Die Neue Norm: „Drei Journalist*innen, zwei Rollstühle und eine Sehbehinderung: Die Journalist*innen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 36: „Erwachsen werden“
Raúl:
Wisst ihr, was ich nicht verstehe, meine Mutter hat auf der einen Seite meine ganze Kindheit über gesagt: Mit 18 ziehst du aus, du brauchst Assistenz oder Zivis oder wen auch immer. Aber dann, wenn Weihnachten gefeiert wird, dann soll ich immer ohne Assistenz kommen. Macht doch gar keinen Sinn.
Judyta:
Nee, aber meine Eltern haben das auch gesagt. Also bei mir war das auch so. Die haben nicht 18 gesagt, weil bis zum Schulende sollte ich noch bleiben – da haben sie noch die Gnadenfrist gegeben – also so mit 19, aber dann sollte ich auch ausziehen… spannend… können wir ja gleich noch mal drüber sprechen.
Trailer:
Die Neue Norm, eine Sehbehinderung, zwei Rollstühle oder… drei JournalistInnen. Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raúl Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft. Ein Podcast von Bayern 2.
Jonas:
Herzlich willkommen zu Die neue Norm, der Podcast. Der erste Podcast im Jahr 2023. Wir freuen uns sehr, dass ihr auch wieder mit dabei seid im inzwischen schon dritten Jahr unserer doch recht kurzen, aber intensiven Podcast-Geschichte.
In dieser Folge möchten wir uns dem Thema widmen, wie es ist, als Mensch mit Behinderung erwachsen zu werden. Es sind ja gerade die Feiertage vorbei, und der eine oder andere verbringt die Zeit ja gemeinsam mit der Familie. Und ich weiß nicht, wie es euch geht. Aber ein bisschen ist es ja so, dass, wenn man zurückkommt und die Familie wieder zusammentrifft, dass man in alte Rollenmuster wieder reinkommt. Also egal, wie alt man ist, ob man 20 ist, 30, 40 oder 50. Man kommt zurück und besucht vielleicht die Eltern und ist dann auf jeden Fall wieder Kind und wird vielleicht auch so behandelt. In dieser Folge möchten wir uns darum widmen: Wie ist es für Menschen mit Behinderung – Jugendliche, junge Erwachsene mit Behinderung, die vielleicht irgendwann in das Alter kommen, von zu Hause ausziehen zu wollen, selbständig sein zu wollen, sich vom Elternhaus zu emanzipieren? Was für Barrieren gibt es dort? Werden Sie vielleicht von den Eltern gepflegt oder bekommen Assistenz von Eltern und haben gar nicht so die Möglichkeit, von zu Hause auszuziehen? Oder welche Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung gibt es auch? Welche Vereine gibt es, wo man sich informieren kann, wenn man selber als junger Erwachsener mit Behinderung auf den eigenen Beinen stehen möchte oder auf den eigenen Rollen…
Judyta:
Rädern…
Jonas:
…Rädern bestehen möchte? Darüber möchten wir sprechen mit Judyta Smykowski und Raúl Krauthausen. Mein Name ist Jonas Karpa.
Wie war es bei euch in der Jugendzeit? Ihr habt eben schon gesagt so ein bisschen, dass ihr relativ früh auch gesagt bekommen habt, okay, ab einem gewissen Alter nach Ende der Schule solltet ihr ausziehen. Wurde das direkt gesagt, so…ihr zieht jetzt auf jeden Fall aus. Oder war das so, wurde ihr so weggelobt?
Judyta:
Bei mir war es auch ein Wunsch, einfach auszuziehen, dieses Student*innen-Leben zu machen, das ganze Programm mitzunehmen mit Behinderung, auch Studentenwohnheim. Da sollte es ja legendäre Partys geben, was bei mir jetzt gar nicht so der Fall war. Also voll die Enttäuschung. Aber sonst war das eben das Ausprobieren, wie war es bei dir, Raúl?
Raúl:
Also bei mir war es so, dass meine Mutter mir schon sehr früh gesagt hat: Mit 18 ziehst du aus – und ich mir das partout nicht vorstellen konnte, wie ich jemals alleine wohnen soll. Ich glaube, ich war wirklich noch zu jung, um zu begreifen, was meine Mutter mir damit sagen will. Und ich habe das manchmal dann so verstanden als sie will mich loswerden. Und erst als ich älter wurde, wurde mir klar, dass sie das eigentlich empowernd gemeint hat, nämlich: Das wird schon gehen, wir kriegen es schon irgendwie hin. Aber da wirst du dich auch letztendlich anpassen müssen, als jemand, der auf Hilfe angewiesen ist. Ich kann dir nicht immer helfen. Ich will dir auch gar nicht immer helfen. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass du Leute bekommst an deine Seite – Zivildienstleistende oder Einzelfallhelferin oder Einzelfallhelfer. Und die waren die ersten Menschen außerhalb meiner Eltern, die mich tragen durften, mir auf Toilette helfen durften, mich waschen durften. Und das war ein super harter Prozess für mich damals in jungen Jahren. Aber ich bin dankbar, dass meine Eltern darauf bestanden haben, gegen meinen Willen, das einfach mal einzuführen. Und dann haben sie Stück für Stück die Stundenzahl erhöht. Also erst war es eine Stunde am Tag, dann zwei Stunden am Tag, dann vier, dann einen Tag und so, sodass ich mich dann auch daran gewöhnen konnte. Dann fing ich auch an, meine Freiheiten zu genießen, also dann mal alleine ins Kino zu gehen, ohne von Mama abgeholt und hingebracht zu werden. Auch wenn ich gar nicht alleine war, sondern eben von den Einzelfallhelfer*innen begleitet. Und am Ende des Tages summa summarum, glaube ich, fand ich es sogar ganz cool als jemand, der bei seiner Mutter aufwuchs, sehr viele Bezugspersonen zu haben. Also ich konnte mir aussuchen, wem ich meine Sorgen erzähle. Und es war nicht immer meine Mutter oder mein Vater und das hat natürlich auch was sehr Empowerndes gehabt. Aber ich muss auch sagen, als meine Mutter gesagt hat, mit 18 ziehst du aus, das war dann nicht so, dass ich auszog, sondern sie zog aus, weil die Wohnung, in der wir wohnten, barrierefrei war. Und es war natürlich leichter ist für sie, eine neue Wohnung zu finden, als für mich. Und es war auch nicht 18 sondern ich war 21, und ich bin mit meinem damaligen Klassenkameraden zusammengezogen. Wir haben eine WG gegründet, die klassische Kiffer-WG. Das fand meine Mutter, glaube ich, auch eher so mittelgeil. Aber was sollte sie machen, sie hat ja gesagt: Mit 18 ziehst du aus. Aber ich würde sagen, ich habe am meisten gelernt über selbstbestimmtes Leben und wie organisiere ich mein Leben mit Behinderung von anderen Menschen mit Behinderungen. Also wie die ihr Leben organisieren, es mir selber abzugucken, das ist was ganz anderes, als dir von den Eltern sagen zu lassen, du musst jetzt die oder die Assistenz nehmen oder so, sondern einfach mal zu lernen, dass du auch eine Wahl hast. Wie du es dir gestalten kannst, wie viele Stunden du vielleicht brauchst. Dass du es nicht unterschätzen sollst, aber auch nicht überschätzen. Und einfach zu sehen, wie andere ihr Leben managen. Und ich sage bewusst managen, weil Assistenz zu managen, ist schon auch nicht so einfach.
