Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 59: „Europapolitik mit Katrin Langensiepen“
Karina Sturm: Jonas, wenn du an die EU-Politik denkst, welches Lied kommt dir in den Sinn?
Jonas Karpa: Jetzt mal so ganz spontan würde ich die Band Europe nehmen, passt ja, und The Final Countdown.
Raúl Krauthausen: (singt) Dididi, dididididi, didididi, dididididi…
Jonas: Herzlich willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Wir müssen über Politik sprechen. Bald, genauer gesagt am 23. Februar, findet die Bundestagswahl statt. Und auch in Europa generell ist ein leichter Umschwung zu merken, zuletzt in Österreich. Und wenn wir über den großen Teich blicken zu unserem, ja, großen Bruder, den USA, die eigentlich immer so, wenn es um Behindertenrechte geht und Aktivismus, immer einen Schritt voraus waren, dann scheint sich auch dort etwas zu ändern, denn der neue Präsident ist der alte Präsident. Und deswegen ist es uns wichtig, heute mal darüber zu sprechen, wie sieht es aus mit Inklusion und Menschen mit Behinderung in der Zukunft, wie sieht die politische Lage aus. Darüber sprechen wir mit Karina Sturm und Raúl Krauthausen.
Karina: Hi.
Raúl: Hallo.
Jonas: Mein Name ist Jonas Karpa. Und wir sprechen heute nicht alleine, denn wir haben uns eine Gästin eingeladen. Sie ist Europaabgeordnete und sitzt für die Grünen im Europaparlament. Und es ist Katrin Langensiepen. Hallo.
Katrin Langensiepen: Ja, moin.
Jonas: Wo erreichen wir dich gerade? Du bist ja in Langenhagen in der Nähe von Hannover aufgewachsen, kommst daher. Und bist du gerade in Hannover, in Brüssel, in Straßburg?
Katrin:
Wo bin ich gerade? Theoretisch wäre ich heute schon in Brüssel, aber in Belgien ist Generalstreik. Das bedeutet, dass auch die Deutsche Bahn dann nicht in den Bahnhof einlaufen kann. Und somit werde ich morgen früh nach Brüssel fahren. Ja, die Bahn, der Zugverkehr macht es einem nicht immer einfach. Aber meine Standardantwort ist eigentlich, ich lebe in der Deutschen Bahn. Wo bin ich zu finden? In der Bahn. Aber tingel immer zwischen Hannover, Berlin, Brüssel, Straßburg, so durch die Lande.
Jonas: Ich weiß nicht, ob man jetzt noch mein Beileid sagen müsste oder sowas, aber dass die Deutsche Bahn selbst Auswirkungen hat, also dass ein Streik in Belgien Auswirkungen hat auf die Deutsche Bahn. Es sind immer wieder neue Ausreden, die irgendwie kommen, gefühlt. Wir sind übrigens beim Du, weil wir uns schon etwas länger kennen, bzw. du, ja, sag ich mal, langjährige Followerin, sag ich mal, von unseren Social-Media-Kanälen und von unserer Arbeit bist. Wie bist du zur Politik gekommen? Oder kannst du diese Frage gar nicht mehr hören, weil es so die journalistische Standardfrage am Anfang ist, so “Wie sind Sie zur Politik gekommen?”
Katrin: Ja, was war so der final call? Erstmal danke für die Einladung, freut mich sehr. Was hat mich bewogen? Ich wollte nie in die Politik, ich wollte nie in eine Partei. Aber ich war immer ein politisch interessierter Mensch. Ungerechtigkeiten haben mich aufgeregt. Ich habe mich für Umweltschutz eingesetzt und war irgendwie immer eine politisch aktive Person. Und dann, ja, persönliche Gründe, ich war sehr lange arbeitslos, also Diskriminierung, würde ich mal sagen, am Arbeitsmarkt. Mensch mit Behinderung, wie schwierig ist es nach der Schule eine Ausbildung? Oder wie geht es weiter für dich? Und war sehr lange arbeitslos, auch im Hartz-IV-System drin und habe mit Ende 20 nach vielen Ups und Downs gemerkt, also wenn du hier nicht selber dir Verbündete suchst, dann wirst du hier mit der Bierdose vom Fernseher sitzen. Und alle finden das auch völlig normal. Das hat mich auch erschrocken, dass das so akzeptiert ist. Nee, du mit Behinderung, natürlich, und das ist ja auch schwierig. Und ich dachte immer, warum ist das schwierig? Ich habe ja auch eine Ausbildung, ich bin ja auch nicht blöd und ich habe was gelernt und ich habe was gemacht. Aber es war immer so, naja, also wenn du dann noch keine Arbeit findest, ist ja nicht schlimm, dann kriegst du eben irgendwie Sozialhilfe und dann kann man ja auch leben. Das wollte ich aber nicht. Und dann kam doch Stuttgart 21, 2010 war das, was mich dann auch gesellschaftlich aufgeregt hat. Und dann habe ich gesehen, dass 2011, da waren Kommunalwahlen in Niedersachsen und dann die Grünen. Und ich habe mit den Grünen halt sehr lange auch geliebäugelt, weil es thematisch sehr eng mit mir war. Die haben gesagt, wir brauchen dich und dann dachte ich, oh, haben wir ja lange nicht gehört. Bisher hieß es ja immer, nee, danke. Und diesmal, oh joa. Und ich bin den Grünen beigetreten im Oktober 2010. Und ich bin eine klassische Quotenfrau und bin über die Quote, habe ich einen Finger gehoben, Mund aufgemacht und habe gesagt, oh, ihr sucht jemanden? Jo, ich wäre bereit, mich in die Kommunalpolitik zu schmeißen und habe kandidiert und bin 2011 ins Stadtparlament von Hannover eingezogen und habe das bis 2019 gemacht.
Jonas: Hast du denn auch, sag ich mal, Barrieren oder Herausforderungen dann im politischen Werdegang erlebt? Wenn du jetzt ja gesagt hast, dass du vorher schon einiges an Diskriminierungserfahrungen hattest, ging es dann auf politischer Ebene weiter oder war es dort wesentlich besser?
Katrin: Da war es wesentlich besser. Also ich kann mich, glaube ich, nur einmal in meiner Kommunalgeschichte an wirklich eine direkte Diskriminierung, Beleidigung konkret erinnern. Das war in einem Ausschuss. Aber sonst habe ich innerhalb der Kolleginnen im Rat, wo ja viele verschiedene Parteien sind, aber auch innerhalb der Partei, keine direkte Diskriminierung erlebt. Also da hat jetzt keiner gesagt, boah, so jemanden wollen wir ja aber nicht im Parlament haben. Ich habe mal vielleicht den einen oder anderen genervt mit einer politischen Position. Ja gut, das ist die Aufgabe, dass dich nicht alle toll finden, dass nicht alle deine Positionen toll finden innerhalb einer Partei. Das ist völlig normal. Und ich hatte viel Zeit, ich war arbeitslos und das war mein Vorteil. Also was immer ein Nachteil war, war plötzlich ein Vorteil und habe mich ins politische Geschäft eingefuchst und habe nicht bewusst und direkt die sogenannte Behindertenpolitik gemacht. Ich habe sehr viel Sozialpolitik gemacht, ich habe mich sozialpolitisch engagiert. Also das Thema Obdachlosigkeit, Armut, Hartz IV, alles was mich auch selbst betroffen hat, war für mich ein Thema. Aber ich habe mich auch in ganz anderen Ausschüssen und mit ganz anderen Themen befasst. Ich war Umweltausschussvorsitzende, da hatte ich vordergründig gar nichts mit dem Thema UN-BRK zu tun. Bin hier und da mal angesprochen worden, hey, die UN-BRK, die wurde doch gerade ratifiziert, da kannst du das auch nutzen. Aber kommen wir vielleicht auch nachher zu, das war überhaupt kein Thema. Also wenn wir heute hier über Diversität sprechen und wie divers ist eine Gesellschaft, das war damals Betroffenheitspolitik. Also das wäre dir negativ ausgelegt worden. Ich habe mich aber nie als diejenige gesehen, boah und jetzt aber machst du von morgens bis abends nur Behindertenpolitik, da würde ich mir auch selber auf den Nerv gehen. Sondern ich habe ja auch Interessen, ich war im Wirtschaftsausschuss, da habe ich mir dann allerdings phasenweise immer den Spaß gemacht, ich bin auf jeden Wirtschaftsempfang gegangen und habe gedacht, ja wie schaut es denn aus, Einstellung von Menschen mit Behinderung. Und da war ich so der, ich sag mal so ein Alien und bin bewusst im Sozialausschuss und Wirtschaftsausschuss und das mache ich heute noch. Und auch immer dahin gehen, wo man sagt, naja das ist jetzt nicht aber das Klassische, wo man reingeht. Und habe immer aber auch geguckt, was interessiert dich, was macht dir Spaß, weil wenn es dir keinen Spaß macht, dann musst du es lassen. Weil das merkt man sofort.
