Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 61: „Mediziner*innen mit Behinderung (Teil 2)“
Raúl: Karina, sag mal, wie geht’s dir denn heute?
Karina: Boah, zur Zeit habe ich irgendwie ziemlich viele Schmerzen.
Raúl: Ja, krass, weil Frauen ertragen relativ viele Schmerzen in ihrem Leben, mehr als wir Männer wahrscheinlich. Ich habe da meinen Respekt vor.
Jonas: Ja, du mit deiner Männergrippe, ne? Aber ich glaube, wir sollten jetzt nicht mit Gender-Stereotypen anfangen.
Raúl: Na gut, ja.
Jonas: Herzlich willkommen zu der Neuen Norm, dem Podcast. In der letzten Episode haben wir uns ja schon dem Thema Medizin gewidmet und da machen wir heute auch weiter. Denn heute widmen wir uns dem Thema Gesundheitsversorgung. Wie funktioniert das Gesundheitssystem für behinderte Menschen? Welche Barrieren gibt es? Wie verändern sich die je nach Behinderung und Geschlecht? Und was hat das Ganze mit dem Begriff Gaslighting auf sich? Bei mir sind Karina Sturm und Raúl Krauthausen.
Karina: Hallo.
Raúl: Hi.
Jonas: Mein Name ist Jonas Karpa und auch in dieser Folge haben wir unsere beiden Expert*innen zu dem Thema zu Gast, die nämlich im Medizinwesen unterwegs sind. Einmal haben wir Dr. Leo Rupp hier bei uns. Er ist Arzt in Berlin, Rollstuhlfahrer. Und bist du eigentlich Arzt geworden wegen deiner Erfahrung mit schlechter medizinischer Versorgung? Und wolltest du es einfach mal besser machen?
Leo: Ne, ich glaube nicht. Ich glaube, ich muss es… also meine Eltern sind beide Ärzte und Ärztinnen. Mein Großvater war auch Arzt. Ich glaube, das ist so ein bisschen in die Wiege gelegt. Ehrlich gesagt.
Raúl: Ja, eine Dynastie.
Leo: Genau. Ich hatte keine Wahl. So sieht es aus. Ja, und ich dadurch habe ich ehrlicherweise dadurch, dass meine Eltern quasi beide Arzt und Ärztin sind, habe ich gar nicht so schlechte Erfahrungen gemacht. Jetzt muss man aber retrospektiv halt auch sagen, hatte ich halt auch wahrscheinlich immer auch eine sehr deluxe medizinische Versorgung, weil meine Eltern natürlich dafür gesorgt haben, dass ich, ich war über meine Eltern halt privat versichert. Und dadurch war ich halt natürlich als Kind im Rollstuhl in einem, ich bin quasi in einem goldenen Rollstuhl aufgewachsen, blöd gesagt, ohne es überheblich zu meinen. Und dementsprechend habe ich zum Glück, würde ich sagen, keine schlechten Erfahrungen gemacht. Und ja, genau, gar nicht unbedingt dadurch auch das Bedürfnis gehabt, was besser zu machen, muss ich sagen. Aber ich habe natürlich das Bedürfnis, es besser zu machen. Das ist völlig klar.
Jonas: Und also schön, dass du da bist. Und bei uns ist Hannah Hübecker. Sie ist Medizinstudentin in meiner Heimatstadt Essen und hat Friedreichs Ataxie. Hannah, studierst du Medizin, weil du ja viele negative Erfahrungen gemacht hast, bislang in der Gesundheitsversorgung?
Hannah: Ich habe tatsächlich vor meiner Diagnose, als ich angefangen habe, Medizin zu studieren, einige schlechte Erfahrungen gemacht. Aber den Wunsch hatte ich vorher und hatte ich dann immer noch zum Glück. Bei mir in der Familie ist tatsächlich niemand, der irgendwas ansatzweise mit Medizin zu tun hatte. Aber mich hat das schon immer total fasziniert. Naturwissenschaft und Medizin waren immer mein Ding. Und ja, dann bin ich auch da geblieben.
Jonas: Aber es war jetzt nicht so, dass du gesagt hast, okay, ich studiere jetzt Medizin, weil du deine eigene Erkrankung, deine eigene Behinderung erforschen oder auf den Grund gehen wolltest?
Hannah: Nee, also meine Diagnose habe ich ja erst mit 22 bekommen und Abi gemacht habe ich mit 18. Angefangen habe ich mit 19. Und da war das noch nicht so das Thema für mich.
Jonas: Okay. Wie gesagt, wenn ihr jetzt die Folge davor verpasst habt, dann schaut doch einfach mal in der ARD Audiothek nach. Dort findet ihr auch schon unsere erste Folge, wo wir über das medizinische Modell von Behinderung gesprochen haben und über die Zugänge in das Studium der Medizin und welche Barrieren es auch dort gibt. Jetzt geht es um medizinische Gesundheitsversorgung und das Thema ist irgendwie, finde ich, sehr, sehr offensichtlich.
Karina, du kannst da auch, glaube ich, ein Lied von singen, wenn es um das Thema Gesundheitsversorgung geht, gerade eben auch mit deiner unsichtbaren und auch seltenen Behinderung.
Karina: Ja, also ich habe eigentlich praktisch nur schlechte Erfahrungen gemacht, vor allem in der Zeit vor meiner Diagnose, was insgesamt vier Jahre waren. Genau, ich könnte Stunden nur mit negativen Erlebnissen füllen. Das finde ich sehr traurig. Was mich immer ein bisschen nervt, ist, wenn wir über Barrieren sprechen, dann denken wir meistens am Kopf nur an die physischen Barrieren. Also diese ganzen Studien zu Barrierefreiheit und sowas. Gibt es Rampen oder, also das ist natürlich auch wichtig, es sind immer noch super viele Praxen überhaupt nicht barrierefrei für Rollstuhlfahrer*innen zugänglich und kein Mensch denkt an irgendwie leichte Sprache oder Gebärdensprachdolmetschung oder so. Aber was zum Beispiel teilweise gar nicht erwähnt wird, ist, dass es für Menschen mit seltenen Erkrankungen wie meiner zum Beispiel noch ganz andere Hürden gibt wie finanzielle, weil ich zum Beispiel mittlerweile fast kaum noch Kassenärzte habe, die mich betreuen, weil die alle nicht mehr einsehen, im Gesundheitssystem diesen Aufwand überhaupt auf sich zu nehmen, weil wir chronisch Kranken mit EDS irgendwie sind zu teuer und deswegen müssen wir quasi mittlerweile fast alles privat zahlen und das kann der Großteil halt auch gar nicht.
Raúl: Das ist wirklich eine Frage, die mir die ganze Zeit schon im Kopf schwirrt. Die Politiker*innen leugnen das ja, aber haben wir vielleicht längst schon die Zwei-Klasse-Medizin?