Jonas:
Aber haben dann deine Eltern dir dann schon mal ein paar Tipps gegeben, wo man sich eben informieren kann oder wie war es bei dir auch, Judyta? Raúl du hast ja vom Empowerment gesprochen, war es bei dir auch so? Hat es trotzdem so ein Bestärken auch gegeben, wirklich auf selbständig dann unterwegs zu sein? Weil ich meine, dieser Abnabelungsprozess, das ist ja, glaube ich, auch etwas, was ja jetzt nicht grundsätzlich etwas ist, womit jetzt nur junge Erwachsene mit Behinderung zu tun haben, sondern das, was ja generell immer ein Prozess ist, wenn man das Elternhaus irgendwie verlässt. Dass ist für einen selber vielleicht aufregenden, vielleicht auch manchmal schwer – für die Eltern ebenso – aber gerade im Bereich Behinderung, wo vielleicht auch immer noch dieses Thema Unterstützung mitschwingt, auch noch mal etwas besonders. Aber war es eben bei dir ebenso, dass du ja nicht nur hingedrängt wurdest, sondern auch im Vorfeld vielleicht schon so ein bisschen Handreichungen oder Unterstützung gegeben wurde?
Judyta:
Also Selbständigkeit war immer ein großes Thema, und das habe ich auch recht schnell verinnerlicht. Und meine Eltern mussten mich da gar nicht zu drängen, weil es hat auch so ein bisschen mit der Migrationsgeschichte von meinen Eltern zu tun. Die kamen mit Anfang 20 in ein anderes Land, und deswegen war es für mich auch klar, dass ich das auch schaffen kann, dass es genauso bei mir werden kann. Und dass ich das auch hinkriege. Und bei mir war es dann eigentlich im ersten Studentenwohnheim nur ans andere Ende der Stadt… so, das war mein Auszug erstmal, genau. Also das kam einfach auch von mir, nicht von meinen Eltern. Und behinderte Menschen habe ich aber erst kennengelernt, als ich hier angefangen habe zu arbeiten, also erst mit 26.
Jonas:
Okay. Also quasi wirklich dieses klassische, eigentlich immer wieder die Erste zu sein. Immer wieder die erste Person mit Behinderung, egal in welchen Bereichen man unterwegs ist.
Judyta:
Genau. Natürlich, ich habe sie registriert. Ich habe von ihnen gewusst, dass es sie gibt. Und dann wurde auch immer so im Viertel gesagt, da gibt es doch ein Mädchen, und man wurde auch immer so ein bisschen verglichen, was total seltsam war, weil man war ja fremd und ich habe nie mit ihr gesprochen und sie nicht mit mir, aber so den Kontakt und gerade auch diesen wertvollen Erfahrungsaustausch, den du meinst, Raúl, den hatte ich eben echt sehr spät.
Raúl:
Ja, bei mir war das auch gar nicht so sehr, dass sie jetzt unbedingt alles wissen wollte oder so, sondern ich habe halt aus dem Augenwinkel andere Leute gesehen, wie sie mit offensichtlich nicht Familienangehörigen mit Behinderungen lebend, irgendwie Eis essen gehen. Und ich habe mich geschämt, ich wollte auch eigentlich mit dem Thema Behinderung nicht viel zu tun haben. So ähnlich wie du. Warum… nur weil jemand auch eine Behinderung hat, muss es ja nicht heißen, dass wir beste Freund*innen werden. Aber trotzdem war in mir immer so eine Neugier und/oder Faszination auch. Wie machen sie das eigentlich? So sieht das vielleicht bei mir auch aus, wenn man mich von außen beobachtet, quasi wie so ein Blick in den Spiegel und die Einzelfallhelfer*innen, die ich hatte, die wussten Bescheid, was es für Möglichkeiten geben könnte, für wenn ich nicht mehr Einzelfallhilfe berechtigt bin, weil das bist du ja nur, wenn du irgendwie einen pädagogischen Status hast. Also dass du, keine Ahnung, noch zur Schule gehst und in den Kindergarten und nicht als Erwachsener in der Regel.
Mein Vater hat als Assistent bei einer Assistenzfirma gearbeitet, das heißt, der kannte das Prinzip, und ich wollte aber nicht von meinem Vater jetzt als Assistent wieder in die Familie gerufen werden. Habe dann aber bei der Firma letztendlich, wo mein Vater arbeitete, mich erkundigt und die Personen, meine erste Begleitung quasi, hat selber eine Behinderung gehabt – und hat immer noch eine – und die war supernett. Und die war auch so pragmatisch und hat super viel gelacht, war unglaublich freundlich und sehr empathisch und hat sofort so Ansagen gemacht: „Ja, Raúl, du bist halt neu im Game, also natürlich kriegt mir nicht/kriegst du nicht deinen Vater als Assistenz, und ich empfehle dir, weil es neu ist, weil du jung bist, dass du erst einmal nur männliche Assistenten bekommst, damit nicht irgendwie man sich aus Versehen ineinander verliebt. Oder was auch immer da alles passieren könnte. Und ich schicke dir Leute, die so ähnlich alt sind wie du, damit du dich irgendwie ja erst einmal dran gewöhnst. Und ich wähle die für dich aus. Und du kannst auch sagen, ob das passt oder nicht. Und dann gucken wir weiter.“ Und ich hatte wirklich Glück mit dem Team, das mir dann geschickt wurde, weil das Team im großen Teil immer noch mein Team ist. Und ich bin jetzt schon – ich habe neulich nachgeguckt – über 15 Jahren…länger… 20 Jahre bei dem Anbieter Ambulante Dienste in Berlin und mir wird immer mal wieder gespiegelt, dass das Team, das ich habe, auch eines der beständigsten Teams ist, vielleicht hatte ich einfach einen guten Jahrgang…wie ein guter Wein.