Jonas: Du hast gerade angesprochen, dass du quasi als Quote da reingekommen bist. Gerade wenn man irgendwie als Quote irgendwo reinkommt, dann stellt man ja eine Eigenschaft schon ziemlich ins Schaufenster. Also egal, ob es jetzt Frauenquote, Behindertenquote, Migrationsquote, was auch immer ist. Raúl und Karina, wie wichtig ist für euch als Wählerinnen Repräsentanz in der Politik? Seid ihr, ich meine Karina, für dich mit unsichtbarer Behinderung ist natürlich immer noch relativ schwer herauszufinden, ist da noch eine andere Person mit unsichtbarer Behinderung. Aber selber für dich, Raúl, fandest du es für dich repräsentativ, dass es einen Wolfgang Schäuble gab?
Raúl: Das ist eine sehr gute Frage. Ich hatte auch gerade überlegt, viele Politiker*innen sind ja Berufspolitiker*innen. Die haben dann Jura studiert oder einfach von Anfang an Politik gemacht. Und wahrscheinlich sind die wenigsten mal von Arbeitslosigkeit betroffen gewesen oder Bürgergeldempfänger*innen. Dass das wahrscheinlich schon in der Hinsicht sogar total wichtig ist, da auch eine Repräsentation in den Parlamenten zu haben. Sonst sind das eben alles vor allem Akademiker*innen oder eben Studierte. Und diese Repräsentation finde ich schon wichtig. Wobei bei Wolfgang Schäuble würde ich jetzt sagen, der hat sich ja jetzt nicht verdient gemacht für behinderte Menschen. Im Gegenteil. Und ich finde auch, das ist natürlich das gute Recht eines Politikers mit Behinderung oder Politiker*innen. Wie ja auch Katrin gesagt hat, dass sie sich auch gerne mit dem Thema Wirtschaft auseinandersetzt. Und dann quasi versucht er, über diesen Winkel ab und zu mal das Thema Inklusion behinderter Menschen einzustreuen. Was vielleicht sogar einen größeren Effekt haben kann.
Jonas: Wolfgang Schäuble ist ja auch nochmal eine Person, die ja schon vorher in der Politik war. Dann durch das Attentat den Rollstuhl benutzen musste. Und das ja nochmal ein Unterschied ist, ob du deine politische Karriere startest schon mit Behinderung oder dann die Behinderung im Laufe deiner politischen Karriere erwirbst.
Raúl: Das stimmt. Aber danach hat er ja quasi seine Politik auch nicht geändert. Im Gegenteil. Er hat sich ja auch einen Bärendienst geleistet, finde ich. Er hat ja auch ganz bewusst das Thema vermieden, wollte dazu auch sich nie äußern und erst spät. Und ich glaube, da hat er auch viele Menschen eher enttäuscht in der Behinderten-Community als wirklich bestärkt.
Karina: Jonas, weil du sagtest, ich wüsste ja nicht, wer eine unsichtbare Behinderung hat. Aber ich glaube, das ist auch irgendwie der Point. Ich glaube, ein Haufen Politiker*innen trauen sich vielleicht auch immer noch gar nicht wirklich darüber sprechen, dass sie eine Behinderung haben. Also das muss man ja auch irgendwie abwägen. Und das hat ja nicht nur Vorteile, wenn man das offenlegt. Man sieht ja auch, dass es immer öfter passiert. Gerade die autistischen Politiker*innen, die jetzt mittlerweile offen darüber reden. Aber das war ja mit Sicherheit auch ein langer Prozess und so. Also da gibt es bestimmt einige. Aber ich kann durchaus verstehen, warum das nicht jeder unbedingt offenlegen möchte oder kann.
Raúl: Heute las ich, dass Robert Habeck eine Rechtschreibschwäche hat.
Jonas: Okay.
Katrin: Das ist eine anerkannte Behinderung in Belgien, glaube ich.
Jonas: Ich habe mir früher immer als Kind vorgestellt, im Sinne von Repräsentanz, habe ich mir als Kind immer häufig die Frage gestellt, warum diese Repräsentanz nicht komplett bis zu Ende gedacht wird. Also warum sind Landwirtschaftsminister*innen nicht Landwirte? Oder warum sind Leute, die in der Gesundheitspolitik arbeiten, alles Ärzt*innen? Oder warum sind Leute, die im Justizministerium arbeiten, nicht alle Jurist*innen? Dass es auf der einen Seite natürlich irgendwie ein Vorteil ist, im Thema drin zu sein. Aber dass, wenn man das ganze politische Konstrukt ja versteht und merkt, dass die Minister*innen ja auch in Anführungsstrichen nur die Personen auch sind, die die Entscheidungen kommunizieren und ein riesengroßer Apparat in jedem Ministerium dort nochmal im Hintergrund arbeitet, ist es dann mir doch irgendwann klarer geworden, dass es dann vielleicht doch nicht so auf Dauer sinnvoll ist, wenn man dann nur …
Raúl: Und beim Arbeitsministerium nur Arbeitslose oder wie?
Jonas: Ich glaube, also im Endeffekt, ich kann mir glaube ich schon vorstellen, dass es mal diese Erfahrung zu haben schon hilfreich ist. Ich meine, wir haben in unserer, glaube ich, ersten Podcast-Episode mal über Rollstuhlexperimente gesprochen und immer gefragt, okay, muss man diese Selbsterfahrung haben, um sich reinzufühlen? Und wir haben so ein bisschen gesagt, eigentlich nicht. Das geht ja auch irgendwie über Empathie und betroffenen Personen zuhören und auch sich, also ja, im Endeffekt eigentlich zuhören. Aber ja, häufig wird dann, wenn es um diese Erfahrung geht, dann ist es dann meistens so, Minister*in XY hilft einen Tag mal für zwei Stunden bei der Tafel aus.
Katrin: Nää, nää, sowas fand ich auch immer schwierig. Ich habe nie medial, ich sag mal, in irgendeiner Suppenküche ausgeholfen. Ich finde diese Bilder furchtbar. Als sozialpolitische Sprecherin im Stadtrat in Hannover, natürlich hast du dann deine, die Sozialverbände, die Selbstvertretungen, mit denen bist du ganz im engen Austausch und vieles, was ja dann auch nicht sichtbar ist. Also da machst du ja nicht immer irgendwie ein cooles Selfie und das… ich bin 2011 in die Politik gekommen, da gab es Facebook und da hat man ab und an mal ein Bild mit Quellenverweis irgendwie gepostet. So eine ganz andere Kommunikationsform so als heute. Und heute muss ich immer irgendwie, wenn da nicht eine Kamera und nicht irgendein cooles Insta-Live danach ist, dann habe ich politisch nicht gearbeitet. Aber natürlich bist du politisch aktiv, du machst ganz viel und es raubt sehr viel Zeit. Aber es ist dann auch nicht immer sichtbar und ich vergleiche das auch mit Diplomatie und ich bin ja auch im Außenausschuss im Europaparlament in letzter Legislatur gewesen. Du musst ja auch ganz viel hinter den Kulissen arbeiten und auch um Vertrauen herzustellen und dass es eben nicht immer sofort über Twitter läuft. Ja, was machst du denn den ganzen Tag?
Jonas: Ja, was machst du eigentlich den ganzen Tag?
Katrin: Das mache ich den ganzen Tag, Bahnfahren. Aber ich muss es nicht immer alles über Social Media ziehen, nur um zu zeigen, boah, jetzt bin ich aber eine Tolle. Sondern viel Politik passiert auch hinter den Kulissen, das finde ich auch wichtig. Nicht sichtbar sein heißt ja auch nicht immer, dass da nichts passiert oder dass du nichts machst.
Jonas: Hattest du Vorbilder?
Katrin: Politische Vorbilder mit Behinderung, Menschen mit Behinderung oder meinst du grundsätzlich? Ne, da gab es ja niemanden. Also es war ja klar, da war keiner. Also ich sage mal so Frauenpower mäßig war in meiner Kindheit das Ronja Räubertochter und Pippi Langstrumpf und danach war Ende, weil danach kam irgendwie nichts mehr. Und die fand ich cool und ich fand Ronja cool, Pippi Langstrumpf, ja, die war so die Starke, aber sie hat auch gefühlt jedes Jahr einen Geldkoffer von ihrem Vater bekommen. Und es ist dann auch irgendwo, ja, okay, ist eine Geschichte. Aber ich konnte mich eher mit Ronja identifizieren, die gesagt hat, ich ziehe jetzt in den Wald und ihr könnt mich mal. Aber damals gab es kein Internet und ich kam vom Dorf und ich war das einzige Mädchen mit Behinderung bei mir in der Schule. Und da war es irgendwie durchboxen und dass man nicht untergedügert wird. Aber da gab es halt niemanden, weil wir kein Internet hatten. Und für mich war, das sage ich auch und Raúl, du bist ja hier auch mit hier im Raume, wir sind so eine Generation, für mich war es das Internet und als ich dann Aktivistinnen wie Raúl kennengelernt habe, so und dass man dann auch mal sich austauscht und merkt, okay, das was du als Diskriminierung erfährst, kein anderer mit dir teilt, oh da sind aber gerade mal Menschen, die das mit Behinderung, die das genauso sehen. Also bist du gar nicht so gaga mit deinem Gefühl. Weil ja, stell dich nicht so an und das hat er nicht so gemeint. Man muss ja immer nett und freundlich sein. Und da hat das Internet, war das für mich ein Segen, Unsummen an Geld, die man dafür gelassen hat. Also es war ja mega teuer.
Raúl: Eine gute alte AOL-CD.