Jonas: Also ich würde sogar fast sogar einen Schritt weiter gehen. Also ich war auch vor ein paar Wochen etwas länger krank und hatte dann Schmerzen und bin dann quasi ohne Termin zum Arzt gegangen und die haben mir gesagt, dass sie mich jetzt gerade nicht behandeln können, aber ich könnte gerne einen Termin machen, wenn ich eine Zusatzuntersuchung, die ich dann quasi noch selber bezahlen müsste, wenn ich die gleich mitmachen würde. Also im Sinne von, eigentlich müssen die mich behandeln, gerade dann, wenn du mit Schmerzen akut in so eine Sprechstunde gehst und dann sagen, ja, aber buchen Sie das Paket XY hinzu und dann können wir Sie vielleicht behandeln. Also auch diese Erfahrung, die du, Karina, gemacht hast im Sinne von, dass es einfach viele Anliegen gibt, wo du heutzutage nur noch auf Privatpraxen stößt und du gar keine Chance mehr hast, als kassenversicherte Person dort einen Termin zu finden.
Raúl: Hannah, wie erlebst du das im Studium? Ist das da Thema?
Hannah: Es ist kaum Thema, würde ich sagen. Gerade wie die Situation ist für chronisch krank oder für Menschen mit Behinderung ist, glaube ich, eigentlich kein Thema im Studium, es sei denn man kommt halt aus irgendwelchen Gründen damit selber in Kontakt nochmal. Ich habe auch sehr gemischte Erfahrungen gemacht und auch, wie Karina ja auch schon sagt, in den sechs Jahren vor meiner Diagnose, habe ich auf jeden Fall deutlich noch schlechtere Erfahrungen gemacht. Wenn wir da gerade bei sind, mein Highlight ist mein Neurologe, wo ich damals war mit 17, da war ich mit 17 dann mein Freund da und der sitzt hier nebenan. Also wir sind immer noch zusammen übrigens, ist relevant für die Geschichte gleich, weil es war Corona, dementsprechend saß er vor der Tür mit Maske und ich ging alleine ins Zimmer und mein Neurologe guckte mich an, zog die Augenbrauen hoch und sagte, haben Sie nicht noch jemanden mitgebracht? Und ich sage, ja doch, mein Freund, aber der sitzt draußen wegen Corona, wollte ja nicht reinkommen und dann sah er mich an und sagte, wollen Sie nicht jemanden mitbringen, der auch bei Ihnen bleibt? Ja, da habe ich gedacht, ich glaube, ich suche mir mal einen anderen Arzt. Ja, solche Erfahrungen durfte ich dann auch sehr oft machen, gerade was Empathie angeht oder Verständnis für die Situation ist, glaube ich, leider halt bei ärztlichem Personal auch oft nicht so, ja, nicht so viel von zu sprechen, sage ich jetzt mal. Es gibt auf jeden Fall auch die anderen Beispiele und ich hatte auch das Glück, schon ein paar davon zu erleben, aber es ist leider noch nicht in der Allgemeinheit angekommen, glaube ich. Und ja, Raúl, wie du sagst, auf jeden Fall wäre es wichtig, dass es noch viel mehr ein Teil des Studiums wird und wir hatten zwar ein paar Kurse, die so in Richtung Kommunikation gingen, aber ich finde, das muss noch viel mehr ausgebaut werden und dass Studenten und Studentinnen einfach schon viel früher viel mehr Kontakt zu Patient*innen haben.
Raúl: Aber so das Thema Zwei-Klassen-Medizin, also dass quasi, wenn du Kassenpatient bist, andere, schlechtere Leistungen bekommst, als wenn du Privatpatientin bist?
Leo: Aber das ist ja total so, Raul. Also, ich meine, das hat ja letztens auch, das ist, glaube ich, gar nicht lange her, da hat doch Herr Professor Lauterbach das doch auch nochmal angeprangert mit der GKV zusammen, dass das nicht geht. Und ja, Hannah, du hast recht, es wird im Studium nicht behandelt so richtig, dieses Thema zum Beispiel auch Privatpatient*innen, Kassenpatient*innen. Aber seien wir mal ehrlich, das ist halt auch ein uraltes Konstrukt, das muss natürlich abgeschafft werden. Also, da seien wir mal ehrlich.
Hannah: Auf jeden Fall, Leo, hast du voll recht, muss abgeschafft werden, aber leider ist es das halt noch nicht. Solange es das ist, müssen sich Ärztinnen und Ärzte halt irgendwie in dem System vernünftig zurechtfinden können.
Leo: Ja, aber sie finden sich ja zurecht. Also, da bin ich jetzt mal ganz platt. Es ist halt geil, viel Geld zu verdienen. Also, natürlich ist es nice. Also, ich meine, wir sind eine kapitalistische, zumindest eine soziale Marktwirtschaft und natürlich ist es geil, wenn die Privatpatient*innen halt einfach mal drei, vier, fünfmal so viel Kohle einbringen wie Kassenpatient*innen. Klar, logisch.
Hannah: Ja, natürlich ist das geil, aber solange wir uns als soziale Marktwirtschaft verstehen, müssen wir entweder das begrenzen oder das ganze System ändern. Und solange wir das System nicht morgen geändert haben, müssen wir es vielleicht erst mal einfangen.
Leo: Ja, aber nichtsdestotrotz muss es ja ein politischer Wandel sein in dem Fall.
Hannah: Ja, auf jeden Fall, da bin ich voll bei dir.
Raúl: Eine Bürgerversicherung für alle.
Leo: Ja, genau, klar. Also, es kann ja auch nicht sein, dass die verbeamteten Lehrerinnen und Lehrer auch privat versichert sind. Also, es geht ja sogar noch weiter. Ich gebe euch mal ein Beispiel. Hier in Berlin gibt es viele Menschen ohne festen Wohnsitz und als Charité haben wir den Namen Charité Barmherzigkeit, ja wirklich im Namen, muss man sagen. Und das ist ja nochmal, die sind ja noch nicht mal Krankenversichert, diese Menschen, häufig. Und da muss man auch ehrlich zu sich selbst sein. Also, klar, bestelle ich denen dann einen Kältebus, aber gibt es viele Menschen ohne festen Wohnsitz, die werden nicht stationär aufgenommen, obwohl sie stationär behandlungspflichtige Erkrankungen haben, weil es nicht bezahlt wird. Also, so ehrlich muss man doch mal sein an der Stelle. Und der Mensch, also das ist dann sozusagen die Stufe unter Kassenpatient, dann gibt es irgendwie den Kassenpatient, da heißt es dann ja, wir haben eigentlich kein Bett, aber vielleicht gibt es was irgendwie im Spreewald. Und dann gibt es halt irgendwie den Privatpatient und da heißt es, ach ja, an der obersten Etage vom Bettenhochhaus ist noch ein Zimmer frei. Also, das ist ja, also, wie gesagt, so ehrlich muss man sein, glaube ich.