Auf jeden Fall bin ich auch bei diesen Regeln geblieben, das da erst mal nur Männer sind. Warum sollte ich ein System ändern, wenn es doch funktioniert? Ich bewundere Leute, die auch andere Geschlechter bei sich akzeptieren oder annehmen. Mir würde das, glaube ich… ich fände es irgendwie unangenehm. Vielleicht hätte ich das früher mal ausprobieren sollen. Aber jetzt bin ich vielleicht auch schon so konservativ geworden, dass dann doch mein Schambereich einfach ein anderer ist. Und das ist, glaube ich, auch noch mal ein Unterschied, wobei du Hilfe brauchst. Also wenn mir jetzt jemand einfach nur bei der Mobilität hilft, Busfahren, einkaufen gehen oder ob dir jemand, den… ich sage es mal salopp… den Hintern abwischen muss, dann würde ich da schon gerne mal andere Einflussmöglichkeiten sehen wer das machen darf und das ist mir persönlich auch wichtig, eine gewisse Autonomie zu haben. Und dieses System, das ich habe, nennt sich persönliche Assistenz. Und die gibt es jetzt, spätestens seit dem Bundesteilhabegesetz, in ganz Deutschland auch als Recht für Menschen mit Behinderungen. Dass du quasi das beantragen kannst, wenn du Unterstützungsbedarf hast. Pflegegrad musst du haben. Du kriegst dann quasi das Pflegegeld nicht ausgezahlt, du kriegst dann die Pflege als Sachleistung, und die Sachleistung ist dann quasi der Assistenzdienst. In Berlin haben wir das Glück, dass die Assistenzen gewerkschaftlich organisiert sind, also ganz okayen Stundenlohn verdienen. In anderen Bundesländern, wo das nicht gewerkschaftlich organisiert ist, verdienen die oft relativ wenig. Und das führt dann dazu, dass gerade im ländlichen Raum oder konservativen Bundesländern oder armen Bundesländern das ist auch sehr schwer ist, Assistenzen zu finden. Fachkräftemangel gibt es überall, nicht nur im IT-Sektor oder bei der Deutschen Bahn, sondern eben auch im Bereich Assistenz. Und ich erwische mich schon dabei, wie ich sehr häufig auf Social Media gefragt werde, ob ich nicht hier mal eine Anzeige teilen kann auf Instagram oder ob ich Tipps hätte, wo man Leute finden kann. In eBay-Kleinanzeigen werden oft Assistenzen gesucht, und es gibt auch Assistenz-Börsen, Jobbörsen. Und der Beruf ist zwar schon einigermaßen bekannt, aber wenn er einfach nicht gut genug vergütet wird, dann bewerben sich auch relativ wenig Leute oder Leute, die vielleicht nicht geeignet sind dafür. Und das ist dann auch ein politisches Thema. Aber im Grunde gibt es ganz gute Unterstützungsmöglichkeiten, auch in der Beratung. Welcher Anbieter ist der Beste? Muss man alles selber organisieren? Also Abrechnung, Urlaubsvertretung, Elternzeit deiner Assistenzen oder suchst du dir eine Firma dazwischen, die das für dich koordiniert und moderiert – so habe ich das gemacht. Oder nimmst du einen ganzen Pflegedienst, wo du keine Auswahl hast, wer…
Jonas:
Da kommt einfach irgendjemand…
Raúl:
…dir hilft und so körperliche Sachen macht.
Jonas:
Unsere Kollegin Anne, die ja auch hier schon mal zu Gast im Podcast war, die hat das zum Beispiel anders organisiert. Die ist quasi selber die Arbeitgeberin und koordiniert das selbst. Da haben wir ausführlich mal drüber gesprochen in der Folge, wo wir über Assistenz sprechen. Die verlinken wir euch auch noch mal in unseren Shownotes auf www.dieneuenorm.de. Damals als du ja einen Zivildienstleistenden gesucht hast, Raúl, da hast du ja quasi einen großen Casting-Prozess gemacht, eben „Deutschland sucht den Super-Zivi“.
Raúl:
Ja, das war eine Parodie. Eigentlich war Deutschland gerade mit der ersten oder zweiten Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“ am Start, und ich habe zusammen mit einem Jugendsender in Berlin so ein Anti-Casting gemacht, wo wir gesagt haben: „Deutschland sucht den Super-Zivi“ – und zwar für mich, weil die Zivis, die zu dem Zeitpunkt hatte, die waren alle Freunde aus meiner Klasse. Und die sind halt irgendwann durch. So viele männliche Klassenkameraden, die überhaupt wehrtauglich oder zivildiensttauglich waren, kannte ich halt nicht. Und die fünf hatte ich dann durch. Und dann sagte die Sozialstation, die die Zivildienstleistenden für mich beschäftigt hat: Finde einen oder wir suchen dir einen. Und dann dachte ich, okay, dann finde ich einen, hab dann dieses Casting gemacht, und der Gewinner ist auch wirklich mein Zivi geworden. Es war eine reale Castingshow, die auch wirklich funktioniert hat, und danach wurde der Zivi abgeschafft. Und dann musste ich quasi umsteigen auf dieses Assistenz-Model, sonst hätte ich das mit dem Zivi vielleicht noch ein paar Jahre weitergemacht. Aber jetzt habe ich mit Assistenzen eigentlich noch viel mehr Freiheiten. Ich kann jetzt verreisen. Ich kann jetzt ja auch längere Sachen unternehmen, größeres Komplexes übernehmen, wo ich dann auch nicht eine Verantwortung habe, für einen noch fast pubertierenden jungen Menschen. Ist manchmal wirklich so. Also ich habe dann irgendwann auch gemerkt, ich bin zu alt für 18-jährige Assistenzen. Ist nicht böse gemeint, aber man hat dann auch noch andere Themen. Die kommen alle frisch vom Abitur und wollen die Welt noch entdecken. Und du bist aber grade der, der vielleicht Schmerzen hat. Also es war nicht immer einfach.
