Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 48: „Kinderbücher“
Jonas Karpa:
Also eines meiner Lieblingskinderbücher damals war „Ein Fall für dich und das Tiger-Team“. Das war so ein bisschen wie „Drei Fragezeichen“ light, also eine Art Krimi, Detektivgeschichte, wo man dann selber irgendwie mitraten konnte. Es waren auch ein paar Sachen dabei, wo man dann gemeinsam den Fall lösen musste, es gab so eine Schablone, wo man dann gucken konnte, ob man die Frage, die einem in dem Buch gestellt wurde, richtig beantworten konnte. Man war wirklich Teil dieses kleinen Mini-Krimis.
Karina Sturm:
Also mein Lieblingsbuch war „Die unendliche Geschichte“. Aber hauptsächlich, weil ich auch schon mehrfach auf dem Drachen geritten bin.
Raúl Krauthausen:
Was? Wo?
Karina Sturm:
Ein echter Drache, ein echter fliegender Drache, in den Bavaria-Filmstudios.
Raúl Krauthausen:
Mein Lieblingsbuch hatte ich gar nicht, weil ich als Kind lesefaul war. Das war tatsächlich ein Thema bei meinen Eltern, weil sie sich Sorgen gemacht haben, ob ich überhaupt lesen kann. Wir stellten dann irgendwann fest, dass der Grund war, dass mir Bücher einfach zu schwer waren.
Jonas:
Schwere Kost.
Raúl:
Also physikalisch zu schwer. Und ich hatte dann große Probleme, die Seiten umzublättern mit meinen kleinen kurzen Armen, weil ich es einfach zu anstrengend fand. Und damals gab es noch keine E-Books.
Jonas:
Und heutzutage bist du eine komplette Leseratte geworden.
Raúl:
Nee, ehrlich gesagt, auch nicht geworden. Aber es fällt mir leichter, ein Buch zu lesen. Und es ist eher eine Frage der Konzentration.
Jonas:
Und jetzt bist du ja quasi eher Autor geworden statt Leseratte.
Raúl:
Ja, noch habe ich mehr Bücher gelesen als geschrieben, aber es dauert nicht mehr lange.
Jonas:
Herzlich willkommen zu „Der neuen Norm“, dem Podcast. Wie wird eigentlich das Thema Behinderung in Kinderliteratur dargestellt? Was sind so gängige Klischees, die man vielleicht immer wieder liest, wenn man Kinder und Jugendbücher aufschlägt? Und wie möchten wir, dass Behinderung dargestellt wird? Vielleicht haben wir sogar ein paar Best-Practice-Beispiele dabei, wo wir sagen: „So oder so ähnlich sollte das Thema Behinderung in Kinderbüchern dargestellt werden“. Bei mir sind Karina Sturm und Raúl Krauthausen.
Karina und Raúl:
Hallo! Hi!
Jonas:
Mein Name ist Jonas Karpa. Raúl, du hast eben schon am Anfang gesagt, dass du vielleicht irgendwann mal mehr Bücher geschrieben haben wirst als gelesen. Du bist kräftig daran am Arbeiten, würde ich mal sagen, weil du hast jetzt auch mit einer Kollegin von uns ein Kinderbuch verfasst, zu dem wir später noch einmal kommen werden und gucken, ob das vielleicht das perfekte Best-Practice-Beispiel ist, was so Kinder und Jugendliteratur angeht. Aber man muss trotzdem sagen, dass das Thema Behinderung in Kinderbüchern oftmals sehr klischeehaft dargestellt wird. Was sind für euch irgendwie so gängige Sachen, die immer wieder vorkommen, wenn ihr Bücher aufschlagt?
Karina:
Also immer ganz typisch ist halt diese Heldenperspektive, also die behinderte Person als Inspiration. Und auf der anderen Seite halt auch die Opferrolle. Und dann gibt es wohl auch noch ganz oft die wundersame Heilung von der behinderten Person. Das fand ich auch ganz spannend. Oder einfach die behinderte Person als Nebenrolle, um die sich irgendjemand kümmern muss.
Jonas:
Aber wundersame Heilung, also quasi eine Feelgood-Geschichte. Wenn man dann sagt, okay, das ist dann … erst leidet die Personen an ihrer Behinderung, und sie macht vielleicht Sachen, obwohl sie eine Behinderung hat und dann am Ende das große Happy End in dem Sinne.
Karina:
Genau.
Raúl:
Also ein ganz klassisches Beispiel wäre Heidi und Klara, wo Heidi die ganze Zeit um Klara herumwirbelt. Klara sitzt im Rollstuhl. Wir erfahren relativ wenig über die Interessen, Leidenschaften und Ziele von Klara. Und am Ende kann Klara laufen. Man weiß nicht, warum. Man weiß nie, was genau los war, aber im Prinzip gab es Klara nur, damit Heidi ein Thema hat, an dem sie sich abarbeiten kann. Und wir erfahren über Klara nichts.
Jonas:
Also so ein bisschen der Wunsch, sich um etwas zu kümmern. Und vielleicht egal, ob man sich jetzt um Pferde kümmert oder um ein anderes Lieblingshaustier oder eben um die behinderte Freundin.
Raúl:
Genau. Und warum muss Klara am Ende wieder nicht im Rollstuhl sitzen?
Karina:
Das stimmt, da ist das Framing auch so ein bisschen als Last fürs Umfeld und dann eben in der Konsequenz als die wundersame Heilung. Ich bin jetzt ein bisschen geschockt. Ich mochte Heidi früher mal total gerne, aber ich habe mir tatsächlich noch nie Gedanken über den Aspekt gemacht. Jetzt fühle ich mich ein bisschen schlecht.
Raúl:
Tut mir leid. In den Disability Studies spricht man hier von der sogenannten Erlösung. Also ganz oft gibt es ja Geschichten zum Thema Behinderung, wo eben entweder der Charakter am Ende geheilt ist oder aber stirbt. Und dann gilt die Erlösung quasi nicht nur der Person selbst, die dann durch Tod die Behinderungen vielleicht nicht mehr erleidet oder im Himmel laufen kann oder was auch immer, sondern es geht auch um die Erlösung der Gesellschaft, der Familie, der Freunde, dass sie sich nicht mehr aufopferungsvoll um jemanden kümmern müssen. Und diese Erlösungs-Metapher ist sehr weit verbreitet.
Jonas:
Und das ist euch dann quasi in den Büchern, die ihr früher gelesen habt, schon auch damals untergekommen. Du hast mal erzählt, Struwwelpeter ist ja ein Buch, was häufig gerade auch in den Medien in regelmäßigen Abständen noch mal hervorgekramt wird, als ja, ich sage mal, als Beispiel, wo heutzutage ein bisschen kritisch draufgeguckt wird.
Karina:
Ein bisschen ist gut, ich mein, das hat mich, glaube ich, echt traumatisiert. Das ist das einzige Kinderbuch, das ich noch richtig, richtig krass in Erinnerung behalten habe. Also für die, die es vielleicht nicht kennen: da geht es um moralische Lektionen, wobei ich moralisch vielleicht jetzt eher in Anführungszeichen setzen würde. Also das sind Kurzgeschichten mit Kindern, die was tun, was potenziell nicht der Norm entspricht und dafür bestraft werden. Also da gibt es dann zum Beispiel die Pauline, die mit Feuer spielt und dann in der Folge verbrennt; jemandem wird der Finger abgeschnitten, solche Sachen, also das ist richtig brutal. Aber da wird auch explizit auf verschiedene Krankheiten oder Behinderungen hingewiesen. Zum Beispiel gibt es den Suppenkasper, der seine Suppe nicht isst und dann nach wenigen Tagen stirbt. Also da wird quasi Magersucht porträtiert. Oder es wird zumindest spekuliert, dass das der Punkt war. Und dann in Zappelphillip, der nicht ruhig sitzen kann; also da geht man mittlerweile davon aus, dass er vielleicht eine Form von Hyperaktivitätssyndrom hat: Und die werden eben für dieses nicht der Norm entsprechende Verhalten schwer bestraft. Und das ist schon eine ziemlich krasse Darstellung von Krankheit und Behinderung in Kinderbüchern.
Jonas:
Also bestraft oder es passiert ihnen was; also Hans-guck-in-die-Luft ist ja auch ein Teil davon, der dann irgendwo reinfällt. Ich weiß auch nicht mehr so ganz genau, aber auf jeden Fall geschieht ihnen allen etwas Negatives. Und das ist dir total im Gedächtnis geblieben, jetzt auch in der Retrospektive oder hast du auch quasi damals dir schon gedacht: „Ääähh, was ist das denn?“
Karina:
Damals hatte ich halt einfach Angst und ich mein, offensichtlich soll es dazu führen, dass Kinder sich benehmen. Aber ich fand es einfach … ich dachte mir: Gott, wenn mir der Finger abgeschnitten wird, für irgendetwas, was ich falsch mache, ist das schon irgendwie extrem. Und jetzt in Retrospekt habe ich mich gefragt, warum mir dieses Buch explizit so in Erinnerung geblieben ist, und ich glaube, das war wirklich einfach, weil ich Angst davor hatte. Das ist eine stärkere Emotion als irgendwie was schön finden.
