufgabe sein für andere Leute. Also, um da irgendwie ihre Güte zu demonstrieren. Dafür bin ich eigentlich nicht da. Oder als wandelnde Mahnung. Das ist das…
Raúl:
Ja, aber das ist genau die Aufgabe für andere Leute, das finde ich ja auch ganz spannend. Das sagt nämlich Philipp Möller auch, dass eigentlich ein super kluges Marketing der Kirche in Deutschland ist, immer zu erzählen, dass sie ja auch Gutes tun: Kitas, Krankenhäuser, Behindertenwohnheime und so weiter betreiben, dass dann aber letztendlich auch relativ viel Paternalismus in diesen Strukturen steckt. Also die Gläubigen, die Nichtbehinderten, die tun was Gutes für die Behinderten, aber dann oft eben auch von oben herab und verschweigen so ein bisschen, dass 90 Prozent der Kosten, die diese Einrichtungen machen, vom Staat eh bezahlt werden und eben nicht durch die Kirchensteuer und so weiter und so fort. Das heißt, sie betreiben ganz kluges Marketing, was das angeht. Man kann solche Einrichtungen, Kindergärten und so weiter auch inklusiv denken, auch nicht gläubig denken, weltlich denken und ist jetzt auch kein Dauer-Abo von katholischer oder evangelischer Einrichtung.
Jonas:
Ja, aber, Raúl, du sprichst die Einrichtung ja quasi an, und die kirchlichen Einrichtungen sind, so wie es mir die Religionswissenschaftlerin Ramona Jelinek-Menke gesagt hat, die wurden im neunzehnten Jahrhundert so ein bisschen auch dahin gedrängt, dass man gesagt hat „Ok, wir haben hier eine Gruppierung von Menschen oder von Hilfsbedürftigen, um die man sich irgendwie nicht kümmern wollte. Wer kann das übernehmen? Ok, dann sollen es, ja, die kirchlichen Einrichtungen machen.“ Und du hast eben die Frage nach der Inklusion gestellt bei solchen Einrichtungen. Und das ist eben grundsätzlich die Frage: Was versteht man unter Inklusion? Und das sagte Ramona Jelinek-Menke dazu:
Ramona Jelinek-Menke:
Also manche erkennen Inklusion, wie gesagt, an als auch Menschenrecht und sind da sicherlich auch auf einer Linie, würde ich jetzt sagen, mit Inklusionsaktivistinnen oder Behindertenrechtsaktivistinnen. Aber manche verstehen unter Inklusion auch das Zusammensein von behinderten und nicht behinderten Menschen und gehen dann davon aus, dass das in diesen Einrichtungen am besten möglich ist, weil sie nicht glauben oder, davon nicht überzeugt sind, dass es außerhalb der Einrichtung in dieser Gesellschaft möglich ist und sagen, es braucht diese Einrichtungen. Oder dass es diese Einrichtungen braucht, um behinderten Menschen entsprechende Bildung zukommen zu lassen, weil sie dann nicht von inklusiver, dem Gelingen von inklusiver Bildung, überzeugt sind. Und mein Eindruck ist, dass man auf den Leitungsebenen schon noch davon überzeugt ist und das auch sehr als Ideal ausgibt, aber umso weiter das geht in Richtung Pflege und Betreuung und Assistenz, dass man da nicht mehr so überzeugt ist von Inklusion. Und dann gibt es natürlich auch das, dass es geht um Deutungshoheit. Und wenn man Deutungshoheit innehat, geht es auch darum, wer bestimmt darüber, wie mit wem umgegangen wird. Und dann haben die Kirchen, die kirchlichen Sozialverbände sowie Diakonie und Caritas, vielleicht schon zumindest das Interesse, Inklusion so zu gestalten, dass sie nicht ohne sie funktioniert.
Jonas:
Bringt es, glaube ich, von dem auf den Punkt, was wir so ein bisschen auch in den anderen Bereichen, die wir schon mal besprochen haben, festgestellt haben. Also, dass viele Bereiche, sei es quasi Wohneinrichtungen, sei es Werkstätten, von kirchlichen Trägern geführt werden und das dort natürlich irgendwie so eine Art ja auch Geschäftsmodell darin entsteht und da vielleicht auch eben kein großes irgendwie Interesse besteht, das irgendwie zu verändern.