Was ich noch sagen wollte, wenn du gute Assistenz hast, die arbeiten ja so, dass es nicht auffällt. Ich habe mit denen auch so eine nonverbale Sprache entwickelt. Also es reicht manchmal sich zuzunicken, und wir wissen, okay, es geht weiter oder es geht los oder wir steigen aus oder was auch immer, es ist eigentlich immer das gleiche Nicken. Aber wenn du dann im Bus sitzt und der Assistent weiß grade nicht, wo wir hinfahren, weil ich mache ja den Zeitplan und es reicht nur einmal Nicken…und dann steht er auf, und hilft mit der Rampe. Und das wäre, glaube ich, mit meinen Eltern anders. Die würden dann sagen: Komm, jetzt müssen wir raus. Die würden irgendwie versuchen, die Führung zu übernehmen. Und ich habe einen Assistenten, der sagt immer: Raúl, für das Denken werde ich nicht bezahlt. Ich bin einfach nur deine Arme und deine Beine. Wenn du mich jetzt fragst, wo es langgeht, dann guck selber! Und das finde ich irgendwie auch eine geile Ansage.
Jonas:
Aber wie wichtig ist es eben, dass solche Unterstützungsmöglichkeiten oder wenn es sogar noch krasser in Assistenz und Pflege reingeht, dass man sich dort als Mensch mit Behinderung, als jugendliche Person mit Behinderung irgendwann von den Eltern auch so ein bisschen löst, um nicht zu eng zu sein und auch eben abhängig zu sein? Ich meine – gleichzeitig, Raúl, du hast eben die Geschichte erzählt, dass deine Mutter gesagt hat, okay, sie findet es eher komisch oder fand er nicht so schön, wenn du dann irgendwie zu Festen kommst, wo die Familie da ist, wo sie auch da ist und du dann Assistenz mitbringst. Aber das ist ja eben genau dieser Prozess, sich loszulösen. Also wie wichtig ist das, eben auch da eine klare Trennung vorzunehmen?
Judyta:
Bei mir waren es einfach die Kilometer zwischen uns. Also ich bin dann von Hamburg nach Hessen gezogen für ein Studium. Und da war klar, dass ich nicht einfach meinen Wäscheberg bei Mami abladen kann, sondern ich muss das selber machen. Und das war dann meine Lösung, einfach mal Distanz schaffen.
Raúl:
Super wichtig! Meine Mutter ist, glaube ich, jahrelang jeden Morgen vorbeigekommen, um zu gucken, ob der Ofen aus ist, so ungefähr, und das war schon auch nervig. Aber gleichzeitig hat sie auch immer einen Kuchen gebracht oder eine Pizza – das ist natürlich auch nett, aber dann haben wir, glaube ich, alle gemerkt, das ist cringe, das passt jetzt auch nicht mehr, dem Alter angemessen.
Jonas:
Also du hast nicht irgendwann gesagt: Mama, ich weiß nicht ganz genau…ich hab vielleicht noch den Ofen an…kannst du vielleicht mal…
Raúl:
Ich überlege grade, das Schloss zu wechseln.
Judyta:
Deine Mutter hat einen Schlüssel?
Raúl:
Hatte, ja.
Judyta:
Hatte!
Raúl:
Ja, für den Notfall.
Judyta:
Ja, macht ja Sinn.
Raúl:
Ja, das war dann zwar kein Notfall, aber sie hatte einen Schlüssel. Kann man ja auch irgendwie verstehen. War ja auch viel Zeit, die man als Mutter/Kind miteinander verbracht hat. Aber war dann nach zwei Jahren irgendwann genug. Was ich noch ganz interessant fand, bei dieser ganzen Geschichte Party machen, es war in der Studierzeit – also ich war Student damals, als ich die erste Assistenz bekam und wenn man da irgendwie noch so Party feiert und irgendwie auch mal länger abhängt oder alkoholisiert ist oder Drogen nimmt oder keine Ahnung was – das, was wir alle mal gemacht haben… also es werfe derjenige den ersten Stein, der das noch nie gemacht hat, dann ist es eine ganz andere Freiheit, das zu machen ohne deine Eltern. Dein Assistent muss dir halt dann irgendwie beim Übergeben helfen und nicht deine Eltern. Und du kannst das auch vor deinen Eltern geheim halten. Oder auch Partnerinnen, die ich hatte, konnte ich erst mal ausprobieren, bevor meine Mutter mich gefragt hat, wer ist denn das…erzähl mal! Und das ist schon auch für mich eine ganz neue Form von Unabhängigkeit gewesen, die vielleicht andere so gar nicht als Einschränkungen empfinden, weil die sich selber entschieden haben, wann die sich abnabeln und wann nicht. Aber ich habe erst im Nachhinein gemerkt, wie abhängig ich eigentlich von meinen Eltern war. Und umso mehr habe ich es dann genossen, es nicht mehr zu sein.