Katrin: Oh, Wahnsinn, ey. Und dieses Einwählen, dieses Düdüdüdü ins WLAN, furchtbar, wie so ein Tinnitus. Aber das war es damals. Und über all das, was heute selbstverständlich ist in der Selbstvertretung, war früher ein Makel. Also mach dich nicht zu laut, die anderen müssen ja auch mal was von dir lernen können, wo wir heute sagen, das ist ableistisch.
Raúl: Hat sich denn die Repräsentation im Parlament geändert? Also kennst du jetzt mehr behinderte Politiker*innen?
Katrin: Also wir sind im Europäischen Parlament, als ich 2019 einzog, waren wir sieben behinderte Menschen. Dann ist eine Person verstorben und jetzt in der zweiten Legislatur sind wir drei.
Raúl: Da waren es nur noch drei.
Katrin: Da waren es nur noch drei von 705 Abgeordneten. Ich weiß, manche sagen auch nicht sichtbare Behinderung, aber natürlich, du sprichst mit Kolleginnen, du sprichst mit den Verbänden, du sprichst ja, wir haben das European Disability Forum, das ist so was wie der Behindertenrat, glaube ich, kann man so ein bisschen gleichziehen auf EU-Ebene. Und man fragt rum und macht sich schlau und am Ende des Tages hörst du halt drei und davon ist ein Rollstuhlfahrer, ein Paralympion, Nik aus Ungarn, der Orbán-Partei. Kommen wir vielleicht auch noch mal dazu. Ja, jemand mit Behinderung muss nicht automatisch demokratische und menschenrechtliche Werte vertreten, also er ist massiv gegen Migration und ist Rassist. Und dann möchte ich mit ihm auch nicht kooperieren. Also ich kann nicht zum einen die Menschenrechtskonvention, UN-Behindertenrechtskonvention, hochhalten, aber wenn Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen, finde ich das irgendwie nicht so schlimm. Und das dürfen wir halt, also nur weil ich eine Frau in der Führungsposition habe, Alice Weidel, Meloni, ist es ja nicht automatisch geil.
Raúl: Ja, ich wollte gerade fragen, ob es da so eine Art Austausch gibt oder Netzwerk unter den behinderten Abgeordneten, Politiker*innen. Ich habe gehört, dass es in Deutschland so etwas gibt, zumindest in Ansätzen, aber ob das auf EU-Ebene auch existiert?
Katrin: Das sind so interfraktionelle Arbeitsgruppen. Wir haben einmal mit der Selbstvertretung und den Verbänden auf EU-Ebene und allen interessierten Kolleginnen und Abgeordneten, die zu dem Thema arbeiten, haben wir eine sogenannte Intergroup, nennt sich das. Die Veranstaltungen machen, wenn es aber auch um Gesetze geht, dass sie dann entsprechend Änderungsanträge… Das ist eine Lobbygruppe, das ist Lobbyismus, purer Lobbyismus. Und das ist ja auch nicht schlimm. Und ich gucke halt jetzt, wer sind meine Verbündeten? Wir sind jetzt als Grüne mit 52, 53 in der Grünenfraktion nicht so wahnsinnig viele. Natürlich muss ich gucken, wer ist aus den größeren Fraktionen da, mit wem kann ich kooperieren, mit wem kann ich zusammenarbeiten, wer ist dem Thema Menschenrechte, UN-Minderheitenrechtskonvention nahe. Und dadurch, dass wir nicht wie im Bundestag oder im Landtag klassische Koalitionsverträge haben, sondern du musst schon sehr intensiv selber klappern und ein Netzwerk aufbauen, ein klassisches Netzwerk. Und das mache ich. Und da kennt man mich im Parlament, ich habe schon auch eine Runde Erfahrung gesammelt. Aber jetzt haben wir wieder neue Leute und ich muss wieder neues Vertrauen aufbauen. Wer bist du? Was ist dein Hintergrund? Kannst du? Und dann werden Strategien entwickelt.
Raúl: Wenn ich mir EU-Politik vorstelle und das im Fernsehen sehe, da gibt es diesen großen Saal und das wirkt alles viel glamouröser, prunkhafter als der Deutsche Bundestag oder noch schlimmer der Deutsche Bundesrat. Das sieht alles so langweilig aus. Ist das auch so? Ist das was anderes, EU-Politik zu machen?
Katrin: Was finde ich das Tolle an der EU-Politik? Der Vorteil ist der Nachteil, der Nachteil ist der Vorteil. Man sieht uns nicht, also wir tauchen nicht in Talkshows auf, wir werden nicht eingeladen, das scheint nicht von Interesse zu sein, aber auf EU-Ebene werden die meisten Gesetze verabschiedet. Das merkt man dann so, Datenschutzgrundverordnung ist glaube ich so der Klassiker. Ich kann ja meine E-Mail-Adresse nicht mehr weitergeben, jetzt muss der unterschreiben, dass ich das darf. Merkt man ja später. Und an vielen Gesetzen und du kannst endlich mal in Ruhe deinen Job machen. Und ich kann mit unterschiedlichen Fraktionen kooperieren. Und ich muss sogar kooperieren, ich muss netzwerken, wir müssen Bündnisse schmieden und Verhandlungen. Und das ist klassische Büroarbeit. Brüssel fahre ich hin, ich bin im besten Fall Montagnachmittag in Brüssel und fahre Donnerstag nach Hause oder wie halt die Termine sind und ich mache da einfach meinen Job. So wie andere ins Büro gehen, gehe ich ins Parlament. Straßburg ist einmal im Monat, wir haben ja zweimal zwei Parlamente. Das finde ich absoluten Wahnsinn, aber…
Jonas: Ich hatte immer gehört, das ist der größte Wanderzirkus Europas.
Katrin: Der größte Schwachsinn. Aber Frankreich wird es niemals zulassen, dass dieses Parlament in Straßburg geschlossen wird. Also die Berliner Mauer ist gefallen, das Assad-Regime ist gestürzt worden, ich würde niemals nie sagen, aber ich glaube, solange ich so, vielleicht in den nächsten 10, 15 Jahren, wird es das noch weiter geben. Das haben wir an Corona gemerkt, wie groß der Druck war. Und wir pendeln. Und einmal im Monat ist Straßburg-Woche, da sind dann alle, das Parlament ist ein bisschen kleiner, puschliger und da werden die großen Abstimmungen laufen. Und das ist für mich glamouröser, das ist für mich europäischer. Da hast du auch mehr Drama, viel mehr Drama, vorm Parlament, im Parlament. Gesetze werden verabschiedet an einem Mittwoch und du hast Montag, Dienstag die Lobbyisten bei dir auf der Matte stehen. So, richtig, richtig krass. Also der größte Lobbyismus, den hast du in Brüssel und in Straßburg. Und es gibt gute und es gibt, sag ich mal, schlechte Lobbyisten. Und für mich ist es dann, und das ist dann auch eine Frage der Sichtbarkeit, wie beim Internet, also was wir hier machen, Europa-Diskussion, das würde ich mir dann auch mal Sonntag bei Miosga, oder wie sie jetzt alle heißen, auch mal wünschen, dass wir das nicht immer zu irgendeiner Europawahl haben, dass die Leute auch wissen, ey, was treibt ihr da eigentlich? Aber ich kann dann auch mal in Ruhe meinen Job machen, ohne dass, ich sag mal, es verhetzt wird. Die Möglichkeiten hat man vielleicht in Berlin vielleicht nicht so. Ich habe andere Zwänge.
Raúl: In Berlin gibt es ja Politiker*innen, deren Beruf es ist, in Fernsehstudios zu sitzen.
Katrin: Und die siehst du mehr in den Talkshows und die werden dauernd eingeladen. Und das ist bei uns so nicht. Deswegen, wir haben auch keine klassischen Wahlkreise. Das ist nicht so, klar, ich wohne in Hannover und das ist, wo ich halt verwurzelt bin. Aber wenn mich ein Verband aus Bayern einlädt zum Thema UN-Behindertenrechtskonvention oder du, Raúl, sagst mir, ey, komm mal vorbei, dann ist für mich Berlin oder Straubing oder Freiburg-West genauso mein Wahlkreis wie Hannover. Hat so sein Für und Wider. Du kannst aber halt auch nicht überall sein. Du kannst nicht thematisch an wichtigen Terminen teilnehmen und dann sagen, oh ja, du bist aber nicht mehr im Wahlkreis. Das schaffst du irgendwann nicht mehr. Du schaffst es logistisch auch einfach nicht mehr.
Jonas: Aber hast du das Gefühl, dass das Ansehen des Europaparlaments in den letzten Jahren etwas auch trotz alledem gestiegen ist? Also wenn ich mich daran zurückerinnere, so Anfang der Nullerjahre mit dem Europaparlament verbinde ich das dann, viele Politiker*innen dorthin, ja in Anführungsstrichen, weggelobt wurden oder ist dann gesagt, also okay.
Raúl: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa.