Raúl:
Ja, und wenn man das in Frage stellt, dann sehr häufig auf Leute trifft, die sich persönlich angegriffen fühlen. Dabei ist es in der Regel, wenn die Behindertenrechtsbewegung diese Strukturen kritisiert, ja keine persönliche Kritik, sondern eher eine strukturelle Kritik von Machtverhältnissen. Also wir sehen das, wie gesagt, ich habe es mit den Geschlechtern versucht zu vergleichen, das ja auch Männer definieren, wie weit Frauen in der Kirche gehen dürfen. Und das ist ja auch nicht besonders demokratisch legitimiert alles da oben.
Judyta:
Das andere ist aber auch die Begeisterung, finde ich, von religiösen Menschen jetzt in meinem Fall, dass ich mit Julia Watts Belser eben gesprochen habe und ich wirklich auch nachempfinden konnte, wie sie einmal erzählt hat, in der Bibel, dass eben behinderte Menschen doch auch vorkommen. Sie kommen ja auch vor, meistens im negativen Sinne oder meistens in diesem Heilungssinne. Aber sie hat mir noch von einer anderen Stelle aus der Bibel erzählt: „Siehe, ich bringe sie heim aus dem Nordland und sammle sie von den Enden der Erde, unter ihnen Blinde und Lahme, Schwangere und Wöchnerinnen. Als große Gemeinde kehren sie hierher zurück.“ Das ist aus Jeremia 31.
Julia Watts Belser:
Eines, das mir da so wichtig ist, ist erst, dass es ein Platz für Behinderung gibt in dieser Zukunft. Ja, wir sind dabei. Wir sind da, genauso wie wir jetzt sind. Heilung ist eigentlich nicht das Thema. Das Zweite, das mir hier so wichtig ist, ist das Verständnis, dass das Problem eigentlich nicht die Behinderung ist, sondern die Normen der Welt, die uns nicht angepasst sind. Wenn ich diesen Text lese als Rollstuhlfahrerin, wenn ich an diesen geraden Weg denke, ja, dann denke ich: „Ach, jetzt legt für mich Gott endlich eine Rampe aus.“ Und dieser Perspektivwechsel, das ist mir so wichtig, weil mit so ein Text hat man dann die Möglichkeit zu sagen, es ist eine religiöse Verpflichtung, um eine bessere Welt zu arbeiten, um Barrierefreiheit zu kämpfen. Dass, im Judentum sprechen wir oft von Verpflichtung, man hat eine Verpflichtung für Sozialgerechtigkeit. Und das finde ich so wichtig.
Judyta:
Also hier auch wieder so ein, so eine ganz weltliche Sicht aus dieser Bibel heraus zu sagen: „Wir werden doch irgendwie mitgemeint.“ Und wir haben daraus irgendwie, oder gläubige Menschen, haben daraus eine Verpflichtung, eben ja, soziale Gerechtigkeit unter allen Menschen herzustellen. Um weltlich auch zu bleiben. Es gibt ja immer dieses wörtliche Bild auch vom Ebenbild Gottes oder von Gottes Kindern, dass sie alle einzigartig sind und dass Gott sie alle gleichermaßen liebt. Das heißt, es ist eigentlich eine Vielfalt da, aber es werden auch alle gleich behandelt. Und trotzdem haben wir ja auf der anderen Seite diese Stellen, wo eben doch Behinderung wieder geheilt werden muss. Das heißt, es ist eigentlich interessant. Das sind verschiedene Konzepte da drin, die irgendwo einerseits die Verschiedenheit ja auch irgendwie feiern und andererseits eben auch ja das Wohlergehen, also die Heilung, vielleicht irgendwie in einer Art propagieren. Und ich finde Julia Watts Belser hat das dann gut zusammengefasst. Sie fragt nämlich einfach auch wirklich geradeheraus: „Wer sagt eigentlich, dass Gott immer ein männlicher, auch weiß genannter oder ja sich vorstellender Typ ist?“
Julia Watts Belser:
Es ist frustrierend, dass es so eine große Lücke gibt. Zwischen dem Glauben, dass wir alle in der Ebenbild Gott sind. Und die Realität, dass es so oft Stigmatisierungen gibt, dass es Diskriminierung gibt. Dass wir es nicht schaffen, ehrlich zu verstehen das, was es eigentlich meint, zu sagen „Ich bin so wie ich bin in der Ebenbild Gott geschöpft[erschaffen]“. Ich finde, es ist immer wichtig, dass wir über Macht denken, dass wir verstehen. Es ist nicht genug nur mit dieser Idee „Ah, wir sind alle Kinder von Gott“ zu gehen. Wir müssen tiefer gehen und ehrlich verstehen, wie soziale Ungerechtigkeit in unser Denken, in unser Glaube und in unserer Kenntnis. Es geht so tief. Und meiner Meinung nach ist es eine Art Verpflichtung des zu arbeiten und anders zu verstehen. Wir müssen tiefer gehen und nicht nur mit Platituden oder mit schöne Versen arbeiten. Wir müssen wirklich arbeiten und uns selber fragen: Warum ist es, dass sich meine, dieser Körper ist gut und dieser nicht so gut? Dieser Person ist ähnlicher wie Gott, dieser nicht so. Wenn wir über Gott denken, denken wir oft…es wird oft ein…an unser Normen. Wir nehmen unser Normen, unser körperlicher, weltliche Normen und we project them [projizieren] und wir stellen sie vor, als ob sie auch eine himmlische Sache sind. Und das ist nicht richtig.