Hannah: Ja, ich glaube, da bin ich verbürdiert, dass wir ein riesiges systemisches Problem haben, aber um in deinem Beispiel zu bleiben, bin ich halt der Meinung, wir müssen den Kältebus trotzdem unterstützen, auch wenn er nicht die Lösung für das Ding ist, nicht mal im Ansatz, müssen wir den Kältebus trotzdem unterstützen, solange wir sonst nichts haben.
Raúl: Ich wollte immer mal in die Deluxe-Etage in der Charite, die jetzt angeblich wie so ein 5-Sterne-Hotel sein soll. Warst du da mal drin, Leo?
Leo: Ja, ich war da auch mal als Patient, ist ziemlich nice, muss man sagen.
Raúl: Na, verdammt.
Leo: Also, du hast dann so eine Menükarte, wo du dir Essen aussuchen darfst.
Karina: Oh Gott, da möchte ich auch hin. Wie viel kostet das? Ich zahle eh schon alles privat. Wie viel kostet das auch noch?
Leo: Das weiß ich nicht, ehrlich gesagt.
Jonas: Aber ich finde, noch mal zurückzukommen auf das soziale Thema und der Umgang miteinander. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, vor mehr als zehn Jahren, als ich meine Behinderung erworben habe, war ich in der Uniklinik in Essen, Grüße, in der Poliklinik für Augenheilkunde, wo erst mal ein Nummerchen zieht und dann macht es “Ping” und dann hast du eine ganz kleine Anzeige, ohne Sprachausgabe, wo dann die Leute, die dort sind, die Augenerkrankungen haben, teilweise nicht sehen können, das irgendwie erahnen, welche Nummer gezogen wird. Zum einen das und dann bin ich im Behandlungszimmer und dann sagt, ich gerade frisch sehbehindert, und dann sagt die Ärztin zu mir, fahren Sie noch Auto? Und ich so, nein. Ja, sollten Sie auch nicht mehr tun.
Raúl: Ja, danke für nix.
Jonas: Das ist Empathie.
Raúl: Ja, echt.
Jonas: Also gerade irgendwie dieses, irgendwie mit, wir möchten ja auch nicht immer gerne von Schicksalsschlägen reden, gerade wenn es irgendwie um den Erwerb von Behinderung geht. Aber Herrgott, das ist einer gewesen. Und dann sozusagen, mir fiel in dem Moment da nicht ein zu sagen, doch, ich bin im Auto gekommen gerade. Wieso?
Raúl: Ich habe eine Frage, die mich schon die ganze Zeit so im Kopf rumspukt, weil es gibt ja diese ernsten Gespräche, die man als Ärztin/Arzt mit Patientinnen führen muss, sowas wie, keine Ahnung, Sie werden nie wieder laufen können oder Sie werden bald sterben. Diese Tacheles-Geschichten. Und ist es so, dass einem behinderten Arzt/Ärztin das dann vielleicht auch eher abgenommen wird?
Leo: Gute Frage. Weißt du, was witzig ist, Raúl? Ja, vielleicht, aber ich denke wirklich während meiner Arbeit so wenig über meine Behinderung nach. Eigentlich gar nicht. Ich bin halt einfach, weiß ich nicht, Dr. Leopold Rupp und nutze halt einen Rollstuhl. Aber mir selber fällt das so wenig auf und ich erlebe ganz oft, mir wird immer die Frage gestellt, ich bin froh, dass ihr sie nicht gestellt habt, ob die Menschen negativ darauf reagieren, dass ich im Rollstuhl sitze als Arzt. Und wir hatten das in der letzten Folge ja schon einmal angerissen, da hatte Hannah das auch nochmal gesagt, dass eher das fast umgekehrt ist, dass eine viel zu hohe Erwartungshaltung angestellt wird und die Menschen denken, man muss als Mensch/Arzt/Ärztin mit einer Behinderung besonders gut sein, besonders krass, besonders toll. Aber was halt tatsächlich so der Fall ist, das fällt mir ganz oft auf, dass dieser, ob das jetzt gut oder schlecht ist, das bewerte ich jetzt an der Stelle gar nicht, aber dass dieser Respekt vor der Person des Arztes, der Ärztin, dass der in der Bevölkerung tatsächlich noch so verankert ist, auch im Jahr 2025, dass wenn ich da auftrete, in dem Fall heranrolle quasi bei meinen Patientinnen und Patienten, dass das glaube ich für die vielleicht unterbewusst eine Rolle spielt, aber primär sehen die mich halt als Arzt/Ärztin mit dem Stethoskop um Hals und als quasi in dem Fall dann ja Respektsperson. Und deswegen spielt das glaube ich wenig eine Rolle. Vielleicht irre ich mich auch, vielleicht müsste ich mal eine Umfrage starten in der Entschuldigung, wenn alle Patientinnen und Patienten fragen.
Raúl: Aber wenn du sie fragst, werden sie dir vielleicht nicht ehrlich antworten.
Leo: Ja genau, vielleicht nicht. Aber noch ein weiteres Beispiel, weil ich es immer ganz witzig fand. Ich war ein halbes Jahr, vor zwei Jahren war ich mal ein halbes Jahr in der Kindernotaufnahme und habe ein halbes Jahr in der Kindernotaufnahme gearbeitet. Und Kinder sind ja häufig erstaunlich ehrlich. Und immer wenn ich Kinder so treffe, so kleine Kinder, jüngere Kinder, dann im Alltag irgendwie draußen auf der Straße und sagen die häufig “Oh, ein kleiner Mann”. Und sobald ich in der Klinik, in der Kindernotaufnahme ein Stethoskop um Hals hatte und quasi meine Arbeitsklamotten an hatte, war die Aussage der Kinder sofort “Oh, ein kleiner Arzt”. Die haben das sofort kapiert. Auch mit zwei Jahren, mit drei Jahren, mit vier Jahren, die haben sofort kapiert “Oh, ein kleiner Arzt”. Die haben immer noch diesen Zusammenhang hergestellt, der Mensch ist kleiner als andere Menschen, die wir sonst so kennen als Erwachsene, aber er ist Arzt. Und ich glaube, das ist einfach so fest drin. Deine Frage war, glaube ich, eine völlig andere und ich habe völlig Nonsens erzählt. Aber wenn ich mich erinnere, war deine Frage, ob die Patientinnen und Patienten es einem eher abkaufen, wenn man ihnen schlechte Nachrichten überbringt.
Raúl: Ja, oder vielleicht nicht unbedingt leichter abkaufen, sondern dann auch einen selber vielleicht auch als Expertinnen wahrnehmen. Also dann zu sagen, okay, sind Sie ja selber behindert, wie haben Sie denn jetzt sagen wir mal Ihr Leben gestaltet oder so?