Jonas: Oder quasi das prägnanteste, worüber ja immer diskutiert wurde und was ja auch in dem Sinne, glaube ich, sogar eine falsche Erzählung ist, die Gurkenreform.Dass ja gesagt wurde hier, das Europaparlament legt fest, wie Salatgurken, wie die gekrümmt sein müssen. Und das stimmt aber gar nicht, dass im Endeffekt der Einzelhandel das selber für sich auferlegt hat, weil es für die irgendwie einfacher ist, dann die Gurken in Kisten zu packen. Ich hatte eben wie gesagt das Gefühl, dass es früher halt wirklich, ja komm, scheißegal. Und inzwischen, glaube ich, vielleicht auch, sage ich mal, durch die Corona-Pandemie oder durch die Art und Weise der Migration, die ja stattfindet, nochmal irgendwie ein größeres Bewusstsein dafür ist, dass man eine gemeinschaftliche Lösung irgendwie finden muss. Und da liegt ja eigentlich das Europaparlament auf der Hand.
Katrin: Ja, also es ist schon viel, viel besser geworden. Es ist schon viel, viel besser geworden, auch dahingehend, dass man junge Menschen ins Europaparlament schickt. Das ist am Ende des Tages immer in der Verantwortung von Parteien. Natürlich, wenn wir über Repräsentanz sprechen, von jungen Menschen oder von mehr Frauen. Ich habe die Quote angesprochen. Ich bin eine klassische Quotenfrau. Und das ist, was in den AGBs der Grünen drinsteht. Und auch die SPD hat eine Form der Quote. Am Ende des Tages, klar, musst du auch immer gucken, was du daraus machst. Und ich habe auch Menschen kommen und gehen sehen. Also eine Quote öffnet Türen, aber machen musst du selber. Und somit hat sich schon viel verändert, auch durch die digitale Welt, dass man viel sichtbarer ist und transparenter die Arbeit, die wir da machen. Schulen auch ein Interesse haben, auch nach den Europawahlen, und nicht nur mich am 5. Mai am Europatag einladen. Das ist schon mehr geworden, auch durch meine Arbeit. Ich habe eine sichtbare Behinderung, dann ist die Arbeit auch sichtbarer. Das ist so, wie die Leute auch ticken, wie Medien auch ticken, muss man klar sagen. Ich war in Syrien, ich habe Syrienpolitik gemacht, Staatsfolterprozess beobachtet. Das hat nie wirklich interessiert. Wenn ich sage, ich habe mein Abstimmungsgerät heute nicht bekommen im Parlament, ich kann nicht abstimmen. Skandal. Dann lief das über Twitter. Ich wollte Journalistin werden, man hat mir eine Werkstatt angeboten, der Tweet ging viral wie Bolle. So, jede Sau kannte mich. Das ist jetzt nicht Medienschelter, aber so tickt halt Kommunikation. Und das kann ich jetzt gut finden, das kann ich schlecht finden. Wie anfangs erwähnt, ich bin mit einem sozialpolitischen Profil in die Politik gekommen und dann 2019 ins Europaparlament. Das war so ein Klickmoment, den ich hatte. Und ich bin mit Armutspolitik ins Parlament gegangen. Wir als Abgeordnete haben, das ist ein großes Problem, wir haben kein Initiativrecht. Katrin kann kein Gesetz auf den Weg bringen. Ich bin immer von der Struktur her angewiesen, was die Kommission mir vorlegt. Aber wir können immer Berichte schreiben. Und diese Berichte werden nach Größe der Fraktion zugeteilt. Ich werde jetzt hier sehr, sehr theoretisch, weil das wichtig ist. Und wir Grüne hatten damals die Möglichkeit, die Berichterstattung für zwei wichtige Berichte zu bekommen. Da kannst du Themen setzen. Es war einmal der Bericht zum Thema Wohnen, Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit. Und einmal zum Thema, du schreibst einen Bericht über den Stand der Dinge, wie ist die Arbeitsmarktsituation von behinderten Menschen in der EU. Und ich habe sofort meinen Finger gehoben für das Thema Wohnen. Weil ich wollte, also, nee, Behinderung, ach komm, nee und so. Und das erste Dossier, zu dem du arbeitest, nennt man Dossier oder Bericht, so wirst du auch gesehen. Und das ist schon wichtig, was du da irgendwie in den ersten Wochen machen willst. Und ich habe mich da immer massiv mit Händen und Füßen gegen gewehrt. Also so wie Raul, du sagst, da ist ja ein Schäuble, der hat da ja nie was zu gemacht. Und ich habe mich da auch massiv gegen gewehrt. Nachher bin ich die. Das will ich halt nicht. Aber klar, man muss sich dann auch die Frage stellen, wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer. Und da war dann damals die Frage, wenn ich es nicht mache, wer kriegt dann den Zuschlag? Und das wäre die Fraktion, wo auch die AfD drin war. Die hätte den Bericht gekriegt zum Thema, wie ist die Situation für Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt. Und da habe ich gesagt, nee, also, wollt ihr das machen, mache ich. Und das übergebe ich nicht den Faschisten. Und ich hatte auch ein Gespräch mit, als ich kandidiert habe fürs Europaparlament, sagte mir auch, ich wurde auch meistens nur von Männern unterstützt, das war auch sehr interessant, die meine Kandidatur cool fanden. Es waren die Silberrücken, die das unterstützt haben, sage ich ja auch immer ganz klar im offenen Raum. Und da hat mir jemand gesagt, Katrin, nutze es als Chance. Du hast eine sichtbare Behinderung, nutze es. Also du hast ja die Macht und den Einfluss, Narrative zu setzen. Du kannst doch Wege gehen. Andere müssen sich profilieren. Die müssen erst mal in der Legislatur kämpfen, bis man überhaupt merkt, wer ist denn das überhaupt? So. Das war mein Vorteil. Nutze es als deinen Vorteil und dann kannst du loslaufen. Und jetzt so mittlerweile weiß man, ich mache was zu Syrien, das hat man jetzt begriffen. Ich mache was zu Menschenrechten, aber ich mache auch was zum Thema UN-BRK. Und ich habe es jetzt halbwegs so in der Hand, nach vielen, vielen Jahren. Auch was hast du erreicht, ist ja auch immer oft die Frage. Natürlich Gesetze im besten Fall auf den Weg bringen oder daran arbeiten. Aber auch eine Art von Sichtbarkeit, Fragen aufwerfen, nerven, stören, motivieren. Aber ich bin auch nicht so naiv zu glauben, also wenn ich jetzt hier drin bin und danach wird die UN-BRK auf allen Ebenen tippitoppi umgesetzt und Katrin hat es gerettet. Nein. Überhaupt nicht.
Karina: Du hattest vor kurzem mal in einem Interview mit Carolin Schmidt für die Neue Norm gesagt, dass alles relativ progressiv ist, aber du wartest mal die Wahl ab. Jetzt war ja die Wahl, die sah ja nicht so prickelnd aus. Und es ist ja nicht nur in Deutschland irgendwie, dass wir diesen Rechtsruck überall sehen. Wie ist das denn? Da wird ja immer als erstes irgendwie an Inklusion gekürzt beziehungsweise nicht mehr investiert. Was hat sich seit der Wahl entwickelt? Wie steht es mit der Progressivität?
Katrin: Wir sind kein progressives Parlament mehr. Wenn ich Nazis wähle oder wenn ich Rechtsaußen wähle, kriege ich Rechtsaußen im Parlament und kriege eine Mehrheit. Also ein Kreuzchen machen, zur Wahl gehen, sage ich immer wieder, mag jetzt vielleicht individuell nicht so das persönliche Highlight an einem Sonntag sein, in der zugigen Wahlkabine zu sitzen, um Kreuz zu machen, aber es steht und fällt. Und dann haben wir Mehrheiten. Und demonstrieren ist wichtig, auf die Barrikaden gehen ist wichtig, auf Social Media teilen ist wichtig, aber am Ende des Tages steht und fällt das ist mit der Wahlurne. Du musst deine Stimme abgeben. Und wir sind, das hatte ich ja erwähnt, weniger behinderte Abgeordnete. Das ganze Thema Frauenrechte, das war ja kurz vor der Wahl die Gewaltschutzrichtlinie, die wir verabschiedet haben, die wir auch mit der Faust in der Tasche verabschiedet haben. Wir haben auch ganz viel verabschiedet, weil wir wussten, danach wird es nicht geiler. Es wird eher schlechter. So, und dann ist es auch zu sagen, da ist Punkt A und B nicht drin, aber besser als gar nichts. So Spatz in der Hand und Taube auf dem Dach und so. Und somit ist die Lage schwieriger, aber das sehen wir, hatten wir jetzt am Wochenende, Zuckerberg, also diese ganzen Woken-Themen brauchen wir nicht mehr. Inklusion brauchen wir auch nicht mehr. Und das ist alles woke. Also was wir noch unter Menschenrechte oder Empathie oder Grundgesetz so verstanden haben, ist heute woker Scheiß. Und natürlich, das wird hier nicht leichter. Das wissen wir. Und nicht jeder Mensch mit Behinderung im Parlament ist automatisch ein demokratischer Verbündeter. So, das ist der Kollege aus Ungarn. Und da muss man gucken, Repräsentanz. Ja, da ist jetzt eine Person mit Behinderung, die da den Finger hebt. Ich für mich aber meine politische Grenze ziehe und sage, wir haben ja auch behinderte Menschen, die die AfD wählen, die da Mitglied sind, also seien wir nicht naiv. Und wir haben auch das Wording, naja, also wenn wir die Migranten nicht hätten, dann würde es uns ja viel besser gehen. Was ja viele glauben. Dann wäre das Geld, dann hätte ich plötzlich Geld vom Staat für meinen Rollstuhl. Also wenn die Migranten weg sind, ist ja alles super. Und das spielen die Rechten. Und da muss man auch gut selber gucken. Aber das ist für mich dann meine Grenze, wo ich sage, ich kann nicht eine Menschenrechtskonvention, die eine hochhalten und die andere irgendwie, ja, ist egal. Das ist für mich, wir haben auch eine fraktionelle Beschlusslage. Wir haben auch im Parlament ein Agreement, dass es für mich Personen gibt, die grüße ich auf dem Gang und fertig. Und wenn die blind im Rollstuhl sitzen, sorry, ist für mich eine menschenrechtliche, persönliche Grenze. Und das müssen nicht alle so sehen, ist so mein Verfahren.