Jonas:
Oder quasi sich die Frage zu stellen, warum es dir zum Lesen gegeben wurde: „Hier, Karina, lies Dir das mal durch, das ist vielleicht ganz interessant für dich“.
Karina:
Ja, ich meine, da können schon Gründe gewesen sein.
Jonas:
Raúl, bei den wenigen Büchern, die du gelesen hast …
Raúl:
Ich habe mich auch ein bisschen mit Kinderbüchern beschäftigt, auch im Erwachsenenalter dann. Aber was ist deine Frage?
Jonas:
Hast du auch so Beispiele, wo du, also jetzt quasi neben Heidi und Klara, wo du sagen würdest, hier hast du so ein Extrem, wo Behinderungen sehr, sehr seltsam dargestellt, sehr klischeehaft dargestellt wurde?
Raúl:
Ja, tatsächlich. Also es gibt ein immer wieder auftauchendes Muster, zum Beispiel das Muster, dass der Charakter mit Behinderungen eine Heldentat vollbringen muss, um überhaupt in der Gesellschaft zu gelten. Also ein Klassiker wäre hier zum Beispiel „Die Vorstadtkrokodile“, ein Junge im Rollstuhl aus der Nachbarschaft guckt aus dem Fenster, beobachtet, wie da eine Straftat draußen auf der Straße geschieht und ist aber sonst eigentlich ein Außenseiter. Und dann gibt es eben die Vorstadtkrokodile, eine Detektivbande, die diesem Fall auf den Grund gehen will. Und er hat quasi dieses eine Extrawissen, dass der Gruppe erst zum, sagen wir mal, „Sieg“ verhilft. Und erst dadurch, dass er dieses Extrawissen hat, wird er in die Gemeinschaft auch integriert. Aber er wäre sonst nicht integriert gewesen, weil er im Rollstuhl sitzt. Und es beginnt auch sehr traurig, dass er alleine ist und keine Freunde hat und erst später durch dieses Spezialwissen Anerkennung findet in der Gesellschaft. Und das ist tatsächlich ein Muster, das öfter auftaucht. Ein anderes Muster, das ich entdeckt habe, ist dass … ein Kinderbuch zum Beispiel, das heißt „Irgendwie Anders“. „Irgendwie Anders“ ist, glaube ich, eine Maus, die sich irgendwie anders fühlt und eines Tages klingelt es an der Tür. Und dann ist dort ein „Seltsames Etwas“ und Irgendwie Anders befreundet sich mit dem Seltsamen Etwas und verschwört sich gegen die Mehrheitsgesellschaft. Und das ist auch ein ganz klares Muster in der Kinderbuchliteratur, dass man immer davon ausgeht, ein Außenseiter muss erst einen anderen Außenseiter treffen, um überhaupt sich gesehen zu fühlen, in der Gesellschaft Geltung zu finden und sich gegen die Mehrheitsgesellschaft zu verschwören. Und in meinen Augen manifestiert eigentlich auch erst dieses Muster: „Guck mal, da gibt es einen anderen Behinderten, lern den doch erst einmal kennen, werdet doch mal Freunde“. Aber ich als Kind fand das immer ganz schwierig, wenn man mich versucht hat, mit anderen behinderten Kindern zusammenzustecken. Mein Interesse war immer das gemeinsame Hobby, das gemeinsame Interesse am Spielen und nicht an „Der ist auch behindert“. Und das versuchen Kinderbücher leider oft zu sehr. Und dann ist mir aufgefallen… ich weiß nicht, ob ihr „Elmar, der Elefant“ kennt?
Jonas:
Ja, also, der Name sagt mir irgendetwas.
Raúl:
Ja, so, Elmar, der Elefant ist ein bunter Elefant.
Jonas:
Ah ja, doch.
Raúl:
Und der fühlt sich auch einsam, weil er eben bunt ist und alle anderen Elefanten sind grau. Und dann versucht er, sich mit Dreck und Schlamm auch grau zu machen. Und das Normalisierungs-Prinzip hier; also du bist erst dann quasi akzeptiert in einer Gesellschaft, wenn du auch grau bist. Und ich verstehe den Ansatz der Autorinnen und vielleicht haben sie es auch nicht so gemeint. Aber trotzdem möchte ich nicht zwei Schritte gehen müssen, um von LäuferInnen als akzeptabel in der Gesellschaft gesehen zu werden. Weil am Ende des Tages kann ich nicht laufen. Und am Ende des Tages ist Elmar nun mal bunt. Warum muss er grau werden?
Jonas:
Das, was mir auffällt, dass viele Verlage, die auch das Thema Behinderung in Kinderbüchern oder generell in Büchern auftauchen lassen, sich auch immer mehr Hilfe holen, Expertise ranholen. Im Rahmen meiner Arbeit mache ich auch häufig ein Sensitivity Reading, das heißt also, man wird gefragt, ob man mal über fertige Geschichten – egal, ob es jetzt ein Kinderbuch, Erwachsenenliteratur oder auch Drehbücher sind – ob man da mal quasi drüber lesen kann und mal gucken kann, gibt es irgendwelche Stereotype, gibt es Fallstricke, gibt es Klischees, die vielleicht in dieser Geschichte drin sind, die man vermeiden könnte oder die man vielleicht auch irgendwie anders erzählen könnte? Und im Rahmen dieser Arbeit werden mir auch häufig Kinderbücher vorgelegt, wo es dann Geschichten gibt, wo das Thema Behinderung drin vorkommt und ich dann mit meiner Expertise als Mensch mit Behinderung, als Experte in eigener Sache, mal schauen sollte, ob das vom Storytelling her angemessen ist. Und mir ist da aufgefallen, dass in vielen Büchern die Behinderung drin vorkommt, aber sie so ein bisschen auch als Wissensvermittlung benutzt wird, heißt also, dass anhand der Rolle oder der Figur, die eine Behinderung hat, erklärt wird, wie man mit Menschen mit Behinderung umzugehen hat. Und es werden die typischen Fragen beantwortet, wo ich das Gefühl habe, okay, hier geht es teilweise weniger um das Miteinander, sondern auch mehr um gesellschaftliche Haltung oder dass man, … wo ich mir die Frage gestellt hab, braucht es das so? Muss man anhand dieser Kinder- und Jugendliteratur, wenn Behinderung vorkommt, daran etwas erklären, wie wir miteinander umgehen? Oder ist es eben vielleicht sogar auch der eine Ort, wo man sagt, okay, man kann es nutzen, wenn nicht da wo dann? Wo kann man sonst irgendwie Kindern und Jugendlichen frühzeitig irgendwie einen positiven Umgang miteinander beibringen?
Raúl:
Ich würde sagen, das ist tatsächlich ein Spagat. Also Kinder merken auch sehr schnell, wenn sie erzogen werden, also wenn das Buch zu pädagogisch ist. Die Geschichte muss ja trotzdem irgendwie auch spannend sein und jetzt irgendwie anderthalb Seiten darauf zu verlieren, wie man jetzt mit dem Charakter im Rollstuhl umgeht, ist vielleicht nicht unbedingt der Geschichte förderlich. Wenn man das beiläufig erzählt, glaube ich, kann das ganz gut funktionieren. Aber wie gesagt, das muss man sich dann im Detail angucken. Mir fällt da gerade ein Buch ein, das ich im Sinne der Recherche für unser eigenes Kinderbuch gelesen habe. Es kommt aus den USA, und es heißt „What happened to you?“ und handelt von einem Jungen mit einem Bein, der auf dem Spielplatz ist und die Kinder haben tausend Fragen: „Warum hast du nur ein Bein?“ und er lässt dann die Kinder raten, weil er halt die Frage wahrscheinlich schon eine Million Mal beantwortet hat, und die Kinder denken sich dann die abstrusesten Geschichten aus: „Ein Hai hat dir das Bein abgebissen oder Piraten das Bein abgehackt?“ oder so. Und dann sagt er immer „Nein. Nein. Nein. Nein“. Und am Ende setzt er sich auf eine Bank und ist genervt von dem Spiel. Und auf der Bank sitzt ein Mädchen, und er fragt sie: „Möchtest du jetzt wissen, was passiert ist?“ und sie sagt: „Nein“. Und bis am Ende des Buches wissen wir nicht, was passiert ist, warum er nur ein Bein hat und im Erklärtext danach steht auch, dass wir es nie erfahren werden, weil das niemanden etwas angeht. Und das ist, glaube ich, die Lektion und nicht die Lektion: es kann Menschen geben, denen ein Bein von einem Hai abgebissen wurde, sondern eben: wir wissen es nicht. Und das es auch okay ist, es nicht zu wissen.