Leo: Ja, das schon. Das glaube ich schon, aber das liegt dann wiederum auch daran, was du ihnen gibst. Also ich gebe den Patientinnen und Patienten dann manchmal so, ja, das sind ja nur kurze Kontakte. Also es ist ja nicht so, dass ich diese Menschen häufig sehe in der Notaufnahme. Aber wenn ich, ich gebe denen dann vielleicht auch einen Tipp, ich sage denen dann halt vielleicht, wie sie ihren Alltag aus meiner Sicht zumindest verbessern können oder was es für, wenn jetzt jemand sich irgendwie ein Bein gebrochen hat, so wie du in der letzten Folge und in dem Fall jetzt aber sonst eigentlich keine Behinderung hat und dann hat er plötzlich Unterarmgehstütze und verlässt meine Notaufnahme, dann gebe ich den Menschen vielleicht zum Beispiel noch mit auf den Weg, ja, schauen Sie doch mal irgendwie auf brokenlifts.org, welche Fahrstühle gerade in Berlin funktionieren und welche halt nicht, wenn sie jetzt auf die Fahrstühle angewiesen sind, weil sie es vorher nicht wussten, deswegen kennen sie vielleicht diese App nicht. Also sowas gebe ich denen dann schon mal mit auf den Weg, aber ja, so Kleinigkeiten würde ich sagen.
Raúl: Hannah, bei dir hätte ich die Frage, wenn man mit Patientinnen in Kontakt ist und denen vielleicht eine negative Botschaft überbringt, dann denken wir ja immer, und das hat Leo auch in der letzten Folge erzählt, dass die dann vielleicht wieder so den Welt zusammenbricht, ne? Ist das so eine Erfahrung, wie lange sowas dauert, bis jemand die neue Situation akzeptiert und dann vielleicht genauso viel Lebensfreude empfinden kann wie vor der Erkrankung oder dem Unfall? Und was braucht es dafür?
Hannah: Du meinst jetzt, wie das bei mir war? Oder ich glaube, ich habe deine Frage nicht ganz verstanden.
Raúl: Ja, oder was sagt die Lehre zu dem Thema? Also eine Behinderung zu haben ist ja nicht automatisch ein Schicksalsschlag bis zum Lebensende, beziehungsweise was Negatives, sondern man kann ja auch damit umgehen lernen, sich anpassen, annehmen, akzeptieren und dann neue Lebenswege einschlagen. Und ich habe mal gehört, das dauert drei bis fünf Jahre.
Hannah: So genau weiß ich das tatsächlich nicht. Da ist so ein Wissensvorsprung von mir. Ich glaube einfach, dass das Wahnsinn nicht individuell ist. Also ja, so im Studium wird das tatsächlich gar nicht behandelt, also zumindest bei mir bisher noch nicht. Außer halt so, ja, vielleicht mal so in Gesprächen mit Patienten, wo man dann sieht, dass es halt schon sehr unterschiedlich ist und sehr davon abhängt, aus welcher Situation die Patienten jetzt kommen und ja, wie allgemein so die Umstände für sie sind. Ich habe eben, als Leo so lange gesprochen hat, ganz viel genickt und auch noch gedacht, also dass ich glaube, dass das, was irgendwie ich letztes Mal gesagt hatte, mit dass viele Menschen vielleicht rein interpretieren, dass Ärzt*innen mit Behinderung irgendwie die krassen Superärzte wären, dass da vielleicht auch so Kompetenzen rein interpretiert werden im Sinne von schweren Nachrichten überbringen, also so von wegen die oder der ist jetzt bestimmt besonders reflektiert und kann damit besonders gut umgehen und so. Ich glaube schon, dass sowas auch von Patient*innenseite gedacht wird, so. Wobei es wahrscheinlich bei vielen von uns auch zutrifft. Also ich meine, deshalb sitzen Leo und ich ja jetzt auch hier, weil wir sehr viel darüber nachdenken und wahrscheinlich auch reflektierter sind als vielleicht andere Ärzte und Ärzt*innen. Aber es gibt ja auch genauso nichtbehinderte Ärzt*innen, die da sehr reflektiert mit umgehen können. Deshalb ist das wahrscheinlich auch nicht immer eine richtige Annahme.
Jonas: Würdest du dich als besonders empathisch bezeichnen?
Hannah: Ob ich mich als empathisch bezeichnen würde? Ich glaube empathischer als ich war, bevor ich so mehr Aktivismus gemacht habe. Also auf jeden Fall empathischer als ich als Jugendliche war. Obwohl ich glaube ich als Jugendliche gesagt hätte, ich bin wahnsinnig empathisch. Genau. Also ich glaube es ist mehr geworden.
Leo: Also ich bin zum Beispiel auch manchmal ein Arschloch. Also das ist ja zum Beispiel der Nacht von Sonntag auf Montag hatte ich zwölf und halb Stunden Dienst und dann war es morgens um vier und ich war seit zehn Stunden im Dienst oder so. Ich war völlig müde und fertig und dann kam da wirklich ernsthaft morgens um vier einer in die Notaufnahme und meinte ich habe Schnupfen. Dann habe ich gesagt, was machen Sie denn? Gehen Sie raus.
Hannah: Das ist aber kein Arschloch, was du bist, sondern ja.
Leo: Naja gut, aber ich möchte eine Sache noch mal sagen, Hanna, weil du meinst, weil auf deine Frage, Raúl, hat Hannah ja gesagt, sie hat das im Studium bisher kaum behandelt. Da unterscheiden sich glaube ich auch die Studiengänge massiv. Wir hatten an der Charité, ich will da jetzt nicht die Charité so krass loben, weil ich da auch arbeite, aber wir hatten an der Charité, also ich habe im Modellstudiengang studiert und wir hatten das ganze Studium über ein Fach, das hieß KIT abgekürzt, das war Kommunikation, Interaktion, Teamfähigkeit und da haben wir genau sowas gemacht. Da haben wir Überbringen schlechter Nachrichten geübt, da haben wir Kommunikation im Team geübt und genau sowas. Da gibt es schon Universitäten, die sind da auch schon weiter und manche sind da eben auch noch nicht so weit und ich glaube, um das jetzt mal wirklich so ein bisschen perspektivisch darzustellen, ich glaube, das wird ja auch eine der Kernkompetenzen der zukünftigen Generation von Ärztinnen und Ärzten sein, diese Empathie-Ebene darstellen zu können, denn das ganze Wissen, das kann Chat-GPT oder andere KI. Also das heißt, was ich nur damit sagen will, die beste quasi die Laborwerte zu interpretieren und daraus sozusagen einen Krankheitsverlauf zu erzeugen und die beste Therapieoption sich daraus herzuleiten, das wird eine KI in ganz kurzer Zeit, das ist jetzt schon so, aber das wird in ganz, ganz kurzen, in wenigen Jahren, das werden wir alle noch total erleben, wird das alles automatisiert sein. Das heißt, dann wird die Kernkompetenz von Ärztinnen und Ärzten sein, vor allem auch diese Empathie-Ebene. Also da bin ich felsenfest von überzeugt.
Karina: Das finde ich voll spannend, weil ich habe immer das Gefühl, gerade so die ältere Generation Ärzte ist viel mehr so, wir müssen eigentlich nur medizinisch kompetent sein, also hauptsächlich, wir haben das Fachwissen, das müssen wir können, alles andere macht schon irgendwer anders, also so was auch immer, Kommunikation mit Patienten ist ja wurscht.