Raúl: Da hätte ich tatsächlich eine, ja, ein bisschen provokative Frage. Ich beobachte halt in den Medien allgemein, dass dann eben auch sehr gerne sich empört wird über die Rechten. Und dadurch reproduziert man ja letztendlich auch diese, ja, Narrative. Auch wenn man das Gegenteil sagt. Und jetzt auch in diesem Podcast haben wir sehr viel Raum genommen über die fehlende Progressivität, die Rückschritte. Wir reproduzieren fast schon negative, wir nennen Parteinamen, die problematisch sind und haben Zuckerberg und Co. genannt. Was mir manchmal so ein bisschen fehlt, ist die Perspektive. Also Hoffnung oder Ideen, was kann man machen, weil dass es so nicht weitergeht, ist, glaube ich, zumindest unter uns vier, ein Konsens.
Katrin: Das stimmt. Also ich sage mal, wenn ich nicht Optimistin wäre, dann hätte ich ja auch nicht kandidiert. Wenn ich sage, das ist alles hoffnungslos und sinnlos, dann würde ich mir das hier nicht jede Woche antun. So, es macht Spaß und ich sehe, du wirst nicht immer den großen Wurf, aber manchmal hast du auch die kleinen Würfe. Und die finde ich genauso wichtig. Und das lasse ich mir auch dann, was heißt nicht kleinreden, aber auch das sind Erfolge. Wir fangen jetzt an, die Kommission ist gewählt, wir haben jetzt so die Leute, wir fangen jetzt, erst jetzt haben wir die Möglichkeit, anfangen zu arbeiten. Wir haben eine neue Repräsentanz im Rat. Wichtig ist, dass jetzt auch umgesetzt wird, was wir auf EU-Ebene beschlossen haben. Das hört ja nicht auf, also die Gewaltschutzrichtlinien, dann haben wir den EU-Schwerbehindertenausweis, den man jetzt gut oder schlecht, aber wir haben ihn. Das haben wir und ich sehe, was ist der Vorteil? Die UN-Behindertenrechtskonvention ist nicht parteipolitisch gebunden. Es ist ein Menschenrechtsthema, ich finde aber im Parlament, und das ist wieder das Gute, am Ende des Tages viele Verbündete.Es ist nicht typisch konservativ, es ist nicht typisch liberal, es ist nicht typisch grün oder es ist nicht typisch linksaußen oder rechtsaußen, sondern, das merke ich, wir reden über 100 Millionen behinderte Menschen in der EU. Und das ist die Möglichkeit, die ich habe. Und was das Gute ist, dadurch, dass es nicht parteipolitisch verbrannt ist oder geframed oder gesetzt ist, habe ich über diese Menschenrechtsschiene Möglichkeiten, Strategien, voranzukommen. Dass das nicht alles über Nacht passiert und wir haben keinen Staat, ich würde mal sagen, weltweit, wo die UN-BRK zu 100% Töfte umgesetzt wird. Das haben wir nicht. Wir haben auch, also in der EU, bleiben wir in der EU, nicht das europäische Musterländle. Im Prinzip haben wir da alle, sind wir nicht dolle. Manche machen es in dem Bereich gut, manche machen es im anderen Bereich gut, aber wir haben nicht den perfekten Staat. Ich glaube, EU-weit ist es, kann man auch skandinavisch nennen, Island ist noch richtig cool, kein EU-Mitglied, aber die sind noch okay.
Jonas: Aber die haben tolle Vulkane.
Katrin: Die haben ja weder Vulkane, ja, die haben Vulkane.
Raúl: Aber ist das vielleicht auch so eine deutsche Krankheit, dass wir immer alles so schlecht reden und immer sagen, in anderen Ländern ist es besser und wenn du jetzt sagst, nicht unbedingt?
Katrin: Nicht unbedingt. Wir haben ja auch in Deutschland, ich reise ja durch viele, was machst du den ganzen Tag? Ich fahre jetzt Donnerstag, Freitag in die Niederlande und spreche da mit Vertretern, Aktivistinnen mit Behinderung, aber auch mit Ministern. Und das ist so meine Tour. Und ich war in Ungarn, nach Corona war meine erste Reise nach Budapest. Ich war in Polen, da sind wir, Tschechien, wenn wir über persönliche Assistenz reden, sind wir noch Kilometer weit von entfernt von der 24/7-Assistenz. In Deutschland ist es für Menschen auch nicht leicht, aber wir haben die 24/7. Also wir haben es, ich sag mal theoretisch, wir haben das Konstrukt und es ist gesetzlich und gedanklich und in der Gesellschaft nicht mehr so weit entfernt, dass man das hat, 24/7-Assistenz, als in Tschechien. Wir haben halbwegs rollstuhlgerechte Schulen, Transportmittel. Es ist nicht alles geil, natürlich nicht. Aber wenn wir den europäischen Vergleich setzen, ich habe das Wahlrecht, dass ich nicht immer in die Wahlkabine komme, okay, aber ich habe per Gesetz das Wahlrecht, ich darf wählen. Wir haben ein soziales Netz, es ist nicht wirklich weit weg entfernt von perfekt, aber wir haben ein soziales Netz. Das hast du in Rumänien, in Bulgarien, wo sie aus Armut ihre Kinder mit Behinderung in Heime bringen und dann möchtest du in diese Heime nicht gucken, da ist es richtig mies. Vielleicht kann man sagen, da wo die Sozialstandards relativ hoch sind, skandinavische Länder, das Bildungssystem ist relativ gut, profitieren auch behinderte Menschen davon. Da wo sowieso schon relativ viel Armut ist oder es sehr prekär ist, da fallen auch behinderte Menschen runter, dass es eben keinen Wohnraum für dich gibt, dass es nur Heime gibt. Und das ist halt, wo man sagen kann, wir haben nicht den perfekten Staat. Das haben wir, ich sage mal im Bereich Arbeit, würde ich jedem raten mal nach Spanien zu gucken, da ist eine andere Politik, aber auch ein ganz anderes gesellschaftliches Denken. Also dieses satt, sauber, trocken und die müssen versorgt werden, in Werkstätten ohne Mindestlohn ist in Spanien nicht so, deswegen würde ich eigentlich immer Leuten anraten zu sagen, geht mal nach Spanien oder in die Steiermark in Österreich, ist ja nicht ganz so weit. Niederlande ist ein Fahrradland, ist dann einfacher auch für Rollstuhlfahrer, klar, wenn es da so ein bisschen besser ist. Somit musst du immer gucken, welchen Lebensbereich betrifft es.
Jonas: Aber wenn du jetzt gesagt hast, dass das jetzt, gerade auch mit dem Blick auf andere Länder aus der deutschen Perspektive, es nicht unbedingt in anderen Ländern besser ist, sondern vielleicht gleich schlecht oder gleich nicht gut. Karina, du hast dich aus journalistischer Perspektive noch mal extrem oder mehr mit der UN-Behindertenrechtskonvention auseinandergesetzt. Würdest du dem beipflichten oder würdest du sagen, nee, da ist die Rügen, die Deutschland bekommen hat, sind schon zu Recht?
Karina: Ich fand ehrlicherweise die Staatenprüfung einfach nur frustrierend. Also hauptsächlich, ich weiß nicht, Katrin, das kannst du ja gleich noch, du warst glaube ich ja sogar dabei irgendwie, aber ich habe mir die erste Prüfung durchgelesen, also die ganzen Verbesserungsvorschläge und dann die zweite und da ist ja eigentlich nichts passiert wirklich. Zumindest nicht, dass man das irgendwie aus dem Dokument entnehmen konnte. Teilweise sind Sachen ja sogar noch schlechter geworden, wie mehr stationäre Einrichtungen, mehr Werkstätten oder zumindest mehr Plätze in Werkstätten und so. Obwohl es ja immer von vornherein hieß, Werkstätten, stationäre Einrichtungen verstoßen gegen Menschenrechte und irgendwie, es passiert trotzdem halt einfach nichts.