Jonas:
Ich habe mal ein Zitat mitgebracht, aus einem der Bücher, die ich zum Beispiel gelesen habe. Da kommt zum Beispiel eine Person drin vor, die blind ist. Das ist Harvey in dem Fall, und es spielt in einem Internat. Und es geht darum, dass die dann gemeinsam Mittagessen. Und dort heißt es dann: Lorenz begleitet Harvey zum Esstisch, aber der besteht darauf, seinen Platz selbst zu finden. “Lass mich das alleine machen”, sagt er und schüttelt Lorenz‘ Hand ab. Also quasi, das ist so eine Stelle gewesen, wo ich das Gefühl hatte: okay, hier wird nochmal betont, dass Menschen mit Behinderungen oder Menschen, die blind sind, auch nicht unbedingt ungefragt Hilfe benötigen wollen, sondern eben auch eigenständig unterwegs sind. Oder in einer anderen Szene des Buches, wo es um die Art oder die Vielschichtigkeit der Behinderung geht. Dort heißt es: „Anni guckt Harvey nachdenklich an: sag mal ehrlich, beginnt sie, was siehst du denn überhaupt? Ist es immer schwarz um dich herum? Harvey schüttelt energisch den Kopf. Nein, überhaupt nicht. Ich erkenne Umrisse, hell und dunkel, Licht und Schatten, nur keine Farben. Aber weil ich früher mal Farben sehen konnte, ist es in meinem Kopf ganz kunterbunt. Ich fantasiere mir die Farben einfach dazu“. Wo ich auch dachte, okay, das ist natürlich eine Art und Weise zu sensibilisieren, zu sagen, es gibt natürlich Unterschiede von Blindheit. Manche können noch Helligkeiten unterscheiden. Manche sind von Geburt an blind und haben die Farben quasi nicht wahrgenommen. Manche erblinden im Laufe ihres Lebens und haben aber Erinnerungen aus der Vergangenheit. Das sind ja alles quasi unterschiedliche Perspektiven. Deswegen natürlich die Frage, die kommt ja auch bei mir als Person mit Sehbehinderung auch immer wieder ständig: „Was siehst du eigentlich noch, oder wieviel siehst du noch?“ Dann sage ich „ja, 37,6 Prozent“.
Raúl:
Oder nackt.
Jonas:
Ja, genau. Ich sehe zwar unscharf, aber dich sehe ich also … hoho. Nein, so wie ich mich mal frage… natürlich nehme ich das den Leuten nicht komplett übel, weil ich das Gefühl habe, sie wollen sich hineinversetzen können oder verstehen können. Wo ich mich dann immer frage, musst du dich nicht unbedingt in mich hineinversetzen, um mich verstehen zu können? Aber nein, bei diesem Kinderbuch ist es mir wie gesagt aufgefallen, dass es dann erklärt wird, nochmal und nochmal dieser kleine extra Bogen genutzt wird, wo ich auch hin- und hergerissen bin auf der einen Seite zu sagen: „Ach, das braucht es doch nicht“ und auch auf der einen Seite denke ich wieder: ja, das ist aber eigentlich genau dieser eine Moment, wo man Kinder, die es entweder vorgelesen bekommen oder Jugendliche, die selber lesen, wo die sich selber ein Bild machen können und selber informieren können.
Raúl:
Also was ich ja da spannend finde bei dem Beispiel, dass Harvey ja sehbehindert ist, man kann es auch als blind bezeichnen, aber blind ist ein Spektrum. Und das, glaube ich, wird ja damit vermittelt. Spannend finde ich ja auch die Perspektive bei Blindheit auf die Frage „Siehst du nur schwarz“ zu sagen: „Ich kenne das Konzept Farben nicht“. Also wenn du geburtsblind bist und richtig blind, dann hast du Farben ja vielleicht auch nie gelernt. Und dann sind die Farben auch egal. Das finde ich auch eine spannende Perspektive, so wie es mir egal ist, nicht laufen zu können, weil ich nicht weiß, wie es ist.
Jonas:
Also, du vermisst nichts.
Raúl:
Ich vermisse es nicht, genau. Und wenn Du nicht weiß, was Licht und Farben und Schatten sind, dann ist es vielleicht auch irrelevant. Und es gab mal im 20. Jahrhundert, ich weiß nicht genau welches Jahrzehnt, aber es gab mal die Debatte darüber, ob wir vielleicht bei blinden Menschen von sogenannten Sechssinnigen sprechen, also normalerweise hat man ja sieben Sinne [redaktioneller Hinweis: je nach Literatur gibt es zwischen 5 und 13 Sinne. Die klassischen Sinne sind: Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken, aber auch die Wahrnehmung von Temperatur und Bewegung sowie dein Gleichgewichtssinn werden mittlerweile oft einbezogen; andere Quellen zählen noch weitere Sinne.] Und die sind quasi sechssinnig. Und das finde ich deswegen spannend, weil es überhöht dann nicht den Hörsinn. Oder es redet nicht vom Defizit. Das sind einfach Sechssinnige, und es gibt Siebensinnige oder vielleicht gibt es auch Fünfsinnige oder Achtsinnige. Aber diese Idee fand ich ziemlich interessant.
Jonas:
Ich meine, das geht natürlich damit einher, dass auch da – und das ist zum Beispiel auch in einem Kinderbuch, wo es in der Grundgeschichte um Pferde geht und natürlich die Person, die blind ist, also Harvey in dem Fall, anhand des Wieherns, weil er eben so gut hören kann, weil er blind ist, die unterschiedlichen Pferderassen und so weiter unterscheiden kann. Also quasi nur, weil ich nicht gut sehen kann, ein paar Prozent weniger, heißt es nicht, dass diese paar Prozent auf einem anderen Sinn dann drauf liegen. Natürlich ist es so, dass ich, wenn ich im Straßenverkehr unterwegs bin, höre ich natürlich eher genauer hin.
Raúl:
Weil du deinen Fokus darauf hast.
Jonas:
Genau so. Aber es ist jetzt nicht so, dass ich sage: okay, man schneide mir den Sehnerv durch, und zack, habe ich das absolute Gehör.
Raúl:
Genau. Ich glaube, dass es auch eine interessante Botschaft ist, die man den Kindern weitergeben könnte, zu sagen: „Das kann jeder lernen!“. Es ist einfach ein Fokus. Also je nachdem, wie lange du das machst, einfach aus Interesse oder aus Notwendigkeit, kannst du genauso gut hören und auch Pferde erkennen anhand des Wieherns.
Karina:
Vielleicht ist da auch einfach so eine Balance zwischen … da sitzen irgendwie Pädagogen oder so, die sich überlegen, was Kinder in dem bestimmten Alter im Buch gerade brauchen. Also da gibt es eine Studie dazu, dass Kinder in drei Altersphasen besonders motiviert sind, sich überhaupt mit dem Thema Behinderung zu beschäftigen. Und zum Beispiel zwischen neun und elf sind sie wohl recht neugierig, um zu verstehen, was für Einschränkungen eine Person mit Behinderung hat. Also vielleicht hast du dann auch die Zielgruppe Kinder, die irgendwie gerade besonders interessiert dran sind, was ein blinder Mensch jetzt sehen kann oder nicht kann. Also ich glaube es schwierig, da die Balance zu finden, zwischen nicht in die typischen Stereotypen zu verfallen, versus dann halt auch dieses pädagogisch immer einzubringen.
Jonas:
Raúl, du hast ja auch schon mal häufig die Geschichte erzählt, dass Kinder dich immer und immer wieder auch Dinge fragen, aber auf der einen Seite schneller auch Sachen akzeptieren, im Sinne von „okay, die Person sitzt im Rollstuhl; okay, die Person kann nicht laufen“. Ist so. Aber natürlich auch manchmal Kinder die Neugier packt und sie eben verstehen wollen, nachfragen. Und inwieweit dann, wenn man diese Informationen dann weglässt, das auch die Neugier nicht befriedigt in dem Sinne.