Jonas:
Hat Gott eine Behinderung?
Raúl:
Ob Gott behindert ist, kann ich dir nicht beantworten. Aber ich finde es unglaublich interessant. Und je mehr ich jetzt auch darüber nachdenke durch diesen Podcast, dass es vielleicht auch einfach vor allem darum gehen sollte, dass wir alle, wie ja bereits gesagt wurde, tiefer blicken sollten als diese Plattitüden, die auch ich hier vielleicht im Podcast grad geäußert habe. Sowas wie „Gott liebt uns doch alle“ und so weiter. Und wir einfach mal fragen sollten, warum ist das für uns alle als Menschheit so ein Ding zu unterscheiden zwischen Norm und nicht Norm, zwischen behindert und nicht behindert, Mann und Frau? Ist das einfach auch die Aufgabe der Bibel, dass wir immer mal wieder über solche Machtverhältnisse reflektieren?
Jonas:
Genau und diese Machtverhältnisse, die es halt eben gibt, dass man die hinterfragt und eben nicht in diese Gruppierung, wie du gerade eben gesagt hast, unterscheidet. Und vielleicht auch so, wie es die Religionswissenschaftlerin Ramona Jelinek-Menke gesagt hat, so ein bisschen auch einfach so ein Schubladendenken, glaube ich auch in der Art und Weise entsteht, dass man Gruppierungen schafft, um die man sich dann ja kümmern kann.
Ramona Jelinek-Menke:
Also wenn ich das provokant formulieren wollen würde, dann könnte ich sagen, dass die christlichen Einrichtungen schon daran beteiligt sind, die Gruppe zu schaffen, um die sie sich ihrem Selbstverständnis nach kümmern wollen und dafür auch sozial anerkannt werden. Und was ich beobachte, ist, dass man sich da eben auch zunehmend auf diese Gruppe fokussiert, die sich vermeintlich nicht selbst äußern kann. Also in den Theologien zum Beispiel oder in so kirchlichen sozialverbandlichen Publikationen, also bis zum Jahr 2000 bis 2008, also man sieht das schon, dass da mit dem Inkrafttreten der UN-BRK, der UN-Behindertenrechtskonvention, ein Wandel stattfindet. Also bis dahin war auch das Thema Körperbehinderung ein Thema und zunehmend ist es die sogenannte geistige Behinderung und die schwerste Behinderung. Weil man meint, dass diese Menschen sich nicht selbst äußern können. Und das müssten die Kirchen tun oder die christliche Akteur:innen tun. Und da wird dann nicht daran geglaubt, dass diese Gruppe sich selbst äußern könnte, dass da Selbstbestimmung eine Illusion ist, dass Inklusion dann auch schädlich ist, weil diese Gruppe von Menschen dann wieder weiter nur ins Abseits gedrängt wird, also, weil sie nicht mithalten können. Also solche Stereotype kommen da dann zum Tragen und sagen da braucht es dann die ja auch die christlich geprägte Fürsprache für diese Gruppen. Also diese Fokussierung, stelle ich fest auf diese Gruppe, und ich würde das darauf zurückführen, dass es eben damit zu tun hat, dass aus dieser Gruppe aus verschiedenen Gründen am wenigsten Widerspruch im Moment noch kommt. Und dass die christlichen Akteurinnen oder kirchlichen Akteurinnen damit dann noch ihre eigene Notwendigkeit, ihre Wichtigkeit in der Gesellschaft, untermauern können.