Katrin: Nein, ich habe mir das in Genf angeguckt und ich werde, nee, dieses Jahr ist es ja schon, ich bin nur hier, auch nach Genf fahren und da wird ja die EU, da ist ja die Prüfung der EU-Kommission, also was haben sie getan und das werde ich mir auch angucken. Österreich, Belgien, belgisches Schulsystem ist fast noch viel, viel schlimmer, wenn ich mit Eltern behinderter Kinder in Belgien spreche, die im Parlament arbeiten, Katastrophe, ja, Katastrophe und das progressive, die Schritte kannst du dir auch, ja, da passiert nichts nach vorne. Wir reden halt auch über einen großen Machtverlust, wir reden ja nicht nur über das daran so festgehalten, wir reden über unheimlich viel Geld, wir reden über Einfluss, wir reden über, also nicht umsonst sind diejenigen, die an dem System festhalten, ja so aggressiv, wenn du da nur laut zu atmest. Und als ich angefangen habe, das zu kritisieren, was sind so die Erfolge, merke ich in meinem Kreis aber, dass man wenigstens schon mehr darüber berichtet, als vielleicht noch, ich weiß nicht, wie es euch geht, als vor zehn Jahren, ist mein Gefühl, ne, also ist so ein bisschen, was ich so wahrnehme, da war man vor über zehn Jahren noch weit von entfernt und ich sage aber, die Kritik ist nicht neu, sie ist vielleicht nur lauter, aggressiver. Ich bin in einer Machtposition, wo man mir jetzt eher zuhört und ich Möglichkeiten habe, so was hast du verändert, was hast du bewegt, so und manchmal ist es auch das, aber so geht es der Frauenbewegung ja auch, mein Gott, wir waren doch schon mal weiter und jetzt erzählen sie uns wieder, wie toll es zu Hause ist und besser dem Mann das Süppchen zu kochen gestylt und hat zwei Millionen Follower, so Trad Wives, wo du dich fragst, wo kommt ihr jetzt her, ja. Also wir haben ja ein Rollback von Errungenschaften, weil es ganz klar, und das merken wir auch im Parlament, die haben echt Schiss vor diesem Wandel, die haben Schiss, dass ihre Privilegien sie hergeben müssen, Verbrenner aus, Untergang des Abendlandes, ja, die kämpfen, über Lobbyismus habe ich gesprochen, wenn wir Abstimmungen haben in Straßburg im Parlament, wie massiv, wie massiv man angegangen wird und Untergang des Abendlandes, es werden Unwahrheiten verbreitet. Also das haben wir ja nicht nur bei der UN-BRK, sondern, boah, hier kann echt was passieren, was mein Privileg angreift, so, wenn es um Klimawandel geht, wenn es um Frauenrechte geht, wenn es um Rechte von behinderten Menschen geht und um Deutungshoheit und das merkt man jeden Tag, so.
Raúl: Du hast vorhin gesagt, dass in anderen Ländern das Mindset ein anderes ist, ein anderes Denken.
Katrin: In Spanien habe ich es gesagt, in Spanien.
Raúl: Genau, jetzt kann man aber so ein Mindset ja auch nicht verordnen.
Katrin: Nein, das, ich kann nur die, wo ist es besser oder wo ist es anders und dann habe ich immer, weil ich ja dann auch gefragt werde, so, wie sollen wir das denn machen, so, ich sage, geht mal nach Spanien, guckt euch an, wie da eine Gesellschaft mit behinderten Menschen umgeht, wenn es um Thema Arbeit geht. Ich schicke die da auch hin und ich, oder ich sage, geht nach Österreich, in die Steiermark, was macht die EU, die hat sowas auch gefördert, was treibt die EU eigentlich den ganzen Tag und wo fließen unsere Gelder hin? Auch da fließen Gelder hin, dann geht da hin und schaut euch das an. Ich bin, was ich ja meinte, nicht naiv, wenn ich da jetzt auftauche, ist es übermorgen, sagen die, oh mein Gott, wir wussten es nicht und jetzt wird sich eine Gesellschaft ändern. Natürlich nicht, ich werde immer nur gewisse Mosaiksteinchen verändern können, also so mächtig und einflussreich bin ich nicht, das sollen andere beurteilen.
Raúl: Und wo nimmst du dann diese Geduld her?
Katrin: Ich fühle mich schon unheimlich, wo nehme ich die Kraft und die Geduld her? Also politisch und menschlich oder persönlich, hätte man mir vor 30 Jahren gesagt, du gehst ins Europaparlament, da war so mein, ja, geh in die Einrichtung und das ist das Beste, was dir passieren kann. Und das war ein langer, harter Weg und ich bin erst mit 30 in die Kommunalpolitik gekommen, mit 40 ins Europaparlament, wo ich dann ja auch ernsthaft von dem Geld leben konnte. Also jetzt habe ich ja auch, ich bin sehr, sehr privilegiert, das ist jetzt hier eine Luxuslage, in der ich mich befinde, aber ich merke aber und merke ich, also macht ihr ja auch als Team der Sozialhelden, das ist immer Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Wir werden ja schon sehr, sehr gut und sehr, auch wenn es so viel Kraft kostet, wahrgenommen, man muss ja nicht immer alles toll finden, was Raul macht, was ich mache, aber schon so, dass man ja steter Tropfen, dass wir auf dem Deich laufen gegen Wind und du läufst und läufst und läufst und läufst und wenn du stehen bleibst, dann läuft eben nichts mehr. Und natürlich ist man auch gefrustet. Als wir im Team mit dem Thema gehen wir mit dem Thema Behindertenpolitik schwerpunktmäßig in die Arbeit und das war am Anfang, es hat uns kein Schwein zugehört und dann kam noch Corona und dann sitzt du da, du hast kein Netzwerk und es hört ja eigentlich keiner zu. Und natürlich sitzt du da manchmal und denkst, komm, wir lassen jetzt, machen wir irgendwas mit, was noch halbwegs irgendwie bekannt ist und dann leave it, ja, wenn du auch mal ein cooles Thema hast. Aber wir sind immer weitergelaufen und das kostet verdammt viel Kraft und Energie, aber es sind die kleinen Dinge, wenn man denn Post kriegt von Menschen, behinderten Menschen, die sagen, das ist jetzt eine Art von Role Model oder ich finde gut, was du hier gesagt hast und da getan hast. Das ist für mich genauso viel wert, als hätte ich einen Erfolg mit einem Bericht oder mit einem Gesetz. Das zählt für mich genauso, weil ich auch weiß, da sitzen die nächste Generation an behinderten jungen Menschen, die genau da sitzen und sagen, was mache ich mal, was kann ich machen und wenn ich es schaffe, dass jemandem erzählt wird, naja, du kannst nicht selbstständig eine Flasche Milch kaufen, du kannst es nicht, du kannst es nicht und die Person kriege ich vielleicht über meine Arbeit motiviert, das zu hinterfragen und die zieht sich irgendwann die Jacke an und geht zum Supermarkt und scheitert vielleicht beim ersten Mal, beim zweiten Mal, beim dritten Mal, beim vierten Mal, schafft sie es selbstständig einen Einkauf zu erledigen. Und wenn ich das geschafft habe, das muss nicht immer das große politische Ding sein, so anmaßen muss nicht jeder muss jetzt irgendwie Europaabgeordnete werden, wenn es jemand möchte, gerne, aber es ist ja nicht Pflicht. Aber wenn ich durch meine Arbeit es schaffe, auch Eltern, die sagen, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, ja, manchmal bist du da auch Ratgeberin, Psychologe, aber auch Gesetzesinitiatoren.
Jonas: Weil du eben häufig auch Privilegien angesprochen hast, ich finde das auch nochmal wichtig in dem Sinne zu erwähnen, dass gerade populistische Parteien ja immer suggerieren, dass sie für die Leute, die unterdrückt sind, die quasi mal den da oben ist, zeigen wollen, dass die dafür da sind. Aber es ja unterschiedliche Privilegien gibt, weil es gibt ja auch unterschiedliche Vielfaltsdimensionen. Vielfaltsdimensionen in dem Sinne, die ja vom AGG, vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, der auch geschützt sind vor Diskriminierung, also Behinderung gehört dazu, Alter gehört dazu, Hautfarbe, Herkunft gehört dazu, Geschlechtsidentität gehört dazu. Und dass ja jede Person in diesem Rahmen auf der einen Seite vielleicht Diskriminierungserfahrung hat und auf der anderen Seite vielleicht auch sehr privilegiert ist. Also quasi ich als Mensch mit Behinderung werde aufgrund meiner Behinderung diskriminiert, bin aber ein weißer, heterosexueller Mann und bin dadurch eben privilegiert. Und dass diese Parteien aber eigentlich die Leute mit ihren Privilegien stärken und dadurch die Schere immer weiter auseinander geht und dann andere Dimensionen eben unterfallen. Also so wie du eben auch gesagt hast, dass dann quasi ja Menschen mit Behinderung dann gegen Migration sind, weil sie den Fokus auf ihr eigenes Privileg haben, dass sie vielleicht aus dem Land sind, in dem sie wohnen.