Raúl:
Also ich glaube, man braucht dann so ein bisschen ein Gespür dafür, wie viel Neugier beziehungsweise mit wieviel Unwissen kann das Kind zurückgelassen werden? Also wenn Kinder mich fragen „warum bist du so klein?“ kann ich natürlich sagen „ich weiß es nicht“, weil ich weiß es wirklich nicht. Aber ich kann ihnen auch sagen: „na ja, es gibt große, es gibt kleine Menschen, und ich finde das in Ordnung. Wie siehst du das?“ Da brauchen die keine medizinische Erklärung und nicht die Informationen, dass ich Glasknochen habe und dass die Knochen schneller brechen und meistens das mit Kleinwuchs einhergeht und so weiter und sofort, weil das setzt sie erst – da habe ich zumindest die Beobachtungen gemacht – auf die Idee, dass Glasknochen was Schlimmes sein muss. Und wenn ich sage: „Es gibt große und es gibt kleine Menschen, und ich finde das in Ordnung. Wie siehst du das?“ dann sagen die meistens Ja, weil die sind selber noch klein. Sie wissen aber, dass es etwas anderes ist. Dann kann man darüber reden. Du bist vielleicht noch größer, ich bleib aber klein, wir können ja irgendwann mal Klamotten tauschen. Irgendwie so witzige Dialoge, die man dann auch führen kann und dann auf eine neue Idee bringen. So etwas wie: Komm, wir gehen jetzt ein Eis essen oder was ist dein Lieblingseis? Und dann merken die, dass es auch ganz „normal“ ist, dass es große und kleine Menschen gibt. Und trotzdem fragen sie immer mal wieder neu nach, wenn man Kinder länger kennt. Wir haben jetzt gerade eine dreijährige kennengelernt im Freundeskreis, und die ist natürlich drei Tage lang völlig ohne Fragen. Und am vierten Tag hat sie ganz viele Fragen, und dann erkennt sie im Bilderbuch einen Menschen im Rollstuhl und sagt: „guck mal, da bist ja du“ und so. Das ist ja auch süß und schön. Und dann kann man es auch einordnen.
Jonas:
Also sag mal, Rollstuhl oder wie jetzt in der anderen Geschichte Harvey als blinde Person, das ist natürlich auch sehr plakativ und Behinderungsarten oder Einschränkungen und Beeinträchtigungen, die sehr bekannt sind. Karina, wie sieht es in dem Fall aus, wenn es quasi auch explizit um unsichtbare Behinderungen geht. Gibt es Bücher, wo du sagst, da bist du mit deiner Behinderung abgebildet? Oder fühlst du dich repräsentiert?
Karina:
Also ich kenne kein deutschsprachiges Kinderbuch zu Ehlers-Danlos-Syndrom, und ich glaube, die Schwierigkeit ist auch, wenn ich jetzt auf das eingehe, was Raúl gerade mit Rollstuhl und sichtbaren Behinderungen sagt, ich weiß nicht, wie man in einem Kinderbuch zu einer unsichtbaren Behinderung quasi nicht erwähnt, was die Diagnose ist, beziehungsweise was die Symptome sind. Weil dann ist es halt einfach eine nichtbehinderte Person in dem Buch. Aber es ist halt dann immer die Frage: wie stellt man denn unsichtbare Behinderung überhaupt dar? Kann man das, ohne dass man Symptome und Einschränkungen erwähnt? Und auf der anderen Seite ist ja dann auch der Fakt, dass Leute mit meiner chronischen Erkrankung das Problem haben, dass sie ständig nicht ernst genommen werden. Und dass es ständig heißt, du bildest dir das ein, und man sieht ja gar nichts. Deswegen kannst du ja nicht krank sein. Deswegen will man da ja auch eine gewisse Awareness schaffen für die Tatsache, dass, auch wenn jemand gesund aussieht, trotzdem Einschränkungen haben kann. Das heißt eigentlich ist in den Büchern, die ich kenne, also aus dem englischsprachigen Raum, immer im Fokus, quasi die Beschreibung von den Einschränkungen, um dem Umfeld klarzumachen: Hier, guck, das Mädchen oder der Junge sieht gesund aus und trotzdem hat sie die und die Probleme. Also da ist immer irgendwie ein medizinischer Fokus und ich sehe auch, dass das problematisch ist. Ich weiß auch nicht, was ein guter Kompromiss sein kann, um da irgendwie eine Balance zu finden, dann nicht eben nur auf Diagnosen zu limitieren. Und ja, es ist schwierig.
Jonas:
Es ist dieser Fluch und Segen von unsichtbaren Behinderungen, dass du auf der einen Seite in der Masse untergehen kannst, aber dich auch immer wieder erklären musst. Das sind halt so die beiden Perspektiven, die da mitspielen. Aber gibt es denn, sage ich mal … wie würdest du denn jetzt quasi das Ehlers-Danlos-Syndrom, wie würdest du es charmant darstellen? Also ist ja vielleicht auch mal die Frage, wie geht man mit der Haltung da dran – also ich meine, man muss ja nicht irgendwie in dem Buch schreiben: Nach ICD10 ist es hier folgende Diagnose und sagen wir mal das komplette medizinische Fachvokabular runterbrechen, sondern du kannst ja auch … ja, wie kann man es darstellen?
Karina:
Also ein kürzlich erschienenes Buch oder eigentlich eine Buchserie von Rebecca Yarros, das sind sogar Bestseller – ich glaube, Young Adult Fiction, Fourth Wing und Iron Flame – und die, finde ich, hat es ganz charmant gelöst. Ich muss dazu sagen, ich habe die Bücher noch nicht komplett gelesen, aber die Hauptdarsteller …
Jonas:
Auf Deutsch oder auf Englisch?
Karina:
Auf Englisch. Aber die gibt es auch auf Deutsch. Die Hauptdarstellerin ist ein junges Mädchen, Violet heißt die, und sie geht in so ein War-College, wo sie irgendwie Drachen bezwingen muss und so. Und die wird nicht explizit geoutet als Ehlers-Danlos-Syndrom-Person, sondern das wird immer so umschrieben. Das sind immer nur so kleine Sachen, die da einfließen. Also irgendwie, dass sie vielleicht ein bisschen irgendwie kleiner und schwächer ist als andere, dass sie mit Schmerzen zu tun hat und solche Sachen. Aber auf der anderen Seite wird auch hervorgehoben, dass sie quasi durch diese Perspektive, die sie aufgrund der chronischen Krankheit hat, andere Stärken entwickelt hat, die ihr total zugutekommen und die zum Beispiel andere nicht haben. Und das sind so kleine, beiläufige Sachen, die nicht wirklich die Haupt-Storyline sind, aber schon irgendwie auch mit beeinflussen. Aber das wird so ganz selbstverständlich immer eingeflochten. Und was ich ja liebe ist, da ist auch noch eine Love Story drin, da sind überraschend viele Sexszenen mit involviert …
Raúl
Für Kinder ab acht…
Karina:
Nee, das ist ein Young Adult Buch. Aber ja, die hat das irgendwie so beiläufig einfließen lassen, dass trotzdem jeder weiß, was gemeint ist, aber ohne irgendwie einen Fokus drauf zu legen, fand ich gut.
Jonas:
Ja, beiläufig Sexszenen einfließen lassen … Du hast ja eben gesagt: Drachen, das bringt uns natürlich wieder zurück zur unendlichen Geschichte, die wir am Anfang hatten.
Karina:
Ah ja, ich mag Drachen.
Raúl
Das finde ich total interessant. Für mich wäre jetzt das Erkenntnisinteresse beim Schreiben eines solchen Buches, wie bei unsichtbarer Behinderung, vielleicht, dass am Ende gelernt wurde, dass wir es nicht wissen, was in jemandem vorgeht, der vor uns steht oder sitzt. Und dass wir das immer, sagen wir mal, glauben müssen, wenn uns jemand sagt, ich habe Schmerzen, ich kann das nicht, mir fällt das schwer. Und dadurch vielleicht auch eine gewisse Empathieebene entwickelt wird, auch in Bezug auf sich selbst. Also wie fühle ich mich eigentlich in bestimmten Situationen? Wann versuche ich eigentlich zu überkompensieren, obwohl mir das gar nicht gut tut? Ohne dass man eine Diagnose haben muss.
Karina:
Ja, das stimmt. Ich glaube, das wäre wünschenswert. Aber ich habe auch oft das Gefühl, dass es nicht ist, wie Menschen so ticken. Also die verstehen dann trotzdem nicht so ganz oder glauben einem nicht wirklich, wenn man es sagt: „Pass auf, das ist so“, ohne dass man das genauer beschreibt.
Raúl:
Was ich total spannend finde, das fällt mir die ganze Zeit ein: bei uns in der Familie … meine Oma ist schon relativ alt und dement, und es gibt ein Enkelkind, relativ jung, zwölf oder so. Und die ist unfassbar empathisch im Umgang mit unserer Oma. Und zwar so empathisch, wie es kein Erwachsener hinbekommt. Einfach sich Zeit nimmt, zuhört und Dinge herausfindet durch diese Neugier und durch die Zeit, die die Erwachsenen schon ewig sich gefragt haben. Und das ist, glaube ich, das, was man mit so einem – also sich Zeit nehmen und mit jemandem auseinandersetzen und beschäftigen – auch in einem Kinderbuch, glaube ich, ganz schön vermitteln kann, ohne dass das problematisierend ist, weil ich glaube, sie weiß gar nicht, was mit Oma ist, sondern es ist halt Oma.
Karina:
Das stimmt, ja.