Raúl:
Das finde ich super interessant, weil, wenn man sich jetzt quasi auf die Gruppe zurückzieht, die nicht für sich selber sprechen kann. Also schwerstmehrfachbehinderte Menschen oder geistig behinderte Menschen, dann sind ja die Menschen, die für sie sprechen, trotzdem immer noch ohne Behinderung. Aber die weltliche Antwort könnte auch sein: Vielleicht sollten wir Menschen mit anderen Behinderungen, die sehr wohl für sich sprechen können, aber vielleicht ähnliche Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen gemacht haben, vielleicht sind sie die besseren Fürsprecher*innen für jene, die nicht für sich selber sprechen können. Also wenn ich das Down-Syndrom habe oder eine schwere geistige Behinderung habe und 18 bin, dann habe ich genauso das Recht darauf, mich von meinen Eltern loszusagen, auch wenn ich vielleicht nicht für mich selber sprechen kann, wie jeder andere Mensch ohne Behinderung auch. Und wir müssten nur dafür sorgen, dass es Strukturen gibt, die das quasi ermöglichen.
Jonas:
Also Verbündete auch schaffen.
Raul:
Verbündete schaffen. Und ich nehme mal an, dass jemand mit einer ähnlichen Diskriminierungserfahrung eher davor schützen kann, dass wieder Paternalismus stattfindet, also über jemanden gesprochen wird, als jemand, der gar keine Diskriminierungserfahrung hat, der dann keine Behinderung hat und eben im kirchlichen Kontext sich für behinderte Menschen, die sich nicht wehren können, einsetzt.
Jonas:
Also können wir rausgehen mit der Erkenntnis, dass Behinderung für die damaligen Verhältnisse in der Bibel quasi vorkam und auch so einen Grundstein gelegt hat, wir aber uns inzwischen in der Gesellschaft weiterentwickeln und eben nicht mehr ein von oben herab haben möchten. Wo, wie soll ich sagen, mir fällt gerade irgendwie so ein Bild ein wie, dass sich Menschen mit Behinderung wie so eine Katze auf den Rücken legen und sagen „Heile mich“ oder „Hilf mir“ und sich die Menschen ohne Behinderung dabei irgendwie sehr gut da fühlen irgendwie und meinen, das Richtige zu tun. Ich finde auch immer, dass da in den seltensten Fällen eine böse Absicht hinter steckt, sondern einfach vielleicht auch ein Nichtwissen beziehungsweise einfach ein…die Thematik von Inklusion einfach noch nicht überall angekommen ist und wir gleichzeitig aber auch ja eben möchten, dass diese Strukturen, dieses Schubladendenken, dieses Unterscheiden zwischen Behinderungen, nicht behindert und nicht behindert, Mann und Frau, heterosexuell, homosexuell, trans, queer, was auch immer, dass diese, ja, dass es da quasi um Macht und Machtstrukturen geht. Und dass das einfach aufgebrochen werden muss.
Raúl:
Wobei man natürlich zur Ehrenrettung der Menschen, die sich in der Kirche engagieren, auch sagen muss, dass man das nicht pauschal sagen kann. Also es meint ja nicht das Personal, sondern wirklich eher die Strukturen, die das eventuell begünstigen. Und dass es sehr wohl großartige Menschen in kirchlichen Einrichtungen gibt, ob sie selber gläubig sind oder nicht. Die großartige Arbeit im inklusiven Sinne machen nur eben die Strukturen, die vielleicht auch oft davon abhalten und oder das vielleicht sogar unterstützen wollen, aber eben dann noch zur Minderheit dieser Einrichtungen gehören.
Jonas:
Deshalb finden wir es spannend, mal von euch zu wissen, wenn ihr eine Behinderung habt. Wie steht ihr zum Thema Glauben? Hat der euch beeinflusst? Hat die Behinderung euren Glauben beeinflusst und einfach mal den Gedanken so weiterzuspinnen ja, welche Behinderung hat Gott für euch? Ist es quasi eine Person, die vollkommen ist und vom Normendenken irgendwie geprägt ist? Oder ist es vielleicht auch einfach ein Abbild von euch selbst? Schreibt es uns gerne auf unseren Social-Media-Kanälen bei Twitter, Instagram oder auch bei Facebook. Oder schreibt es einfach in eine Mail an [email protected] oder [email protected]. Und wir freuen uns, wenn ihr dann auch beim nächsten Mal wieder mit dabei seid. Bis dahin, tschüss!
Judyta:
Tschüss!
Raúl:
Tschüss!