Jonas:
Im Vorfeld unseres Podcasts haben wir uns in unserem Umfeld, mal so ein bisschen ungehört bei anderen Menschen mit Behinderung und mal gefragt, wie es denen so ergangen ist im ihrem jugendlichen Alter. Und das, was ich so spannend fand – einer hat uns zum Beispiel erzählt, dass er mit seinen Eltern eigentlich die Vereinbarung hatte, dass er bis zum Ende seines Bachelor-Studiums zuhause wohnt und danach auszieht. Und er aber in der Zeit, wo er zu Hause gewohnt hat, auch schon immer von den Eltern Assistenzhilfe bekommen hat und aber dann während des Studiums einfach gemerkt hat, okay, da passen einfach die Tagesabläufe, die Tagesstrukturen nicht zusammen. Heißt: also wenn die eigene Mutter einem assistieren muss beim ins Bett gehen und man aber mal irgendwie ein bisschen länger aufbleiben möchte und das irgendwie bis zwei, 3 Uhr nachts ist, aber man eigentlich ja immer aufgrund dieser Hilfeleistungen vor den Eltern ins Bett gehen muss, dann passt es einfach überhaupt nicht mehr zusammen. Und dann hat er den Entschluss gefasst, okay, ich ziehe vorher aus und hatte aber das Problem noch, dass er noch keine Assistenz hatte und das relativ lange gedauert hat, die zu beantragen, beziehungsweise bis die dann ihm schlussendlich bewilligt wurde und dann zwar ausgezogen ist, aber für gewisse Sachen trotzdem immer wieder noch zu seinen Eltern fahren musste. Also auch diese Geschichte, dass man eben irgendwann auch merkt, okay, da ist man zu nah dran. Und eine andere Person, die wir gefragt haben, sie hatte uns oder hatte mir erzählt, ähnlich wie bei dir, Judyta, dass die gesagt, okay, ich brauchte einfach Distanz und bin quasi relativ weit weg dann von Zuhause gezogen, um halt nicht immer sozusagen bevormundet zu werden. So kann man es eigentlich vielleicht auch sagen und eben gesagt zu bekommen, das ist möglich, das ist nicht möglich, weil man natürlich dann eben auch gerade im jungen Alter vielleicht eben auch angewiesen ist auf gewisse Fahrdienste und sowas dann in Anspruch nehmen muss. Oder vielleicht auch, wenn man es nicht anders kennt, auch gerne vielleicht einfach auch in Anspruch nimmt, weil es dann vielleicht auch praktisch ist.
Raúl:
Und da sprichst du ja eigentlich mehrere Themen an. Also die Bürokratie, dass etwas lange dauern kann, dass es bei der genannten Personen jahrelang gedauert hat, bis die Assistenz bewilligt wurde. Deswegen ist es, glaube ich, auch ratsam, wenn man vor dieser Frage steht – vielleicht so ein Jahr bevor man auszieht, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und dann sich an ergänzende, unabhängige Teilhabeberatungsstellen in der Region zu wenden. Die erreicht man unter teilhabeberatung.de. Da gibt man einfach seinen Postleitzahlenbereich ein, und dann spuckt einem die Suchmaschine letztendlich Beratungsstellen in der Nähe aus. Und dann empfehle ich mehrere vielleicht auch mal anzuschreiben und anzusprechen und da zu gucken, ist der Berater/die Beraterin selber eine Person mit Behinderung. Die kennen sich in der Regel anders aus. Also nicht unbedingt besser, weil es kann ja jeder theoretisch lernen, aber anders aus im Sinne von: kann besser nachempfinden, in welcher Situation man sich grade befindet, weil, was so Empowerment Selbstbestimmungsprozesse angeht, Abnabelung von den Eltern, wenn du selber eine Behinderung hast, bist du da einfach vielleicht auch sensibler. Und der zweite Punkt ist natürlich: wohin ziehst du? Bei mir sind die Eltern ausgezogen, weil die Wohnung barrierefrei war. Das heißt, meine Eltern hatten das Problem der Wohnungssuche. Aber wir wissen ja, wie hart der Wohnungsmarkt ist.
Jonas:
Aber du kannst die dann auch nicht besuchen.
Raúl:
Nein, obwohl…meine Mutter wohnt jetzt witzigerweise barrierefrei, aber mein Vater nicht. Und da habe ich ein Problem. Das heißt, ich bekomme dann immer Besuch. Aber Wohnraum ist so ein Ding. Also wenn du falsche Eltern hast, falsch im Sinne von: Eltern, die sehr bemutternd sind, die glauben, sie sind die einzigen, die wissen, was gut für das Kind ist, die dann aber auch vor der Frage stehen: wo wird dann mein Kind später mal wohnen, wenn ich mal nicht mehr bin? Die laufen dann oft Gefahr, ihr Kind in Wohneinrichtungen zu geben und so weiter. Und da ist die Abnabelung von einer Wohneinrichtung auch noch mal schwieriger nach der Abnabelung von den Eltern. Da muss man auch, glaube ich, sich am besten mehrfach beraten lassen von verschiedenen Seiten und nicht gleich den Weg gehen, der das Kind in eine Wohlfahrtseinrichtung schickt.
Judyta:
Da gibt es ja auch die Vereinigung Wohn:sinn. Die haben wir auch schon erwähnt in unserer Folge zu Wohnheim, beziehungsweise Alternativen dazu. Die haben ja einfach das Konzept, dass da auch einfach Studierende mit dir in der WG wohnen, wenn du auf Assistenz angewiesen bist und die das dann einfach mit übernehmen und dadurch weniger Miete zahlen. Also es ist natürlich auch ein sehr privilegiertes Modell, können nicht alle so machen. Aber das ist eben auch eine Möglichkeit.
Raúl:
Und auch da braucht man Wohnraum und Wohnraum ist wirklich ein Problem in Deutschland, egal in welchem Bundesland. Nicht nur, dass es nicht bezahlbar ist, sondern es ist auch noch schwieriger, barrierefreien Wohnraum zu finden. Und obwohl unsere Bauministerin, Frau Geywitz, versprochen hat, dass sie 400.000 Wohnungen baut, wird nur ein kleiner Prozentsatz davon barrierefrei sein. Auch wenn sie dann am Ende in ihren Papieren immer sagen: Ja, großflächig, barrierefrei und so was. Würde ich jetzt mal abwarten, wie viel davon dann wirklich für Menschen mit Behinderung nutzbar ist, ob das bezahlbar ist und wer das dann nutzt. Wenn es dann die Wohlfahrt wieder mietet, dann ist dein Kind trotzdem wieder in einem Wohnheim, in einem kleinen halt. Und ich würde Wohnen und selbstbestimmtes Wohnen so definieren: wohne ich dort freiwillig und habe ich eine Auswahl oder ein Einfluss darauf, wer den Schlüssel zu meiner Wohnung hat? Und das habe ich in einem Heim halt nicht und auch nicht in einer Wohngruppe, wo andere Menschen mit Behinderung mit mir zusammen eine große Wohnung teilen. Wenn ich mich mit denen nicht verstehe, und das ist nun mal eine WG, da muss ich die Möglichkeit haben, andere… also, das zu eskalieren, dann auch sagen, entweder selber auszuziehen oder die anderen bitten auszuziehen. So, wie man das in WGs halt macht. Aber in kleinen Wohngruppen von Heimbetreiber*innen ist das nicht diskutiert, und deswegen finde ich es so wichtig, dass es die Freiwilligkeit und auch die Möglichkeit gibt, sich einzusperren, also jetzt mal einfach mal die Tür zuzumachen und die Fenster zuzumachen und einmal für sich alleine zu sein. Ein ganz wichtiger Faktor von selbstbestimmten Wohnen.