Raúl:
Du hast gerade gesagt, Jonas, dass viele Bücher ja von PädagogInnen entwickelt wurden oder warst du das, Karina? Ich kann mich gerade nicht erinnern. Und ich glaube, ein anderes Problem ist, dass Bücher auch von Eltern von behinderten Kindern oft geschrieben werden. Und dann meiner Beobachtung nach, dass der Fokus zu sehr auf die Diagnose gelegt wird. So etwas wie: Ich muss jetzt allen Kindern erklären, was Krankheit/Behinderung XY ist. Und ich glaube, ich bin fest davon überzeugt, dass man das nicht muss. Die Diagnosen sind was sehr privates, sehr intimes, sehr individuelles, sehr unterschiedliches. Und davon gibt es so viele. Es kann gar nicht so viele Bücher geben, und man kann auch nicht den Kindern sie alle geben. Was vielleicht öfter angesagt wäre, eher so das Phänomen zu beschreiben, dass Menschen unterschiedlich sind, dass es um Gemeinschaft geht und gemeinsame Hobbys, Interessen und Abenteuer mit und ohne Behinderung.
Jonas:
Habt ihr generell das Gefühl, dass zum Beispiel in der vielfältigen Darstellung so… dass natürlich irgendwie kann man die komplette Vielfalt von Behinderung – kann man ja gar nicht in einem Buch darstellen. Also man hat ja immer nur, kann man ja immer nur Bruchteile von den Geschichten irgendwie erzählen. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass so wenn ich zurückblicke auf vielfältige Geschichten, lande ich immer sehr schnell bei wirklich Bilderbüchern und dann sehr schnell bei Wimmelbüchern, wo natürlich die Möglichkeit ist, so viel unterzubringen an Figuren, an versteckten Geschichten, wie es nur irgendwie möglich ist. Sind solche Wimmelbücher oder Bilderbücher im Allgemeinen, die eben gar nicht die Geschichten in der Schrift erzählen, sondern eben in Bildern, die am besten vielfältigen Kinderbücher?
Karina:
Ich glaube, das ist einfach leichter umzusetzen. Also A, weil die von Haus aus schon ein bisschen inklusiver sind. Also gerade wenn sie mehrere Sinne ansprechen. Und glaube, gleichzeitig ist es auch einfacher, manche Dinge in einem Bild darzustellen, die man sonst irgendwie auf zwei Seiten hätte beschreiben müssen. Also ja, deswegen sind die wahrscheinlich an sich ein bisschen inklusiver.
Jonas:
Ist man natürlich auch so ein bisschen wieder so… gerade bei Bilderbüchern geht es auch darum, wie man als Eltern die Geschichten erzählt. Also gerade bei Bilderbüchern, wenn es um eine unsichtbare Behinderung geht. Natürlich können das, können alle Personen, die in den Büchern zu sehen sind, eine Behinderung haben, wenn vielleicht auch irgendwie unsichtbar oder vielleicht auch einen anderen Diskriminierungshintergrund. Aber es kommt auch immer viel darauf an, was man dann interpretatorisch aus dieser Geschichte eben irgendwie rausholt.
Karina:
Ja, die lassen halt viel Raum für Interpretationen, wenn da nicht im Text vorgegeben ist, was ich jetzt gerade zu denken habe.
Raúl:
Ich war neulich mit unserer Kollegin Adina Hermann auf einer Kinderbuchlesung – ein Wimmelbuch, und wir haben uns am Anfang gefragt, wie funktioniert eigentlich eine Wimmelbuch-Lesung? Es ist ja irgendwie, wenn da nur Bilder sind, da kann man ja nichts lesen und dann hatten die einen riesigen Touchscreen aufgebaut. Also keine Ahnung, ein mal zwei Meter oder so. Und dann wurden einfach die Kinder gefragt, wo seht ihr euch wieder in diesem Wimmelbuch? Und da waren irgendwie – keine Ahnung – 40 Kinder bestimmt mit und ohne Behinderung. Und dann konnten die Kinder gemeinsam oder einzeln vorgehen und sich in diesem Bild wiederfinden, auch wenn es nicht sie sind, sondern einfach: da ist auch jemand im Rollstuhl oder auch jemand mit Kopftuch oder auch jemand mit einem Ball. Und das fand ich irgendwie ganz schön so als Happening und als Event.
Aber was mir gerade einfällt, man könnte auch mal eine ganze Podcastfolge machen zum Thema Barrierefreiheit und Bücher oder Barrierefreiheit und Medien. Also…wie machst du eigentlich ein Wimmelbuch für blinde Kinder zugänglich? Wimmelbücher sind ja oft… da werden dann fünf oder zehn Charaktere sagen wir mal, gibt es den Fokus drauf, und wenn man dann eine Seite weiterblättert, dann macht dieser Charakter irgendetwas anderes, und die anderen sind alle eher so schmückendes Beiwerk. Und dieser Fokus ist ja auch eine Entscheidung des Autors/der Autorin: welchen Fokus lege ich? Und dann aber auch: wie übersetze ich das eigentlich in Audiodeskription wenn ich blind bin? Ich glaube, dass könnten mal spannende Fragen sein.
Jonas:
Ja auch, weil man quasi ja dann schon, wie anfangs gesagt, sehr ins Interpretieren kommt und du musst dann quasi eigentlich dann eine Person neben dir sitzen haben als Assistenz, die selber die Geschichte oder die Bilder wahrnimmt und das dann wiedergibt und es ja wenig dann trotzdem mit dem eigenen Entdecken zu tun hatten. Aber ist diese Vielfalt an Geschichten etwas, was von eurem Empfinden her mehr wird, also, dass man irgendwie sagt, okay, dass eigentlich, wenn grundsätzlich Kinder- und Jugendbücher die Botschaft transportieren, dass es okay ist, dass man anders ist oder vielfältig oder dass eben nicht alle Menschen gleich sind. Da sind wir wieder vielleicht bei dem bunten Elefanten. Dass, wenn man diese Botschaft vermittelt, dass es dann schon viel getan ist, anstatt jetzt jede einzelne Behinderungsart und Diagnose irgendwie aufzudröseln.
Raúl:
Ich denke, das ist auf jeden Fall das, was wir gerade beobachten und was ich auch sehr begrüße, dass immer mehr Behinderung auch so beiläufig miterzählt wird. Und wenn es die Nachbarin ist, die gar keine große Rolle in der Geschichte hat, aber dann eben mit Gehstock oder mit Rollator oder Rollstuhl unterwegs ist, das glaube ich, ist schon ganz gut. Wir dürfen es nur nicht dabei belassen. Also wenn wir jetzt behinderte Menschen immer nur als Nebenrolle abbilden und nicht als Hauptrolle vielleicht auch mal ermöglichen zu denken und auch umzusetzen, dann werden wir der Sache nicht gerecht. Es braucht auch Geschichten mit behinderten ProtagonistInnen, wo die Behinderung vielleicht nicht das Hauptaugenmerk ist, sondern beiläufig miterzählt wird. Und da gibt es auch tolle Ansätze, vor allem im angelsächsischen Raum auch als Serie verpackt, inzwischen bei Disney+ und Co, wo man wirklich auch schöne Geschichten wiederfindet, einfach nur mal ein paar Sachen zu droppen. Ich habe jetzt gesehen Echo/Marvel-Verfilmung einer Superheldin, die gehörlos ist oder Racing Dion, ein Junge mit Superkräften, dessen beste Freundin im Rollstuhl sitzt. Und das sind schon ganz, ganz schöne Geschichten, die wir, glaube ich auch, weiterverbreiten und weitererzählen sollten, die auch fantastisch sein können und auch Abenteuer enthalten können – die nicht zu pädagogisch sind.
Jonas:
Und es gibt ja auch manchmal, das fiel mir gerade eben wieder ein, was du auch schonmal hier in diesem Podcast erzählt hast, manchmal wird auch diese Haltung zu manchen Themen verpackt in andere Geschichten, die jetzt nicht unbedingt was mit Menschen zu tun haben, also quasi eine Art Fabel: „Lauf kleiner Spatz“. Worum geht es da noch mal? Ich kriege sie nicht ganz zusammen.
Raúl:
Das ist wirklich eine sehr schöne Geschichte, die ein bisschen traurig ist, handelt von einem Spatzen, der in einem Gewitter sich einen Flügel verletzt und dann zur Eule geht. Und die Eule ist der Arzt oder die Ärztin. Und die Eule sagt dem Spatzen: Pass auf, ich kann machen, dass du keine Schmerzen mehr hast, aber du wirst nie wieder fliegen können. Und dann ist der Spatz natürlich unglaublich traurig, weil, er ist ja ein Vogel, und er muss fliegen. Und dann sagt sein bester Freund die Maus – und die waren schon vorher auch beste Freunde – sagt sein bester Freund die Maus: Naja, dann musst du halt laufen wie ein Huhn, weil Hühner können auch nicht fliegen oder nicht weit und nicht lang. Und dann übt der Spatz zu laufen wie ein Huhn. Und Ende der Geschichte ist: sie verbringen den Rest ihrer Freundschaft zeitlebens auf dem Waldfußboden und sind auch glücklich und nicht trotzdem glücklich, sondern auch glücklich. Und das ist, glaube ich, eine schöne Geschichte. Was ich ein bisschen schade finde, ist, dass das Buch sehr düster ist, also grau, dunkelgrau, schwarz gezeichnet. Und es gibt danach eine ganz gute Anleitung, auch für PädagogInnen und Eltern, die dann quasi mit den Kindern noch mal erarbeiten, wie rede ich eigentlich über Schmerzen, über Freundschaft, über etwas nicht mehr können und auch sich weiterentwickeln.