Und jetzt die Generation Ärztinnen, die jetzt so mein Alter sind und jünger darunter, die sind schon eher so, wie das ist sehr, sehr wichtig, Patienten mit einzubeziehen, auf Augenhöhe zu arbeiten und so. Was mich total interessieren würde bei euch beiden, wie viel habt ihr denn im Studium zu so Themen wie Gender Bias und Gaslighting gelernt? Ich habe da mal an der, nein, ich sage jetzt nicht an welcher Uni, ich habe da mal einen Vortrag zu gehalten und habe nur in schockierte Gesichter geguckt und so ziemlich alle älteren Leute waren extrem pissed, dass ich überhaupt davon gesprochen habe, dass das ein Riesenproblem in Medizin ist. Vor allem halt für Frauen und so, die meinten alle, die haben das zum ersten Mal gehört.
Hannah: Ja, also vielleicht kann ich mal ganz kurz ausholen zu dem, was ich letzte Folge erzählt habe, dass das Medizinstudium traditionellerweise immer in diese zwei Blöcke, sage ich mal, getrennt war, dass das Regelstudium und wie Leo gerade ja völlig richtig gesagt hat, hat zum Beispiel Berlin einen Modellstudiengang, die Charité, Hamburg zum Beispiel macht auch ein bisschen einen anderen Studiengang, München hat auch einen Modellstudiengang, also dementsprechend gibt es dann ganz viele Orte inzwischen, halt ja Studiengänge, die Themen mehr in den Vordergrund stellen und das finde ich auch total wichtig und ich glaube, wir müssen jetzt nicht das Thema aufmachen, dass das Medizinstudium an sich auch was ist, was dringend reformiert gehört, aber ich finde, dass auch das Uniklinikum Essen da schon sehr viel Gutes in die Richtung gemacht hat und wir haben zwar noch, wie gesagt, dieses zweigeteilte Studium von früher, sage ich jetzt mal, haben aber schon ganz viele Kommunikationsmodule, wie ich ja eben gesagt habe, auch schon in den ersten Semestern gehabt, die ich auch richtig gut und ganz wichtig fand, weil das ja, wie Leo gesagt hat, halt das ist, was uns Ärztinnen halt besonders beschäftigen wird in den nächsten Jahrzehnten und ja, also zu Gender Studies und Medical Gaslighting haben wir bisher nichts besprochen im Studium an sich. Ich habe noch zwei Semester, also vielleicht kommt noch was, außerdem habe ich über unsere Studiengruppe gerade aktuell versuche ich da einen Vortrag über Medical Gaslighting anzuregen. Da habe ich auch schon eine Speakerin gefunden, Raúl, die uns beiden bekannt ist, die das gerne übernehmen würde, aber genau, die Hochschulgruppe muss dann auch mit der Verwaltung organisieren, aber das sind halt, wie gesagt, eher extraculaere, also außerhalb des normalen Studiumsangebote, die da im Moment gefahren werden. Ich hoffe und glaube aber fest, dass die Uni Essen das in der Zukunft auch hinkriegt, in den nächsten Jahren.
Karina: Das finde ich so krass eigentlich, weil du hast ja vorhin schon erzählt, dass du auch deine eigenen Erfahrungen hast, selbst im Studium, mit Behinderungen, weil unsichtbar wird dir nicht geglaubt und so als Frau. Wahrscheinlich, also ich glaube 90 Prozent von allen Frauen, mit denen ich jemals gesprochen habe, die auch chronisch krank sind und/oder behindert, haben Erfahrungen mit Gaslighting und trotzdem, das sagst du ja jetzt auch, das ist eigentlich nicht wirklich so ein Thema im Studium und ich habe auch nicht das Gefühl, dass viele Mediziner*innen wissen oder überhaupt was mit dem Begriff anfangen können.
Jonas: Ja, was ist das überhaupt?
Karina: Ja, das ist ein Good Point, vielleicht sollte ich das erklären. Also ursprünglich, also Gaslighting allgemein ist eine Art von eigentlich emotionaler Misshandlung, also da werden Betroffene quasi so manipuliert, bis sie ihre eigene Wahrnehmung komplett in Frage stellen und ihre komplette Realität. Das ist dann so ein bisschen übertragen worden zu Medical Gaslighting, also das ist, Medical Gaslighting ist oft im Kontext von Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen und eben auch Gender, also es betrifft oft Frauen mit komplexen medizinischen Problemen, oft auch unsichtbaren Erkrankungen, also solche Sachen wie Long-Covid, ME/CFS, auch EDS. Tatsächlich war Gaslighting sogar das Wort des Jahres 2022 bei Merriam-Webster, irgendwie glaube ich dank Covid und Long-Covid ist das so viel gegoogelt worden. Genau, und ein großer Grund für Gaslighting ist halt oft einfach das Geschlecht, also gerade noch in diesem Verhältnis von Frauen bei älteren weißen Ärzten. Also dass ihnen nicht geglaubt wird. Ja, also du gehst da halt hin, schilderst deine Symptome und ganz oft heißt es dann, das bildest du dir alles nur ein, das ist alles nur in deinem Kopf, du siehst überhaupt nicht krank aus und solche Sachen. Und scheinbar ist das im Medizinstudium nicht so ein Thema. Leo, kennst du das? Ist dir das ein Begriff?
Leo: Ja, mir ist das schon ein Begriff. Also es war kein großes Thema, es war ein bisschen ein Thema im Medizinstudium, aber vielleicht, es tut mir leid, wenn ich so lobe, aber vielleicht ist da auch die Charité ein bisschen progressiv. Es gibt richtig ein Institut of Gender Medicine an der Charité von Professor Stadler. Also das ist jetzt nicht so, dass es gar kein Thema ist. Meine Mitbewohnerin, meine eine zum Beispiel, die hat promoviert auch zu bestimmten Herzmedikamenten bei Männern und dann eben auch bei Frauen. Da gibt es eben große Unterschiede, auch in der Wirkweise von Medikamenten. Und wie du es schon angesprochen hast, Karina, Gaslighting ist ein Riesenthema eigentlich, aber dafür hat es natürlich zu wenig Platz bisher im Medizinstudium. Das muss man ganz klar sagen. Wobei ich an dieser Stelle noch mal eine Sache sagen möchte, weil ich glaube, es ist wichtig, versteht mich da bitte jetzt nicht falsch, was ich sage, aber ich glaube, man darf auch nicht unterschätzen, wie viel, also die Erwartungshaltung an Ärztinnen und Ärzte ist auch teilweise sehr groß. Das heißt nicht, dass man jemanden Gaslighten soll. Versteht mich da wie gesagt nicht falsch. Aber man muss sich halt schon überlegen, der menschliche Körper insgesamt ist sehr, sehr schwierig, sehr, sehr komplex. Es ist ein Riesenfeld und in sechs Jahren muss man das lernen. Und das ist eigentlich ein Fass ohne Boden und nicht machbar. Das heißt, man muss sich halt auch ganz genau überlegen, was bringt man jungen Menschen in diesen sechs Jahren bei. Und ich würde sofort unterschreiben, dass man ihnen auch Themen wie Gaslighting und auch natürlich Gender Studies beibringen soll und muss. Am Ende muss man ihnen aber auch beibringen, wie ein Muskel funktioniert und wie chemisch Sauerstoff ins Blut gelangt über die Lunge. Und ich glaube, da muss man immer auch nochmal einen Schritt zurücktreten und sich einmal überlegen, was ist leistbar. Und natürlich muss es leistbar sein, dass Ärztinnen und Ärzte empathisch sind und natürlich muss es leistbar sein, dass sie sich eben auch mit Behinderungen auskennen und niemanden Gaslighten. Aber trotzdem möchte ich da einmal kurz diese ganze Zunft der Ärztinnen und Ärzte so ein ganz bisschen nicht in Schutz nehmen, aber so ein bisschen einfach nochmal da eine Awareness für schaffen, dass es einfach auch schwierig ist.