Katrin: Genau und dass sie dafür benutzt werden. Und was kann man, dass man nicht immer auf andere guckt, sondern klar als demokratische Partei wir selber, also keine Narrative von den Far-Right übernehmen, ist immer so der Klassiker, aber natürlich, wie schaffen wir es und das Mindset “Änderst du nicht über Nacht” zu schaffen, oh ich mach mich mal auf den Weg und es bleibt nicht aus, dass ich scheitere, aber ich mach mich auf den Weg und engagiere mich in einer NGO, in einer Partei. Ich probiere aus und ich schaffe es dann in ein Parlament zu kommen, sei es das Kommunale oder sei es der Bundestag. Die Gründe dafür, warum wir so wenige sind, behinderte Menschen in dem Fall oder Migranten oder Arbeiterkinder oder Leute, die halt keinen Akademiker-Hintergrund haben. Ich glaube, ich hatte eher ein Diskriminierungsgefühl aufgrund meines fehlenden Akademiker-Hintergrunds. Ich mache das mal als Beispiel. Die Grünen sind ja jetzt keine Arbeiterpartei, das ist ja jetzt kein Geheimnis, sondern es sind sehr viele Akademikerinnen in der Partei. Wir haben ja auch uns da mal sehr in Klausur gesetzt und gesagt, wo sind eigentlich die Leute, die wir ansprechen und warum sind die da nicht die Selbstvertretung? Wir sind eine Akademiker-Partei mit Studierten und natürlich hat man mich das eher, also ich habe es eher gemerkt, dass mir gespiegelt wurde, naja, das weißt du ja dann nicht oder dass ich mich outen musste, dass ich etwas nicht wusste. Der Klassiker war immer bei mir der Begriff Narrativ. Ich wusste nicht, was der Begriff Narrativ bedeutet. Und das wurde immer ganz oft so genannt. Ja, Narrativ, wir müssen Narrative ändern. Ich bin dann nachher nach Hause, ich habe mir Begriffe aufgeschrieben, habe sie nachher im Duden nachgeschlagen, weil ich es nicht wusste, weil ich aus diesem Sprachduktus nicht komme. Und das schreckt natürlich auch Menschen ab, wenn ich merke, ich bin in einem Raum, das können Menschen mit Behinderung sein, aber vielleicht ein Professor mit Behinderung, der mir klar verbal zu verstehen gibt, also du bist jetzt hier nicht gerade mein Intellektueller, du gehörst hier nicht rein. Dann kann ich auch diskriminieren. Und das hatte ich eher so und das merke ich immer wieder, dass mir halt ein Teil von Bildung fehlt. Ich habe viel nachgeholt, ich habe andere Sachen gemacht und meinen Nachteil habe ich immer versucht als Vorteil oder als Gewinn zu nutzen. Also ich habe nicht Völkerrecht studiert. Ich merke, dass in der Europafraktion sind wir alle mit einem abgeschlossenen Studium. Ich nicht. Dann mache ich was anderes. Aber ich habe mittlerweile das Selbstbewusstsein, das einzuordnen. Aber das war eigentlich eher, oder ist noch heute, dass ich das merke, dass ich sprachlich oder von meinem Bildungshintergrund da Defizite habe, ganz klar. So ist meine Biografie.
Raúl: Was wäre denn dein Rat für Menschen mit Behinderung, die sich auch politisch engagieren wollen?
Katrin: Also ich sage, wir sind ja nun nicht so wenige. Natürlich ansprechen. Es ist noch ein Unterschied, ob ich aus Berlin komme und noch einen ÖPNV vor der Nase habe, der halbwegs funktioniert. Oder bin ich auf einem platten Land, irgendwo in Brandenburg oder in Niedersachsen, in der Wesermarsch und der Bus fährt nur einmal irgendwie morgens und sonst komme ich nicht zu den Parteiveranstaltungen. Und ja, einen langen Atem haben für Politik brauchst du einen langen Atem. Und ich weiß, wenn du natürlich schon Diskriminierung erfahren hast, bist du jetzt nicht geil, ehrenamtlich noch Diskriminierung zu erfahren. So, da brauchst du echt einen starken Rücken. Was eine Partei tun kann, das kann ich denen dann aufzählen. Digitale Angebote machen, natürlich Ansprechpersonen für Vielfalt anzubieten. Also wie generiere ich neue Mitglieder? Nur um Beispiele zu nennen. Aber natürlich, wir reden auch über Machtstrukturen und Macht wird dir nicht geschenkt. Macht kommt von machen. Das geht uns Frauen, sag ich mal, nicht mit Behinderung, egal mit oder ohne Behinderung, ja auch so. Da steht niemand von den Männern in der höheren Etage und sagt, oh ja, bitte nach ihnen. So, Macht wird verteilt und Macht musst du dir nehmen. Also es wird dir, Macht und Einfluss wird nicht im Ausschuss vergeben. Macht und Einfluss, ich bin, hab ich ja anfangs gesagt, ich bin immer in den Wirtschaftsausschuss gegangen und dann hatten wir im Wirtschaftsausschuss auch Reisen. Und im Wirtschaftsausschuss waren es meistens Männer. Im Umweltausschuss war ich damals die einzige weibliche Abgeordnete unter nur weißen Männern. Und ich habe dann viele Tipps eher von weißen Männern bekommen und die haben gesagt, du musst dich durchsetzen. Ich habe auch mal Männer im Ausschuss angeschrien. Ich hab denen auch gesagt, jetzt halten sie ihre Klappe, ich leite die Sitzung. Und dann waren aber auch die Fälle verteilt und die, wer der Chef im Raum ist, war klar. Das muss einem klar sein. Ja, dann bin ich diskriminiert worden, dann waren die nicht nett zu mir. Sorry, das kann mir beim Selbsthilfeverein passieren, das kann mir in der Schule, das passiert mir überall, wo Menschen sind. Egal wo. Ich glaube, der Unterschied ist nochmal mit Politik, dass es auf offener Bühne passieren kann. Also du willst kandidieren, die Presse ist da, das ist eine Mitgliederversammlung, du kandidierst, du wirst abgewatscht, gehst nur mit drei Stimmen raus, morgen steht’s im Heidelberger hinkenden Boten. Oder auf dem großen Parteitag in Wiesbaden. Vor laufenden Kameras wird dir gesagt, wir wollen dich nicht. Das passiert aber auch einem weißen Mann, der kandidiert. So, und dann ist die Frage, wenn ich das will, brauche ich Biss. Sorry, auch das gehört dazu. Es wird dir, du kriegst nichts geschenkt.
Raúl: Schade.
Katrin: Nee. Willkommen in der Realität.
Jonas: Beim Thema Macht muss ich unweigerlich irgendwie an die USA denken. Karina, du hast einige Zeit in den USA gelebt. War das für dich das, aus Behindertenperspektive, das Land unbegrenzter Möglichkeiten?
Karina: Also ich habe in Kalifornien gelebt, was ja nochmal irgendwie so eine eigene kleine Bubble ist, da ist die Welt noch in Ordnung, zum Großteil zumindest, was Diversität angeht und Inklusion und Rechte und so. Der Rest, also das kommt, ich meine, die USA ist so riesig, das kommt halt völlig drauf an, in welchem Staat man ist. Aber ich würde schon sagen, so die ADA, also der Americans with Disabilities Act, war, glaube ich, für viele andere Länder ein Vorreiter, so was Barrierefreiheit und so angeht. Ja, also ich meine, ich habe ja auch das Privileg noch, dass ich nur begrenzte Barrierefreiheit brauche jetzt im Moment so, deswegen weiß ich auch nicht, ob ich da wirklich gut genug hingeguckt habe. Das Einzige, was ich noch gut in Erinnerung habe, ist, dass die U-Bahnen ganz selten Aufzüge hatten, also die hatten schon Aufzüge, aber die waren halt immer kaputt, hauptsächlich, weil irgendjemand die in Brand gesteckt hat und so. Also das Problem hatten die da auch, Großstadt eben. Aber so generell, die Restaurants, die Cafés und so, die waren eigentlich zu größten Teilen barrierefrei und selbst wenn sie irgendwie mal keine Rampe hatten, wenn du gefragt hast, haben die immer eine Rampe rausgelegt. Also das war, ich hatte schon das Gefühl, dass es da irgendwie mehr ist, aber auch wieder, das war San Francisco. Ich habe eigentlich nur Großstädte gesehen und war nur auch in den demokratischen Großstädten, deswegen ich habe keinen blassen Schimmer, wie das in den Staaten ist, die halt super republikanisch sind. Ich denke, also nicht so, dass die sich so viel um Inklusion kümmern. Aber das weiß Katrin vielleicht auch.
Jonas: Aber habt ihr Sorge, also habt ihr Sorge, dass jetzt, wo Donald Trump zum zweiten Mal Präsident der Vereinigten Staaten ist, dass sich dort hinlänglich Inklusion etwas ändern wird oder ist das so in der Haltung der US-Amerikaner*innen verankert, dass man sagt, ja, das ist vollkommen egal, wer da jetzt Präsident*in ist?