Jonas:
Wir findet ihr…wir geben jetzt schon in dem Podcast ja einige Tipps für Bücher oder was uns auch gut gefällt…
Raúl:
Ich wäre dafür, dass wir in den Shownotes nochmal ein paar Bücher auch empfehlen.
Jonas:
Ja, absolut. Also schaut gerne auf www.dieneuenorm.de vorbei. Dort haben wir einige Tipps bereitgestellt. Aber wir können ja auch eine Art Siegel vergeben, so: Die Neue Norm – gelesen, geprüft und für gut befunden. Ist so was wünschenswert? Oder geht das denn eher schon in die so… in die Washing Szene, dass man sagt, okay, hier werden dann…geht es einfach nur noch darum, die Siegel zu bekommen. Es gab ja mal dieses KIMI-Siegel.
Raúl:
Genau. Ich habe mal mit ein paar Kolleginnen/Freundinnen zusammen Kinderbuch-Siegel mit entwickelt. Das hieß KIMI, das ist einfach ein Fantasiename, hat keine tiefere Bedeutung das Wort. Und das sollte aus verschiedenen Vielfaltsdimensionen, sagen wir mal, die guten Bücher mit einem Siegel versehen. Und das ist gar nicht so einfach, ehrlich gesagt, da auch eine vielfältige Jury aufzusetzen, die vielleicht auch repräsentativ das äußern kann. Und dann hast du natürlich auch das Thema Kinder. Also, das heißt, du musst auch Kinder das Buch lesen lassen – findet ihr das Buch spannend? Das ist ja auch ein Kriterium für ein Kinderbuch und nicht nur: ist es pädagogisch richtig? Also ich bin da wirklich ein großer Verfechter von: es muss trotzdem spannend sein. Weil sonst kann ich auch ein Magazin lesen. Und das aufzusetzen ist sehr intensiv, sehr zeitintensiv, sehr kostenintensiv. Es gab dann zwei, drei Runden dieses Siegels – kann man sich auch noch anschauen die Ergebnisse unter Kimi-siegel.de, glaube ich. Inzwischen würde ich eher empfehlen, weil es das Siegel leider nicht mehr gibt, sich mal umzuschauen, zum Beispiel bei iPaed. Das ist so eine Initiative für pädagogische Literatur. Verlinken wir auch in den Shownotes. Oder zum Beispiel Alexandra Koch mit ihrem Blog The Read Pack glaube ich, die auch regelmäßig Bücher mit Vielfaltsdimensionen rezensiert. Also man muss schon noch sehr viel eigene Recherche machen.
Jonas:
Ihr hört dieneuenorm.de, den Podcast – auch zu hören in der ARD Audiothek. Und wir sprechen heute über Kinder- und Jugendliteratur und wie Behinderung dort drin vorkommt. Und wir haben ganz am Anfang schon erwähnt, dass du, Raúl, immer mehr Bücher schreibst, anstatt dass du ja Bücher selber liest. Du liest natürlich auch Bücher, aber auch jetzt hast du quasi ein Buch geschrieben, nämlich ein Kinderbuch: „Als Ela das All eroberte“. Und eigentlich hätten wir an dieser Stelle auch gerne noch mit deiner Mitautorin und unserer Kollegin Adina Hermann gesprochen, die aber leider heute krankheitsbedingt absagen musste. Gute Besserung an dieser Stelle. „Als Ela das All eroberte“ – ein Kinderbuch. Raúl Krauthausen schreibt nichts über Inklusion und dieses ganze schnöde trockene Zeug – sondern ein Kinderbuch. Worum geht’s?
Raúl:
Ja. Also ich habe ja viele Erwachsenenbücher geschrieben, und irgendwann dachte ich, ich habe jetzt genug geschrieben, genug gesagt, mein Kopf ist leer. Wenn ich noch mal etwas schreibe, dann ist es vielleicht ein Kinderbuch, und ich habe das so beiläufig unserer Kollegin Adina erzählt. Und sie meinte: Oh, das ist auch mein größter Traum oder ein großer Traum. Und dann haben wir uns darüber unterhalten. Worüber würden wir denn schreiben? Und wir hatten witzigerweise eine ähnliche Idee, nämlich dass wir gerne ein Kinderbuch schreiben würden, das wir gerne als behinderte Kinder selbst gelesen hätten. Das klingt jetzt ein bisschen kitschig und pathetisch, aber wo einfach zwei Menschen oder Personen mit Behinderungen selbstbestimmt, selbstbewusst durchs Leben schreiten oder rollen und die Behinderung nicht vergisst und nicht ignoriert und nicht überwindet, sondern sie einfach beiläufig miterzählt wird und sie aber gleichzeitig eigentlich höheres Interesse hat, also ein Hobby, eine Leidenschaft, auf Interesse und da auf, ja, Niederlagen, Hürden, aber auch Erfolge stößt und beiläufig eigentlich immer miterzählt wird, wie jemand im Rollstuhl zum Beispiel in dem Fall Ela das macht und ihr bester Freund ist Ben und Ben hat keine Behinderung. Zusammen erleben sie aber das Gleiche, nur eben auf unterschiedliche Fortbewegungsarten.
Jonas:
Was hat das mit dem Weltall zu tun?
Raúl:
Also Ela und Ben wollen beide Astronaut/in werden und eignen sich ganz viel Wissen über das Weltall an und wie das so funktioniert, und fangen dann an, auch zu trainieren für die Weltraumfahrt – keine Ahnung, Zentrifugalkraft und Schwerelosigkeit und Essen, was man halt im Weltall alles anders üben muss. Und dabei stoßen sie eben auch auf Probleme auch im Sinne der Barrierefreiheit zum Beispiel oder auch des Zutrauens und überwinden diese aber auf jede oder ihre eigene Art oder eben auch nicht. Und ich will jetzt gar nicht zu viel vorweggreifen, aber…
Jonas:
Spoiler hier jetzt nicht weiterhören!
Raúl:
Genau. Aber uns war wichtig, dass Ela als Hauptcharakter, sagen wir mal, nicht ihre Behinderung thematisieren muss. Und wenn, dann, weil es in dem Moment, sagen wir mal wirklich der beste Weg ist und nicht, weil sie sich outen muss. Und das, glaube ich, hat Adina vor allem am besten in der Illustration umgesetzt, weil es dort wirklich ganz beiläufig miterzählt wird. Und die Lektorin hat uns tatsächlich erzählt vom Verlag Carlsen-Verlag, dass sie erst mit unserer Zusammenarbeit verstanden hat, wie wichtig es ist, dass Rollstühle zum Beispiel auch richtig gezeichnet werden. weil ganz oft ist es so, dass Kinderbücher, wo eine Person im Rollstuhl auftaucht, das ist einfach so ein AOK-Krankenkassen-Rollstuhl-Modell ist…
Jonas:
Es gibt auch noch andere Krankenkassen… Barmer usw.
Raúl:
Ja, aber so diese hässlichen, klobigen Dinger, wo man als Kenner/Kennerin sofort sieht, dass ist nicht auf die Person angepasst und Adina hat das superschön hinbekommen, einen Rollstuhl zu zeichnen, der Spaß macht. Also wo die Räder blinken, wenn sie schnell fährt, wo die Speichen bunt sind – Regenbogenfarben. Aber es gibt zum Beispiel – Rollstuhlfahrende kennen das Dilemma – keinen Speichenschutz, also Eltern wollen ihren behinderten Kindern immer einen Speichenschutz geben, damit man sich die Finger in den Speichen nicht einklemmt. Und das kann am Anfang der ersten zwei Tage cool sein. Aber irgendwann ist es einfach uncool. Und wir haben lange darüber diskutieren, wollen wir einen Speichenschutz – Ja oder Nein. Und wir haben gesagt: Nein, es gibt auch keine Schiebegriffe. Ganz oft werden Rollstühle mit einem Schiebegriff dargestellt. Und wir haben gesagt: Nein, Ella fährt selbst, die wird nicht geschoben. Und dann braucht sie auch keinen Schiebegriff. Und das sind so Details, die, glaube ich, man erst mit der Zeit dann auch lernt als Lektorin.