Karina: Ja, wobei du das ja auch per se nicht unbedingt nur im Studium lernen musst. Das kann ja auch danach passieren. Also das kann ja auch Fortbildungen geben oder einfach generell irgendwelche Awareness-Programme an der Uni an der du arbeitest und so.
Leo: Voll, voll, voll.
Karina: Erwartungen. Also da möchte ich hier mal die Patient*innen-Seite ein bisschen vertreten. Ich würde mal ganz arg behaupten, dass Leute mit so komplexen Erkrankungen wie meiner irgendwann fast gar keine Erwartungen mehr haben, außer dass sie zum Arzt gehen und der ihnen glaubt und sie zumindest ernst nimmt. Also was ich von ganz vielen höre, ist, dass die teilweise vor dem Arzt in Tränen ausbrechen, wenn endlich einmal einer sagt, ich glaube dir, dass du diese Symptome tatsächlich hast und dir nicht nur einbildest.
Leo: Das verstehe ich total, Karina, aber ich glaube am Ende, ich bin zum Beispiel ein Riesenbefürworter von Krankenhausreform. Also das ist jetzt sehr politisch, wenn ich das sage. Aber denn, ich muss ehrlich sagen, ich habe keine Ahnung von EDS als Beispiel. Und das heißt trotzdem, dass ich natürlich aufgeschlossen in der Notaufnahme an einen Menschen herangehen muss und empathisch sein muss, der kommt mit dieser Erkrankung und mit Beschwerden in die Richtung zum Beispiel. Das ist mir völlig bewusst. Aber weil der menschliche Körper und die Medizin so komplex ist, muss es halt zentralisiert werden. Es muss. Mir ist schon klar, dass es dann dazu führt, dass Menschen mit seltenen Erkrankungen müssen dann vielleicht auch wirklich weit fahren. Aber ehrlicherweise ist das sinnvoll, weil dann treffen sie zumindest mutmaßlich auf Ärztinnen und Ärzte, die sich eben mit dieser seltenen Erkrankung hoffentlich etwas besser auskennen als die Wald- und Wiesenmediziner*innen. Und dann führt es hoffentlich nicht zu solchen Situationen, dass häufig Leute keine Ahnung von dem Krankheitsbild haben.
Karina: Also weit fahren ist das eine. Mittlerweile hast du aber deutschlandweit fast keine Expert*innen mehr, die Kassenpatient*innen nehmen, weil sich das für die einfach nicht lohnt, so komplexe Patienten zu behandeln. Und dann hast du das Problem, viele können nicht weit fahren, weil viele davon sind teilweise bettlägerig. Und die meisten kriegen entweder Erwerbsminderungsrente oder sind generell einfach so arm, dass die mit Sicherheit keine Privatleistung zahlen können. Also, weißt du, ich verstehe den Punkt schon, aber das ist schlichtweg unmöglich für ganz viele Leute überhaupt, eine Distanz von, was weiß ich, über 100 Kilometer auf sich zu nehmen, wenn überhaupt. Ich meine, viele kommen kaum zu ihrem Hausarzt.
Hannah: Ich sitze gerade bei euch beiden so ein bisschen zwischen den Stühlen, weil ich irgendwie bei beiden immer die ganze Zeit am Nicken bin. Und irgendwie sehe ich beide Seiten. Ich bleibe dabei, dass ich finde, dass wir nicht nur die Krankenhäuser, sondern auch das Medizinstudium wirklich dringend bundesweit reformieren müssen. Und ich sehe, Leo, auch wirklich ehrlich ganz viele Inhalte, die ich gelernt habe in meinen Semestern bisher, wo ich nicht denke, dass die im Ansatz jetzt relevant sind für mein Leben, so wie es vernünftige Kommunikation und auch gendergerechte und sensible Kommunikation mit Patient*innen wäre. Und ich glaube, dass man da ganz viel umschichten könnte, auch wenn ich wirklich bei dir bin, dass es natürlich trotzdem ein begrenztes Studium ist, glaube ich. Wir würden das zusammen hinkriegen, wenn wir das versuchen würden, glaube ich.
Raúl: Ich hätte da wirklich eine Frage, weil ich da keine Ahnung von habe. Meine Mutter ist Ärztin und die hatte immer so eine Ärztezeitschrift im Abo. Und die hat die dann einmal im Monat gelesen. Gibt es so etwas wie verpflichtende Fortbildung für Ärzte?
Leo: Ja, gibt es. Wenn du eine Kassenzulassung hast, also wenn du bei der Kassenärztlichen Vereinigung bist und eine Kassenzulassung hast in Deutschland, dann musst du halt jedes Jahr so und so viele Fortbildungspunkte einreichen, sonst verlierst du deine Kassenzulassung. Und diese Fortbildungspunkte generierst du über Kreuzworträtsel oder, salopp gesagt, über Kreuzworträtsel im Ärzteblatt oder über irgendwelche Wochenendfortbildungen, wo du hingefahren bist. Dafür kriegst du dann halt irgendwie, keine Ahnung, fünfmal so viele Punkte wie für das Kreuzworträtsel oder weiß ich nicht. Ja, so. Ja, das ist so. Und da muss man natürlich, klar, logisch, also was wäre jetzt ja die Folgefrage, also die Folgekonsequenz, da müsste man dann halt natürlich so etwas mit reinbringen, klar.
Karina: Ich mache ein Kreuzworträtsel zu den Ehlers-Danlos-Syndromen.
Leo: Nein, das war jetzt nicht so.
Karina: Hey, da erreiche ich wahrscheinlich tatsächlich mehr Ärzte mit, als mit irgendwelchen Vorträgen.
Raúl: Gute Idee. Total gute Idee.
Jonas: Wurde dir schon mal nicht geglaubt?