Katrin: Naja, es ist ja schon ein starker, was wir ja gesagt haben, anfangs auch, dass Minorities, Menschen mit Migrationsgeschichte, brauchen wir diese Selbstvertretung noch oder ist es einfach nur aufgedrückt und jetzt muss ich da aber eine Diversitätsquote haben, das ist total blöd. Was vor ein paar Jahren noch akzeptiert war, wurde jetzt auch aus Angst, ich habe am Wochenende gesagt, Zuckerberg, zieht den Schwanz ein, weil jetzt halt da ein Präsident an die Macht kommt, der gelernt hat und es nicht mit Menschenrechten hat, sei es Geflüchtete oder sei es die Rechte von Menschen mit Behinderung. Die Sprache ist mega ableistisch, diskriminierend, das wird ja nicht weniger. Also wir müssen uns hier schon sehr warm anziehen und da nicht naiv sein, aber nichtsdestotrotz muss uns auch klar sein, wir haben auch viele Menschen, die eben nicht so drauf sind. Und da müssen wir uns mehr und mehr zusammentun, auch die behinderten Menschen. Ich sage das auch immer sehr offen und sehr transparent, wir sind ja auch nicht immer alle nett und verständnisvoll miteinander. Bevor ich immer schaue, wie werde ich von nichtbehinderten Menschen diskriminiert, sondern auch was passiert innerhalb der eigenen Bubble. Das Schwarze nicht unterm Nagel gönnen, wenn das nicht da ist, so kann ich nicht arbeiten, ich reise ab. Also das ist ja auch nicht immer ganz einfach innerhalb der sogenannten Community. Und deswegen, bevor ich mal weit in die USA gucke, kann man auch mal in seinem eigenen Kreis schauen, wie da Solidarität, Verständnis, Teilen von Macht, von Möglichkeiten, wie weit es da ist. Und das ist leider nicht so wahnsinnig weit, das muss man auch selbstkritisch mal so sagen. Muss nicht alles toll finden, was ich mache, aber manchmal dann so denke, ey Leute, das jetzt damit steht und fällt meiner Arbeit, sorry. Also einmal falsch gehustet und so die wenigen, die es dann irgendwie schaffen, das ist dann auch nicht recht. Soll nicht beleidigt rüberkommen, aber ja, wir müssen eigentlich noch solidarischer miteinander stehen. Das unterscheidet uns glaube ich auch sehr, ich werfe die Frage mal in den Raum, von der queeren Community. Die finden sich ja auch untereinander nicht geil. Aber das passiert hinter den Kulissen. Die finden sich ja in Räumen verhackstücken, wie man lustig ist. Aber auf der Straße sind sie dann beim CSD alle da. Und das würde ich mir auch mal wünschen, dass man das mal gebacken kriegt, eine gemeinsame Sichtbarkeit zu schaffen und nicht nur mit drei Leuten irgendwo sind.
Raúl: Wo geht denn für dich die Arbeit weiter? Also natürlich, wir haben jetzt demnächst Bundestagswahl, das tangiert ja das EU-Parlament ja nicht so. Und du bist jetzt noch im EU-Parlament, planst du weiter zu kandidieren oder hast du eine Idee für danach? Was sind deine nächsten Pläne?
Katrin: Jetzt haben wir ja erstmal angefangen. Also ich möchte natürlich im Parlament für eine Deinstitutionalisierungsstrategie, also dass wir endlich weiterkommen, in einem auslaufen lassen, von Einrichtungen weiter vorankommen. Dass der EU-Behindertenausweis, jetzt reden wir immer nur so über die parlamentarische Arbeit, dass das umgesetzt wird, weiterentwickelt wird. Kommt natürlich auch immer auf die Kommission an, was sie einem vorlegen wird. Ob wir mal eine Barrierefreiheitsagentur bekommen, dass wir eine bessere Form der parlamentarischen Sichtbarkeit der Arbeit auf die Beine stellen, dass wir endlich Vergewaltigung als Straftatbestand auch bei behinderten Frauen EU-weit etabliert bekommen. Das sind jetzt so die Kämpfe, die wir weiterführen müssen. Das Ganze geht jetzt 5 Jahre oder jetzt sagen wir 4 ½. Solange ich die Kraft habe und solange ich Bock habe, mache ich weiter. Aber ich kann mir auch genauso gut vorstellen zu sagen, ich gehe nach Deutschland, ich mache ganz was anderes. Ich bin da auch nicht ängstlich. Manche kleben ja Lichtjahre an ihrem Stuhl, weil sie Sorge haben, dass sie nicht mehr gesehen werden. Ich bin mit 30 in die Politik gegangen. Vor 30 hatte ich ein Leben und ich werde auch nach einem Parlament ein Leben haben. Ich werde irgendwie immer was machen. Wichtig ist, es muss Spaß machen. Sonst hilft kein Geld der Welt. Das nützt ja das dickste Bankkonto, wenn es einfach nur Kraft zieht. Aber jetzt konzentriere ich mich erstmal auf die Arbeit im Parlament und reise noch in alle möglichen Länder und treffe Leute. Und das werde ich auf jeden Fall weitermachen. Rumänien ist auf meiner Liste, da fahre ich im Oktober hin. Bulgarien, skandinavische Länder. Ich würde gerne mal nach Island, das ist kein EU-Mitglied. Aber was die da so toll machen, Neuseeland soll ja angeblich auch sehr toll sein, wenn es um die UN-BRK geht. Das braucht man auch, dass man sich austauscht und sich kennenlernt. Manchmal ist es auch so, man kann ja nicht immer im Kampfmodus sein. Das halte ich auch mental für sehr, sehr ungesund. Deswegen mache ich ja auch ganz andere Themen, ganz andere Dinge. Raúl, du hattest gesagt, du rätst behinderten Menschen. Also auch mal zu hinterfragen, was interessiert mich eigentlich. Wenn nicht Inklusion drin vorkommt, dann mache ich das nicht. Es kann dich ja auch irgendwas anderes interessieren. Ich kann ja sagen, ich werde Finanzministerin oder ich werde finanzpolitische Sprecherin in meiner Kommune im Parlament. Es muss ja nicht zwingend das sein. Und es kann auch manchmal das Leben ein bisschen leichter machen. Und es darf es auch. Es darf auch mal leicht sein. Es ist keine Schande, auch mal als behinderter Mensch da zu sitzen und zu sagen, so, jetzt bin ich hier mit einem Kollegen und wir machen jetzt hier Wirtschaftsempfang. Und da kann ich auch manchmal was erreichen. Und das, dafür ist das Leben zu kurz. Also wenn ich merke, das wird ja alles nicht mehr. Das ist ja auch das Reisen anstrengend. Jede Woche nach Brüssel und zurück. Zweimal die Woche kostet mega Energie. Klar. Und das ist nicht witzig. Das ist schon scheiße Arbeit.
Raúl: Hast du dabei Assistenz?
Katrin: Nein. Also ich renne eigenständig der Bahn hinterher. Jetzt mit den neuen Zügen, diese neuen Modelle, dieser Neo, der ist für mich noch schlimmer. Ich komme gar nicht mehr ohne Hilfe rein in den Zug. Und na klar, also wenn du zehnmal umsteigen musst, fliege ich, fliege ich nicht. Also ich versuche fliegen zu vermeiden, aber eigentlich bin ich blöd, dass ich nicht fliege. Ist für mich aber schwierig. Ich möchte es nicht so gerne. So, also das sind ja dann auch immer noch so Geschichten. Klar, das ist ja auch was viele ja auch sagen. Willst du für ein höheres Amt kandidieren und da auch einziehen? Du hast viel Hilfe, du hast viel Unterstützung. Aber klar, eine barrierefreie Wohnung in Brüssel zu finden, die halbwegs noch bezahlbar ist. Du hast ein gutes Gehalt, aber musst du auch irgendwie finden. Oder auch in Berlin. Musst du haben. Da hilft dir keiner, da nimmt dich keiner an der Hand. So, da bin ich genauso wie jemand, der nicht im Parlament sitzt. Also klar ist es auch, wenn du erstmal darum kämpfen musst, mit meinem Abstimmungsgerät. Ich habe eine Legislatur nur gebraucht, um abstimmen zu können. Unfallfrei. So. Macht jetzt nicht immer Spaß, sich damit nur so zu befassen und eigentlich nur damit befasst zu sein, als mit deiner Arbeit. So, aber weitermachen. Und solange ich da noch so den inneren Motor habe, klar.
Jonas: Als wir in einer der vergangenen Folgen mit dem Politiker Bijan Kaffenberger gesprochen haben, der hat zum Thema Interessen gesagt, dass er sich sehr dafür einsetzt, dass endlich mal auf seiner Bahnlinie, die er ja häufig fährt, auch mal flächendeckendes Internet und UMTS verfügbar ist. Wäre vielleicht auch etwas, wovon du profitieren könntest. Gleichzeitig, wie du gesagt hast, ist es ja wichtig und gut und schön, dass man sich austauscht, dass wir uns austauschen. Deshalb vielen Dank, dass du heute hier bei uns in dem Podcast warst und wir dich ein bisschen kennenlernen konnten, dich und deine Arbeit. Alle Informationen zu dieser Episode findet ihr auf www.deneunnorm.de. Dort haben wir sowohl die Artikel zur UN-Behindertenrechtskonvention noch mal online gestellt, als auch unsere Interview-Reihe über vielfältige Politiker*innen, wo wir mal aufzeigen, peu à peu, und das wächst ständig, was es für vielfältige Politiker*innen in Deutschland gibt und die alle ihre Arbeit vorstellen. Auch vielleicht ihre anderen Interessen außerhalb des Feldes, wofür sie aufgrund ihrer Vielfaltsdimensionen eben stehen. Deshalb schaut dort gerne mal rein. Und zu guter Letzt natürlich der Hinweis, am 23.02. wählen zu gehen. Wir geben hier keine Wahlempfehlung. Die einzige Wahlempfehlung, die wir geben, ihr habt unterschiedliche Möglichkeiten, diesen Podcast zu hören. Natürlich überall da, wo es Podcast gibt. Wir empfehlen in dieser Stelle die ARD Audiothek. Schaut dort gerne mal rein. Katrin, vielen Dank, dass du da warst.
Katrin: Danke für die Einladung.
Jonas: Und wir freuen uns, wenn ihr beim nächsten Mal auch wieder mit dabei seid. Bis dahin.
Karina und Raúl: Tschüss.