Karina:
Also ich habe das Buch ja hier auch vorliegen. Und hier mein unbiased… meine wirkliche Meinung zu dem Buch ist: es ist total toll. Und ich wollte auch noch erwähnen, dass ihr so viel Liebe in Details gesteckt habt, also auch, dass ihr eine Mini Disability Pride Flag im Buch versteckt habt. Und ganz viele Details, von denen man merkt, dass das Buch von Leuten geschrieben worden ist, die sich wirklich gut auskennen. Was ich mich gefragt habe die ganze Zeit beim Lesen war, ob ihr da irgendwie eure eigenen Wünsche und Erfahrungen einfließen habt lassen. Oder also wie viel davon? Also gerade hier so – ich fand total cool das barrierefreie Baumhaus. Und dann habe ich irgendwie mich gefragt, ob das vielleicht so was ist, was Raúl gern mal haben wollte.
Raúl:
Also wir hatten mal eines, also, als ich Kind war mit meinen Cousins, wir hatten ein barrierefreies Baumhaus. Es hatte eine Rampe allerdings, keinen Aufzug, keinen Flaschenzug. Und das war cool. Also, es war aber mein Onkel, der war Tischler oder ist Tischler, der hat das halt gebaut, und das war für uns alle ganz normal. Wir hatten großen Spaß, diese Rampe hoch- und runterzurutschen. Das war jetzt, ist klar wegen mir. Aber es hat sich, glaube ich, für die anderen nicht als Defizit angefühlt, weil es gab auch eine Strickleiter. Aber ich kann mich erinnern, dass Adina und ich lange diskutiert haben, wieviel Spielzeug liegt eigentlich bei einem Kind, dass im Rollstuhl sitzt auf dem Boden, weil, wenn ein Spielzeug auf dem Boden liegt und du bist im Rollstuhl und muss da rumfahren, dann stört das eher. Und trotzdem waren wir aber chaotische und unordentliche Kinder. Und dann haben wir uns quasi auf so ein Mittelmaß geeinigt, wie viel Spielzeug liegt auf dem Boden und soll man die Rollstuhlreifen-Abdrücke im Teppich sehen? Ja oder nein? Das waren so Fragen, die wir diskutiert haben, aber die wir eben auch alle als Themen hatten. Jetzt haben wir ganz viel über Behinderungen geredet, uns war aber auch wichtig und vor allem wichtig, dass das Buch auch für nichtbehinderte Kinder spannend ist. Die Zielgruppe sind Kinder ohne Behinderung und deswegen ist das Thema auch Weltall. Und als Vorwort haben wir Insa Thiele-Eich gewonnen, die das Vorwort schreibt, die selber Astronautin wird, eine Ausbildung zur Astronautin gemacht hat und jetzt quasi darauf wartet, im wahrsten Sinne des Wortes ins All geschossen zu werden. Und mit der haben wir darüber gesprochen, wie jemand im Rollstuhl zum Beispiel auch ins Weltall kommen könnte. Und sie hat gesagt, das geht schon – ist halt eine Frage der Regularien. Und sie hat selber als Frau, die Astronautin werden wollte, gelernt, dass Regeln sich auch ändern können und plötzlich auch sie ins All konnte. Und das ist quasi das Empowerment da drin. Und wir haben ganz viele Weltall-Fakten in dem Buch eingebaut, die Kinder auch dann abfragen können.
Karina:
Wie wichtig war euch das denn? Das ist mir auch aufgefallen, dass es einerseits ja halt eine total schöne Kindergeschichte ist, aber gleichzeitig auch super viel Wissen, das ihr da vermittelt. Wie wichtig war euch das, dass da auch ganz viel Wissen drin ist?
Raúl:
Also Adina hat sehr viel Zeit damit verbracht, zu recherchieren. Fakten über das Weltall, die es noch nicht so in Kinderbüchern gibt – also es gibt ja viele Weltall- Bücher, aber wir haben versucht, auch mal Dinge zu zeigen und zu erzählen, die noch nicht so bekannt sind. Und das war uns sehr wichtig. Und wir haben dann auch tatsächlich Fact-Checking gemacht, also mit Leuten vom Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum, die dann auch gesagt haben, stimmt das überhaupt, was wir da erzählen? Und da ist uns tatsächlich kurz vor Schluss, kurz vor Abgabe des Bildmaterials wurde uns gesagt, die Rakete, die ihr abbildet, ist nicht die richtige. Also das ist eher eine Tim und Struppi-Rakete, aber keine Rakete wie sie existiert, nehmt doch lieber ein Space Shuttle.
Jonas:
Also eine Rakete, mit der man nicht zurückkommen könnte.
Raúl:
Ja, beziehungsweise auch eine Rakete, die eigentlich einen Ursprung aus der NS-Zeit hat, das will man ja nicht erzählen. Aber es ist halt die Raketen-Metapher die es gibt, und das musste man ja nicht reproduzieren. Und da ist dann auch – weil du gerade Sensitivity-Reading angesprochen hattest, Jonas, ganz wichtig, auch nicht nur in einem Text, sondern auch in der Bildsprache darauf zu achten: was reproduzieren wir eigentlich?
Jonas:
Karina, hast du die Version vorliegen, die ich signiert hatte…war das die?
Karina:
Was hast du signiert?
Jonas:
Ich signiere immer fremde Bücher, das weißt du doch.
Karina:
Ach so.
Jonas:
Nein. Aber das, was mir aufgefallen ist, wo so ein bisschen ein Fragezeichen bei mir entstanden sind: wir haben eben darüber gesprochen zum Thema HeldInnengeschichten, dass Menschen mit Behinderungen immer quasi HeldInnen sind. Und ich finde Astronaut werden, Astronautin, ist ja quasi ein Beruf natürlich, wo viele Kinder auch nach streben. Genauso wie wenn man irgendwie, sage ich mal, bei der Baustelle etwas machen möchte. Oder Feuerwehr oder Polizei oder so. Aber das ist natürlich in noch viel weiterer Entfernung zu erreichen. Warum ist das eine HeldInnengeschichte, die in Ordnung ist?
Raúl:
Ehrlich gesagt, ich habe mir gestern die Frage gestellt. Adina weiß das noch gar nicht. Aber ich habe mir gestern die Frage gestellt…
Jonas:
…ob ihr das Buch gar nicht veröffentlicht.
Raúl:
Wie ökologisch nachhaltig ist es eigentlich, Astronautin zu werden? Also wir haben ja wahrscheinlich gerade in unserer Gesellschaft andere Herausforderung, als jetzt noch mehr CO2 in die Luft zu ballern. Aber wir wissen ja auch gar nicht, ob Ela am Ende Astronautin wird oder nicht, weil sie sich auch noch acht. Aber ich finde es spannend, Berufe zu wählen, die man vielleicht nicht in erster Linie mit Menschen mit Behinderung in Verbindung bringt. Na also, es wäre einfacher gewesen zu erzählen, dass Ela Lehrerin werden möchte, ja oder, keine Ahnung, Bürokauffrau ohne irgendetwas auf einem Reiterhof machen will. Aber das war uns dann auch ein bisschen zu einfach.
Jonas:
Und braucht es auch manchmal vielleicht auch genau diese spannenden Geschichten? Ich meine, Ela könnte auch von ihrem Alltag erzählen. Oder denkst du – gähn – ist ja auch langweilig dann vielleicht.
Raúl:
Ich glaube, Kinder wollen auch dann fantastische Geschichten und nicht ein Kind, das so ist wie man selbst. Was auch spannend sein kann, aber vielleicht auch nicht immer ist – steile These, aber ich glaube Kinder wollen ja das, was sie noch nicht kennen.
Karina:
Rein handwerklich, wenn man Bücher schreibt oder Filme macht oder so, dann ist ja immer irgendwie eine Art von Spannungsbogen. Und ansonsten müsste man das Buch ja nicht unbedingt schreiben, es wäre dann nicht unterhaltsam.
Jonas:
Das Nachfolgebuch, wenn ihr dann quasi vielleicht irgendwann Ela selber als Autorin noch mal ein Buch schreiben lasst, wäre dann vielleicht jenes Nachfolgebuch: „Astronautin, wollte ich eh nicht werden“.
Raúl:
Wir denken tatsächlich über ein weiteres Buch nach.
Jonas:
Ach was!
Raúl:
Auch mit Ela. Und da ist so ein bisschen die Frage: in welche Richtung gehen wir? Geht es mehr mit dem Fokus Behinderung – wie ist es, mit Behinderungen zu leben und akzeptieren und so. Oder aber: geht Ela anderen Berufen nach, weil so wie Kinder halt Berufe ausprobiert, kann sie ja auch andere Berufe ausprobieren. Wahrscheinlich wird es eine Mischung aus beidem sein, weil es gibt eine Szene – ich will die jetzt nicht wegspoilern, aber es gibt eine Szene, die für mich sehr wichtig ist – die Szene, wo Ela im Schwimmbad ist und Schwerelosigkeit ausprobiert. Und da ist dann zum ersten Mal die Behinderung auch wirklich ein Thema, sowohl im Bild als auch im Überwinden einer Aufgabe und im Lösen einer Aufgabe. Und da wird es dann später im Teil für Erwachsene gibt es dann auch ein Erklärstück, warum wir diese Szene gewählt haben und wie wichtig es ist, dass es verschiedene Wege gibt, um ans Ziel zu kommen. Und dass wir Kinder auch nicht zu früh von etwas abhalten sollten, weil was passieren könnte.