Raúl: Ehrlich gesagt, also eine gute Freundin von mir, du simulierst doch, eine gute Freundin von mir, die hat Medizin studiert, und die hat erzählt, dass sie in ihrem Studium eine Stunde das Thema Glasknochen hatte. Und ich habe das jetzt generalisiert und gehe jetzt davon aus, dass das irgendwie so, ja, so wie Osteoporose vielleicht mal behandelt wird. Das heißt, der oder die Ärztin hat davon irgendwie schon einmal gehört. Das schützt nicht davor, dass man trotzdem awkward behandelt wird. Ich glaube, ich habe in irgendeiner Podcast-Folge hier auch mal erzählt, dass ich war mal beim Orthopäden, der war schon höheren Semesters, und der war so fasziniert von meinen krummen Knochen und meinem krummen Körper, dass der die Arme und Beine doppelt und dreifach geröntgt hat. Und dann das komplette Medizinpersonal, das er hatte, in diesen Raum, in dem wir saßen, rein bat, um sich dieses merkwürdige Exemplar von Mensch einmal gemeinsam live anzuschauen. Und der Kollegin, die bestimmt 20 Jahre jünger war, die auch Ärztin ist, der war das so unangenehm, dass sie dann irgendwann zu mir sagte, das nächste Mal kommen Sie bitte zu mir. Und das hat mich mit der Situation wieder versöhnt. Aber der Mann, der war einfach so, der hatte so eine wissenschaftliche Neugier.
Leo: Aber wäre es okay gewesen, Raúl, wäre es für dich okay gewesen, wenn er dich das vorher gefragt hätte?
Raúl: Ja, hat er aber nicht. Er hat nur mit meinem Assistenten gesprochen und nicht mit mir. Das war alles sehr awkward. Das geht natürlich nicht.
Leo: Ich habe relativ viel Studierendenunterricht, also was heißt relativ viel gelegentlich, und ich gehe natürlich auch mit den Studentinnen und Studenten zu, ich nenne es jetzt besonderen Patienten, aber die frage ich natürlich vorher. Aber am Ende des Tages ist Medizin halt auch ein Lernen. Also ich will ihn damit jetzt, versteht mich wieder nicht falsch, ich will ihn damit jetzt nicht verteidigen. Der richtige Weg wäre natürlich gewesen, sich vorher zu fragen, wenn du gesagt hättest, nein, er hätte es halt nicht machen dürfen.
Raúl: Aber das war halt immer Praxis, da war kein Studierende, keine Studentinnen. Das waren aber fertige Ärztinnen.
Leo: Ja gut, das geht natürlich nicht.
Jonas: Wenn ihr jetzt einen Wunsch hättet, also wir haben ja schon ein bisschen was gehört, Reform, Medizinstudium und so weiter. Wenn ihr einen Wunsch hättet, was müsste sich ändern im Sinne von Zugang, barrierefreien Zugänge zu medizinischer Versorgung oder generell bessere medizinische Versorgung für Menschen mit Behinderung? Was würdet ihr sagen, was wäre euer Wunsch?
Hannah: Also ich finde das eine wahnsinnig große Frage. Ich gucke mit großen Augen. Ich glaube, ich würde tatsächlich im Medizinstudium anfangen, weil ich irgendwie finde, es bildet ja unsere Ärzte aus und also irgendwie fühlt es sich sinnvoll an, da anzusetzen, weil man dann zumindest langfristig gesehen irgendwie das meiste erreichen kann. Da wäre ich der Meinung, dass die Ansätze meiner Uni mit Kommunikation in den Vordergrund und dass wir alle Semester von Anfang an total richtig sind und total wichtig sind. Ich bin aber auch der Meinung, dass es wichtig ist, dass wir mehr Austausch haben zwischen einzelnen Fachbereichen und vielleicht überall mal reinschnuppern können, gerade in so vermeintlich kleinere Fachbereiche, die es ja durchaus an der Charité auch in größer gibt, die natürlich in Essen jetzt sehr klein sind, aber trotzdem es wert sind, überhaupt mal angesprochen zu werden. Dann glaube ich, könnten wir ganz viele Themen mit reinbringen, die wir halt jetzt einfach nicht haben, zumindest nicht in meinem Studium. Da würde ich glaube ich ansetzen, weil ich denke, dass wir eine sehr viel barrierefreiere Gesundheitswelt hinkriegen, wenn wir Ärztinnen haben, die kommunizieren können mit ihren Patienten und das ist leider meiner eigenen Erfahrung nach nicht die Normalität, die wir aktuell haben.
Jonas: Was ist dein Wunsch? Oder ist alles gut, so wie es ist?
Leo: Nein, es ist nicht alles gut, so wie es ist. Ich glaube, ich würde es trennen zwischen einmal den physischen Barrieren der Gesundheitsversorgung, also sei es, dass viele Praxen nicht barrierefrei sind. Ich glaube, Ella muss zum Beispiel nicht das Krankenhaus erobern, aber ich glaube, Ella muss die Praxis erobern. Und ich glaube einmal die physischen Barrieren, also dass einfach alle Gesundheitseinrichtungen in Deutschland von Praxis bis hin zu Krankenhaus barrierefrei oder barrierearm bis barrierefrei sind. Ich glaube, das würde ich mir wünschen auf jeden Fall. Und dann aber auf der anderen Seite schon natürlich auch, und das ist halt einfach natürlich die Basis, ist dafür eine inklusive offene Gesellschaft, dass halt einfach natürlich auch, dass es medizinisches Personal, egal ob pflegerisch oder ärztlich, mit Behinderungen gibt und natürlich im Umkehrschluss aber auch medizinisches Personal mit Menschen mit Behinderungen vernünftig, professionell und empathisch umgeht. Am Ende wirst du immer irgendwelche Arschlöcher oder Arschlöcherinnen haben, sozusagen. Das wird so sein, aber das ist sozusagen erstmal, das würde ich mir schon erstmal wünschen. Und ich würde, da mache ich nochmal einen Punkt, ich verstehe Carina da total und ich habe auch keine gute Lösung dafür. Ich glaube aber schon trotzdem, dass es zentralisiert werden muss für seltene Erkrankungen. Davon bin ich felsenfest überzeugt, weil es ist, glaube ich, ein absoluter Irrglaube zu denken, dass man es schafft, medizinisches Personal für alle Krankheitsbilder auszubilden. Das wird nicht gehen, das wird niemals gehen. Also mit KI wird das besser gehen. Das habe ich vorhin schon mal angerissen. Aber ich glaube trotzdem muss man es zentralisieren. Davon bin ich ziemlich überzeugt.
Hannah: Ich will das ganz kurz nutzen, um einmal noch eine kleine Werbung zu machen, weil Leo gerade zentralisiert für seltene Erkrankungen gesagt hat. Ich arbeite am Zentrum für seltene Erkrankungen in Essen und es gibt inzwischen mehrere von uns. Wir werden immer gerne angefragt, als A-Zentrum sind wir dafür zuständig, Leuten, die keine Diagnose bekommen haben, nochmal nachzuforschen, ob wir da noch Ideen haben, in welche Richtung es gehen könnte. Und dass das einfach zentral so viel wert ist, Menschen und Unterlagen an einem Ort zu sammeln. Da bin ich auf jeden Fall voll dabei.