Jonas:
Du hast eben die Bürokratie angesprochen und jetzt auch das barrierefreie Wohnen. Wieviel sind auch die politischen Strukturen daran schuld, dass es für Jugendliche mit Behinderung schwieriger ist, diesen Prozess in ein selbstbestimmtes Leben zu bringen, zu führen? Also, dass die noch mal vor andere Hürden gestellt werden als, sage ich mal, Jugendliche ohne Behinderung.
Judyta:
Es gibt einfach zu viele Schemen F, also dieses Vorausschauende, so und so wirst du enden, das ist der vorgezeichnete Weg für dich, wenn du die und die Behinderung hast. Und wenn du eben nicht noch krasse Eltern hast, die sich mit aller Gewalt dagegen wehren, dich nicht in dieses System zu stecken. Also, das ist wirklich immer wieder erstaunlich und immer wieder sehr, sehr traurig zu sehen, wie in Deutschland das so vorgezeichnet ist in Deutschland, einem der reichsten Länder und wie du dich da wehren musst und wie das eben von einzelnen Familien auch eben abhängt, ob sie organisiert sind in Selbsthilfegruppen, sich mit anderen Eltern zusammentun oder eben deren Kinder sich dann treffen und irgendwie Lösungen finden und erst dann wirklich sagen können, ja, es ist zwar für mich vorgesehen, aber ich mache das jetzt anders.
Jonas:
Muss sich denn konkret in der Politik etwas ändern? Also gibt es irgendwie – ist natürlich immer relativ leicht gesagt, dass es die eine Stellschraube gibt – aber gibt es irgendwie etwas wo man sagt, okay, da muss man anpacken, damit junge Erwachsene mit Behinderung die Möglichkeit haben, ein eigenständiges Leben zu führen?
Judyta:
Ich glaube, die Strukturen müssen natürlich da sein. Es muss die Information da sein, denn, auch gerade was Raúl gesagt hat, sich mit 19 zu informieren bei einer Teilhabeberatung und da mal selber Alternativen zu suchen – ich weiß nicht, ob ich das gemacht hätte, ob ich sozusagen wirklich irgendwie so frisch aus der Schule und ich google jetzt und nimm mein Schicksal in die Hand und suche mir jetzt irgendwie eine Alternative. Also ich glaube, dazu brauchst du auch schon richtig viel… irgendwie… weiß ich nicht… Überzeugungskraft und irgendwie auch Glauben, dass du das jetzt in die Hand nehmen kannst. Also bin ich mir nicht sicher, ob das irgendwie alle so können. Und deswegen sind eben diese Vereine so wichtig, um sich selber zu organisieren. Stammtische. Das ist auch alles, was Wohn:sinn zum Beispiel auch veranstaltet, wurde mir mal von denen erzählt, oder auch Eltern behinderter Kinder, die sich treffen und dauernd nach irgendwelchen Sonderlösungen irgendwie suchen und sich die Widersprüche vorschreiben und dann geht das Drumherum. Also, es ist alles Privatsache. Und das ist eben das Tragische.
Raúl:
Bei mir war das Thema unglaublich schambehaftet auch, weil ich immer dachte: kann ich das überhaupt? Und das ist so ein bisschen wie, keine Ahnung, Patientenverfügung oder so. Man verschiebt es auf den Sankt Nimmerleinstag, bis es dann vielleicht irgendwann fast zu spät ist, um diesen Absprung zu schaffen. Oder dann irgendwann ist der Druck halt da, weil das Studium beginnt oder was auch immer. Und ich glaube, man kann das super entspannt organisieren, wenn man schon mit 14 gewusst hätte, dass es so etwas wie Assistenz gibt oder so. Das habe ich mit 14 aber nicht gewusst und rückblickend betrachtet, was mir damals wirklich geholfen hätte, wären Vorbilder, also Menschen mit Behinderungen in meinem Alter, die Freunde sind. Hatte ich nicht, habe ich auch nicht aktiv danach gesucht. Aber ich hätte sie wahrscheinlich auch kriegen können, wir kannten schon auch Menschen mit Behinderungen im Bekanntenkreis. Aber irgendwie habe ich mich da auch dem versperrt und verweigert. Und meine Eltern haben das irgendwie immer so unangenehm anmoderiert und angesprochen, dass ich dann halt auch erst recht abgelehnt habe. Und deswegen, glaube ich, ist es wahrscheinlich auch eine sehr sensible Sache.
Wenn ich ein Hobby gehabt hätte, so etwas wie, keine Ahnung, Tennisspielen oder irgendein Hobby, wo auch Menschen mit Behinderung sind, hätte es ja diese Begegnung gegeben. Wenn ich es gesehen hätte, wie die zum Tennis kommen oder was auch immer. Aber ich war halt ein Sportmuffel und eine Freiwillige Feuerwehr gab es in Berlin nicht. Jedenfalls nicht da, wo ich war, sodass die einzige Begegnung, die ich mit Gleichaltrigen mit Behinderung hatte, waren diese jährlichen Treffen von Menschen mit meiner Behinderung – Glasknochen-Vereinigung. Und die hatten auch für heranwachsende Jugendliche relativ wenig Angebote, da konnte man natürlich irgendwie auch über das erste Mal und so mit anderen Betroffenen reden, aber das war so voller Scham für mich, dass ich das auch nicht wollte und dann unangenehm fand. Und ich habe kaum jemanden mit Assistenz gesehen zum Beispiel, weil total viele damals noch bei ihren Eltern gewohnt haben – mit 40.