Jonas:
Die Schonraum-Falle.
Raúl:
Genau, die Schonraum-Falle, sondern eben auch vielleicht Niederlagen aushalten lernen müssen, ohne dass sie gerade in Lebensgefahr sind.
Jonas:
Weil du gerade sagtest, es gibt auch ein Erklärstück für Erwachsene. Inwieweit ist denn eigentlich auch – und da habt ihr euch ja vielleicht auch Gedanken gemacht bei der Konzeption des Buches – gerade Kinder- und Jugendliteratur wird ja häufig geschenkt oder eher so Eltern kaufen das, man kriegt das zum Geburtstag, zu Weihnachten, zu irgendwelchen anderen Anlässen. Es wird, je nachdem für welche Altersstufe es ist ja quasi auch eher ein Buch, was einem vielleicht auch vorgelesen wird. Also ich habe manchmal auch so einen Eindruck, im ersten Moment muss es eigentlich erst mal den Erwachsenen gefallen, weil die eigentlich die sind, die es kaufen. Und dann natürlich, klar natürlich auch der Zielgruppe Kindern und Jugendlichen…
Raúl:
Das ist tatsächlich ein großes Thema im Kindermarketing. Wer ist eigentlich die Person, die es bezahlt? Das Kind muss auf das Bild anspringen und Eltern müssen dann gucken, anhand des Klappentextes und auch anhand des Preises natürlich, ob das sinnvoll ist oder nicht, das ist tatsächlich ein Spagat. Wir haben versucht – die Geschichte wird zeigen, ob es geklappt hat oder nicht, das Buch erscheint ja am 26. Februar – dass wir das Wort Inklusion nicht gebrauchen. Und auch das Wort Behinderung taucht nicht auf. Aber das Wort Rollstuhl im Klappentext, und das heißt ich kann als Erwachsener im Buchladen oder Online-Shop deines Vertrauens, dann irgendwie anhand des Wortes Rollstuhl vielleicht irgendwie erkennen, dass es sich um das Thema Behinderung handelt. Aber auf dem Deckblatt sieht man Ela im Anschnitt im Rollstuhl im Weltall. Und uns ist aufgefallen, es gibt auch andere Bücher zum Thema Weltall und Behinderung, dass dann das Weltall benutzt wird, als Befreiung vom Rollstuhl. Und dann ist sie quasi schwerelos und braucht einen Rollstuhl nicht. Und er schwebt dann daneben bei rum. Und wir haben gesagt: Ne, wieso? Der Rollstuhl gehört zu Ela und Ela hat diese Frage gar nicht. Und Eli ist natürlich im Rollstuhl im Weltall, und das gibt es zum Beispiel als Bild bisher noch gar nicht. Das ist aber das Deckblatt.
Karina:
Habt ihr euch auch bei irgendwelchen Themen nicht einigen können, weil ihr seid jetzt beide RollstuhlfahrerInnen, aber ihr habt ja mit Sicherheit unterschiedliche Erfahrungen. Gab’s irgendetwas, wo ihr euch nicht einig ward, wie ihr das umsetzen wollt im Buch?
Raúl:
Ehrlich gesagt, und ich habe das in meinem Leben so in der Intensität noch nie gehabt, waren wir uns in fast allem einig – auch mit dem Verlag übrigens. Es war alles ein einziger butterweicher Durchmarsch bis zum Release. Wir hatten die Zeit, die wir brauchten, und das war auch wichtig, diese Zeit sich zu nehmen, das haben auch alle gesehen und auch gewertschätzt, dass man sich dann dafür die Zeit nahm. Und ich bin bisher zumindest sehr zufrieden mit dem Ergebnis, und ich finde es auch schön, dass ich Adina und sie mich auch über dieses Buch noch einmal neu kennengelernt haben. Auch, wie war eigentlich unsere Erfahrung als Kind? Weil ich glaube, die Klischees, die wir kennen über Kinder mit Behinderungen, sind sehr häufig von Einsamkeit, von Ausschluss, von Mobbing und so betroffen, was sicherlich auch öfter der Fall ist als bei Nichtbehinderten. Aber es war bei uns beiden halt gar nicht, und trotzdem wussten wir aber, dass wir behindert sind. Dafür gibt es kein Buch. Es ist immer eine problematisierende Geschichte gewesen, und das wollten wir hier mal anders machen. Und es gibt auch wie bei „Lauf, kleiner Spatz“ eben diese einen Schwimmbad-Geschichte, wo es um das Thema Akzeptanz geht, also der Spatz wird nicht mehr fliegen können und Ela realisiert, dass sie vielleicht bestimmte Dinge anders machen muss – ohne es jetzt zu spoilern.
Jonas:
Aber du hast gerade auch gesagt – so etwas gibt es bislang noch nicht. Ist das, bleibt dieser Auftrag, dass eben ihr beide als beide Personen, die im Rollstuhl unterwegs sind, dann diese Thematik von einer Protagonistin, die auch im Rollstuhl sitzt, dass ihr das machen müsst? Du hast eben gerade gesagt, dass ihr schon über eine Nachfolgegeschichte nachdenkt. Muss es dann wieder Behinderung sein? Oder wäre es nicht irgendwie – ich meine, ihr könnt euch auch, wenn ihr gemerkt habt, dass ihr sehr gut miteinander Geschichten entwickeln könnt, auch sagen, okay, wir machen, wir machen das Kinderbuch, wo es wirklich überhaupt nicht um Behinderung geht.
Raúl:
Ich habe tatsächlich noch viele weitere Kinderbuchideen, die nichts mit Thema Behinderung zu tun haben. Allerdings glaube ich, ist in der Ela-Geschichte auch genug Potenzial für weitere Geschichten. Das Thema Akzeptanz kann man sicherlich noch weiterdrehen. Man kann auch das Thema, wie du gesagt hast – Teenager, Sexualität und Behinderung ist sicherlich auch oft sehr pädagogisch bearbeitet worden und nicht leidenschaftlich lustvoll. Also verstehst du, was ich meine? Und behinderten Menschen wird Sexualität und Liebe auch oft abgesprochen. Und also, um selbst mal ganz privat auf mich zu beziehen. Ich habe meinen Körper erst akzeptiert, als ich Ende 20 war. Ja, davor war mein Körper immer Objekt von Menschen, die mich gepflegt haben. Meine Eltern, meine Zivis, mein Assistent. Fremde Menschen an meinen Körper zu lassen war für mich normal. Aber ich habe ihn irgendwann so weit abgespaltet von meiner Persönlichkeit, dass ich auch, weil ich eine Privat- und Intimsphäre eher nur noch in meinem Kopf hatte und nicht mehr an meiner Haut, um es jetzt mal plakativ zu machen. Und ich glaube, das ist ein Kinderbuchpotenzial oder Jugendbuch – auch zu sagen, mein Körper gehört mir, ohne dass es gleich ein Aufklärungsbuch zum Thema Körper sein muss, sondern einfach spannend und trotzdem auch mit Abenteuer zu kombinieren.
Jonas:
Absolut.
Raúl:
Zum Beispiel… das erste Mal – die Liebe, Party, Kuschelparty, keine Ahnung.
Karina:
Und vielleicht müsst ihr auch noch eines zu unsichtbarer Behinderung schreiben.
Raúl:
Das könntest du gerne machen, zusammen mit Adina, die eine fantastische Illustratorin ist, kann ich nur empfehlen.
Jonas:
Deshalb schaut gerne rein in: Als Ela das All eroberte – am 26. Februar im Carlsen Verlag kommt das Buch raus. Gibt es da eine barrierefreie Fassung, weil ich meine, du hast an Anfang gesagt, Bücher halten für dich ist eher auch schwierig – für mich Bücher lesen, aufgrund der Sehbehinderungen auch. Hörbuch – gibt es da eine Option?
Raúl:
Das Buch wird es höchstwahrscheinlich auch als E-Book geben, wir arbeiten an einer Hörbuchversion und nochmal an einer speziellen Version für blinde Kinder und denken gerade darüber nach, wie man ein Buch kreieren kann für gehörlose Kinder. Wobei, was auch diskutiert werden muss mit der Community der Gehörlosen, weil die können ja theoretisch lesen oder Kinderbücher auch. Aber auch da ist, sagen wir mal, die Lesefreude nicht die größte, weil es eben Lautsprache ist als Text. Und da könnte man über Adaptionen in Gebärdensprache nachdenken.
Jonas:
Das klingt cool.
Alle Informationen auch zu den ganzen anderen Büchern, die wir heute mal so nonchalant gejobbt haben, findet ihr natürlich in unseren Shownotes auf www.dieneuenorm.de und wir freuen uns, wenn ihr dann beim nächsten Mal auch wieder mit dabei seid. Bis dahin…
Karina, Raúl & Jonas:
Tschüß