Raúl: Ich tue mich schwer mit Zentralisierung, weil Zentralisierung, wenn wir das weiterdenken, ja dann auch bedeuten kann, Zentralisierung von Schulen, also Kinder mit Behinderung müssen an Sonderschulen, weil das Lehrpersonal auch nicht alle Behinderungsformen gelernt hat und so.
Leo: Ja, hast du recht. Ich weiß, was du meinst und das unbehagt mir auch, aber ich frage mich, wie man es anders machen will, von der Fachlichkeit.
Raúl: Also wie Hannah sagt, es gibt ja bei der Inklusion, gibt es ja schon auch die Ideen, Schule ohne Schüler, also dass man dann pflegende LehrerInnen hat, die dann quasi an die Schule gehen, wo ein Schüler ist, der oder die blind ist oder so.
Leo: Ja gut, mit Telemedizin, klar, das geht schon.
Raúl: Ja, oder auch mit dem Auto.
Hannah: Also das, wo ich die Zentralisierung gerade voll gesehen habe und auch voll unterstütze, ist dieser Bereich, der Diagnosen sucht oder versucht, Leute zu interpretieren. Und da das ein rein, oder in meiner Erfahrung ein fast rein digital ablaufender Prozess ist, finde ich es wahnsinnig wichtig, das auf Zentren zu zentralisieren in Deutschland. Unabhängig davon hat Zentralisation im Allgemeinen natürlich ein paar Problemstellen, die ja gerade auch Raúl und Leo nochmal angesprochen haben.
Raúl: Ich denke, die ganze Zeit vielleicht aus der Perspektive von PatientInnen, die wir auch alle mal waren, 90 Prozent der Zeit verbringen wir sowieso mit Warten. Also mindestens. Und dieser eine Arzt, wichtiger Arztgespräch oder so, ich weiß nicht, ich tue mich schwer.
Karina: Ich glaube, du kannst auch einen Kompromiss haben, das kann zentralisiert sein für Diagnosen, das ist fein, aber was Patienten brauchen, die eine Diagnose haben, ist jemanden vor Ort, ohne weite Wege zurückzulegen, irgendjemand, der das quasi everyday life managt. Und das kann auch zum Beispiel eine Hausarztin oder eine Hausärztin sein, die dann von Experten via Telekommunikation oder sonst was den Rat kriegt und dann ist das relativ einfach. Aber was ich nicht brauche, ist, dass ich noch mehr Zeit damit verschwende, quer durch Deutschland zu fahren, dann drei Stunden im Wartezimmer sitze für fünf Minuten Termin und am Ende vom Tag ein Rezept in der Hand habe, das mir jeder andere auch ausstellen hätte können.
Hannah: Ja, ich glaube, das einzelne Behandeln von dem Menschen ist dann leider wieder wahnsinnig individuell, je nachdem, wo es da genau drum geht. Und da gibt es wahrscheinlich auch wieder keine einfachen Lösungen. Und das Ganze ist leider sehr individuell und sehr viel komplizierter, als wir uns das wünschen würden.
Karina: Aber weißt du, was ich mir wirklich wünsche, ist, dass wir mal aufhören, in Deutschland diese krassen Hierarchien zwischen irgendwie Ärztinnen und Patientinnen zu haben und mal ein bisschen wie in anderen Ländern das viel, viel mehr auf Augenhöhe machen, sodass ich irgendwie wirklich mal zu einem Arzt gehen kann und von vornherein klar ist, was auch immer ich dem an Symptomen erzähle, die werden ernst genommen und dass ich quasi die Expertin für meinen Körper bin. Und wenn das mal gegeben ist, dann glaube ich, ergeben sich ganz, ganz viele andere Dinge auch von alleine, weil dieser Grundrespekt für mich ganz oft einfach fehlt.
Jonas: Das war ja das, was wir quasi auch in der ersten Folge hatten. Das Thema so ein bisschen auf Augenhöhe und gemeinsam nach einer Lösung suchen, eben gemeinsam schauen, okay, was möchten Patientinnen, was können Ärztinnen anbieten, die dann eben auch nicht sagen, okay, ich habe hier natürlich das Fachwissen mit Löffeln gefressen, aber eben auch nicht die Weisheit von allen Themengebieten und eben gemeinsam und kooperativ irgendwie nach einer Lösung zu finden. Also ich merke schon, das ist ein Thema, was sehr, sehr komplex ist und was auch, glaube ich, dadurch, dass es eben auch um Gesundheit, um Krankheit, um Behinderung und so weiter geht, sehr etwas ist, was auch emotional geführt wird und was allen Menschen in dem Sinne ein Anliegen ist und was sich, glaube ich, auch entwickelt. Ich glaube, wir haben natürlich, so wie ihr auch gesagt habt, einen Bedarf an guten, jungen und auch guten, ausgebildeten Ärztinnen und eben auch die, die vielfältige Perspektiven haben, eben auch selber betroffen sind, selber eine Behinderung haben, eben Erfahrungen in diesem Gebiet haben und es ist, glaube ich, etwas, was sich ändern muss und auch ändern wird als System. Und ja, ich glaube, man, natürlich ist es schwer, manchmal gespannt drauf zuzugucken, wie sich das entwickelt, aber ich glaube, das müssen wir alle bzw. es ist sehr schön, dass ihr vielleicht ihr beide in diesem Beruf arbeitet und vielleicht einen kleinen Stellschrauben, etwas ändert. Das System von innen revolutionieren.
Hannah: Genau, das ist das Ziel.
Jonas: Genau. Gut, vielen Dank, dass ihr da wart und uns einen Eigenblick weiterhin gegeben habt in eure Arbeit. Leo, du hast eben so ganz nebenbei gesagt, dass das ElA nicht das All erobern muss, also auch, aber vielleicht auch eher die kleine Praxis, eine kleine Reminiszenz an Raúl, dein Buch “Als Ela das All eroberte”. Und Buch ist ein gutes Stichwort. Wir sind, wenn ihr den Podcast rechtzeitig hört und noch Zeit habt und in der Nähe von Leipzig seid, wir sind am 29. März auf der Leipziger Buchmesse um 15.15 Uhr und sprechen dort live in dem Podcast um Literatur und Behinderung.
Und wenn ihr sagt, ist mir zu knapp oder der Termin ist schon vorbei, keine Sorge, diesen Podcast werden wir aufzeichnen und den könnt ihr dann Ende April wie gewohnt hören in der ARD Audiothek. Vielen Dank, dass ihr da wart und wir hoffen, dass ihr auch beim nächsten Mal wieder mit dabei seid. Bis dahin. Tschüss!
Alle: Tschüss!