Judyta:
Das meine ich ja, also, dieses Wissen und auch dieser Eintritt ins System, ab dann dafür verantwortlich zu sein, diesen ganzen Wust an Papierkram immer wieder zu machen. Also ich glaube, das ist schon echt nicht zu unterschätzen. Eine Bekannte hat mir erzählt, dass sie durchaus Recht hätte auf Assistenz, aber sie mit ihrem Ehemann entschlossen hat: Nein, machen wir nicht, wir wollen eben diese Privatsphäre. Wir wollen eben für uns sein. Und sie hat eben den Deal mit ihrem Ehemann: wir machen das alleine und das ist eben deren Lösung. Und da muss man natürlich auch immer kommunizieren, damit sich beide eben wohlfühlen in diesem System.
Jonas:
Ich finde es aber auch… gerade weil du gesagt hast, es irgendwie so, dass man eigentlich früh daraus ein bisschen auch gebracht werden sollte, das ja auch eigentlich schon in allen so ein bisschen verfestigt ist, gerade wenn man eine Behinderung hat, die vielleicht im Alltag auch Unterstützung bedarf. Wenn es dann zum Beispiel in der Schulzeit so ist, dass man eben vielleicht auf gewisse Ausflüge nicht mitfahren kann, oder dass, wenn dann Klassenfahrten sind oder Stufenfahrten sogar vielleicht irgendwie ins Ausland gehen, wo es irgendwie in dem Kontext nicht organisiert werden kann. Oder man eine Behinderung hat und es sehr schwer ist, irgendwie bei Übernachtungspartys dabei zu sein und damit vielleicht da nicht dabei ist und dass man irgendwie in diesem Kontext dann eben gar nicht so ein Leben außerhalb der Betreuung des Elternhauses irgendwie erlebt und dann auch gar nicht so das Bewusstsein dafür entwickelt, dass man eben auch andere Möglichkeiten der Unterstützung hat.
Judyta:
Ja vor allem auch dieses sich dran gewöhnen, was ja für Eltern und auch für die Kinder genauso gilt. Also sich daran gewöhnen, dass jetzt eben dieser Umzug kommt, dass jetzt eben die Assistenz kommt. Da hat mir eine andere Person noch erzählt, dass sie mit ihren Eltern das auch so gemacht hat, dass am Anfang die Assistenz einfach nachmittags gekommen ist und dann konnten sich alle daran gewöhnen. Und irgendwann ist sie dann ausgezogen und hat dann noch erzählt, dass ihre Eltern nie mit ihr zwei Sachen machen wollten: einmal Zelten und Flugurlaub. Und was hat sie gemacht? Sie ist dann gleich sofort erst mal Zelten gegangen und hat sich eine krasse Erkältung zugezogen und hat dann eben gesagt, okay, Zelten ist vielleicht nicht so das Ding…
Jonas:
Hatten die Eltern doch recht.
Judyta:
Und geflogen ist sie dann auch. Und dabei ist der Rollstuhl kaputtgegangen. Genau – aber hat es erst mal durchgezogen.
Jonas:
Es gibt über unsere Arbeitskollegin Marie beim MDR eine interessante Dokumentation, die wir euch auch noch mal in den Shownotes verlinken, wie übrigens auch alle Vereine und Organisationen, wo man sich informieren kann – alles auf www.dieneuenorm.de. Und der Mitteldeutsche Rundfunk hat unsere Kollegin begleitet über mehrere Jahre. Und dort sind dann auch Aufnahmen zu sehen, wo sie 13 Jahre alt ist und auch so … ja, sie ist blind, und es geht quasi über ihr Leben in der Zeit als Jugendliche. Und dann wurde sie vor kurzem interviewt, wo sie noch einmal dann in der Retrospektive einfach erzählt, wie es eben war und sie auch dort noch mal sagt, dass es ihre Eltern halt häufig auch zum Beispiel verboten haben, dass sie gemeinsam mit Freundinnen ins Schwimmbad geht, weil das ja zu gefährlich sei. Wo dann auch so die Sorge der Eltern und als Person, die erziehungsberechtigt sind, nochmal mitschwingt und das natürlich auch ein, vielleicht in manchen Situationen auch ein bisschen hindern kann in der eigenen Entwicklung.
Judyta:
Aber ich glaube, das ist ein universelles Problem. Also vom Loslassen. Du kennst doch diesen Spruch „Wurzeln geben den Kindern und gleichzeitig Flügel“.
Jonas:
Was wahnsinnig schwer ist…..
Raúl:
…sodass es sie zerreist
Judyta:
Stimmt! Oh, Gott.
Jonas:
Ein schönes Bild.
Raúl:
Was ich interessant finde, „Es könnte ja was passieren“, ist ja so ein Satz, den behinderte Kinder wahrscheinlich öfter als nicht behinderte Kinder hören. Und ich für meinen Teil habe sehr früh gewusst, dass ich Glasknochen habe und deswegen auch selber Angst hatte, dass was passiert. Und ich glaube, ich war vorsichtiger, was meinen Körper angeht, Höhen, Geschwindigkeiten Gefahren, Unvorhersehbares, als meine Eltern. Und wenn ich dann höre, es könnte ja etwas passieren, dann denke ich manchmal so: Ja, aber ich habe ein gesteigertes Interesse, dass mir nichts passiert, weil ich habe nun mal Glasknochen. Deswegen – traut mir doch auch mal zu, an meine Grenze zu gehen. Und wenn was passiert, bin ich halt schuld. Und das kann man auch mit einem Neunjährigen klären. Da muss man das nicht gleich mit Verboten machen. Und das Leben ist nun mal auch gefährlich. Also wie viele nicht behinderte Kinder verunglücken, weil irgendwas Doofes passiert ist? Man kann nicht Kinder vor allem bewahren – auch nicht vor jeder Niederlage. Und die ich zitierte da auch ganz gerne unsere Kollegin Anne Gersdorff, die sagt: Behinderte Menschen haben auch ein Recht auf Niederlagen. Und es geht nicht darum, diese Menschen mit der Niederlage dann alleine zu lassen. Es geht darum, ihnen dann dabei zu helfen, mit der neuen Situation zurechtzukommen und da sich aus dem Tal wieder rauszuarbeiten gemeinsam.
Jonas:
Ich finde, manchmal wird auch – ich weiß nicht, ob es euch so ergangen ist – aber ich habe diesen Spruch nie selber gehört, weil ich ja auch eine Behinderung habe, die ich im Laufe des Lebens erworben habe – aber ich finde, manchmal wird auch so mit, ja, nicht Diagnosen, aber quasi mit so Vorhersagungen sehr, sehr locker umgegangen, sodass dann in der Voraussicht gesagt wird, ja, das Kind oder ihr Kind wird nie selbstständig leben können oder eigenständig leben können oder wird nie…also es wird dann gesagt manchmal zu Eltern oder von Lehrkräften oder von irgendwelchen anderen Diensten. Womit dann quasi vielleicht auch der innerliche Wunsch oder quasi Drang, irgendwie sich dann doch ja zu verselbständigen, auch irgendwie genommen wird, weil es wurde gesagt, das wird eh nicht funktionieren. Dann müssen wir auch gar nicht dahingehend irgendwie fördern, dass unser Kind irgendwann mal vielleicht trotz alledem selber in den eigenen vier Wänden wohnt.
Raúl:
Apropos Vorhersage: mich würde ja mal interessieren, was wir uns wünschen würden, was in Zukunft besser gemacht werden sollte oder was wir Menschen, die in zehn Jahren vielleicht vor der Frage stehen, ob sie ausziehen oder nicht, besser haben sollten als wir.
Jonas:
Ich glaube, es geht um die Wahlmöglichkeiten. Also ich finde, dass die Tatsache, dass es Menschen gibt, die vielleicht gerne in WGs wohnen, dass es Menschen gibt, die gerne vielleicht je nachdem aufgrund ihrer Behinderung eine sehr intensive Betreuung benötigen und sich in Wohneinrichtungen wohlfühlen, das ist ja vollkommen in Ordnung. Aber ich finde, dass diese zum einen Durchlässigkeit in beide Richtungen möglich ist und eben von vornherein die Wahloption gibt, dass man eben die Chance hat zu sagen, okay, ich würde gerne in den eigenen vier Wänden wohnen mit persönlicher Assistenz, dass das eben dann vielleicht möglich ist. Oder ich möchte nach meinem Studium oder nach meiner Schule ein Auslandsjahr machen, dass das eben, dass solche Sachen eben möglich sind.
Rau:
Ich würde noch Wohnraum definieren als Ort, dass leichter auffindbar sein sollte, ob er zugänglich ist oder nicht.
Judyta:
Ne, ne, der sollte schon zugänglich sein…
Jonas:
… wäre schon gut…
Raúl:
Ja, du hast recht…
Auch im ländlichen Raum. Und dann natürlich auch alle anderen Themen, ob der öffentliche Personennahverkehr dann vielleicht auch zu deinen Eltern oder zur Uni, zur Arbeit, zur Schule barrierefrei ist, damit man da auch selbstbestimmt hinkann und man dann, ja, entweder ewig weit unterwegs ist, weil die barrierefreie Wohnung zufällig am Stadtrand ist, sondern ist einfach auch verkehrstechnisch günstig gelegen und barrierefrei.
Judyta:
Für meine Eltern ist es ja auch wichtig, ob sie gut zu mir kommen, je älter sie werden.
Raúl:
Das hab ich sowieso nie verstanden, wenn man ein Haus baut, warum ein Prozentsatz davon nicht barrierefrei sein muss. Weil das würde ja in der Logik bedeuten, dass, wenn am Ende alle Menschen mit Behinderung eine barrierefreie Wohnung haben, können sie niemanden besuchen, außer die anderen Behinderten. Und das, also das verstehe ich einfach nicht. Wenn aber alle Wohnungen barrierefrei wären, dann gäbe es doch einen Wettbewerb um die geilere Wohnung und nicht um die eine, barrierefreie. Nur mal so ein Gedanke für die Zuhörerinnen und Zuhörer.
Judyta:
Aber, Jonas, wir haben jetzt noch gar nicht gehört, wann du ausgezogen bist.
Jonas:
Wann ich ausgezogen bin? Ich bin…
Raúl:
…nie.
Jonas:
Grüße an meine Eltern! Nein, ich bin zum Studium ausgezogen. Da hatte ich aber noch keine Behinderung. Deshalb…
Raúl:
Du hast dich quasi durchgemogelt.
Jonas:
Richtig! Ich bin ganz regulär …
Raúl:
…heimlich behindert geworden.
Jonas:
Richtig, das ist wirklich erstaunlich gewesen. Nein, ich weiß auch nicht, wie es anders gelaufen wäre. Ich habe nach dem Abitur ein soziales Jahr gemacht und habe dann angefangen zu studieren und bin zum Studium ausgezogen.
Judyta:
Und haben deine Eltern mal gesagt, ob du vielleicht zurückkommen willst, nachdem du die Behinderung erworben hattest?
Jonas:
Nein, es war nie Thema. Das war wirklich…aber auch… glaube ich…. also rein… Nein, also…
Im kompletten, sowohl im beruflichen Kontext als auch in der generellen Lebensplanung, hat es überhaupt gar keine Rolle gespielt. Weil es aber auch… ich muss mal rechnen, wie alt ich war…ich war 28. 28 ist jetzt nicht so…
Judyta:
Als du die Behinderungen erworben hast.
Jonas:
Ja – es ist nicht so das Alter, wo man sagt, ich ziehe wieder zurück nach Hause. Nö, es ist schon so gut, wie es so, wie es ist.
Judyta:
Ich musste ja mal drei Monate oder so auf dem Sofa von meinen Eltern wohnen, zwischen den Studiengängen, zwischen dem Bachelor- und Masterstudium, weil ich dann die Wohnheime und die Städte gewechselt habe.
Jonas:
Ja, das musste ich auch mal kurz.
Judyta:
Das war eine Erfahrung!
Raúl:
Aber vielleicht noch anerkennend: es gibt natürlich Familienkonstellationen, Kulturkreise, wo die Idee, möglichst schnell auszuziehen, gar nicht so verbreitet ist. Und das ist ja genauso okay. Also, ich kenne Menschen, die wohnen mit 40 noch bei ihren Eltern – ist eine Großfamilie in einer großen Wohnung. Und da sind dann andere Dinge Thema, wie zum Beispiel Ausbildung oder auch, wie gehen wir mit älteren Angehörigen um? Ist, glaube ich, auch eine Kulturfrage. Und es gibt natürlich Eltern, die sich mit ihren Kindern super verstehen – und umgekehrt.
Judyta:
Also wir verstehen uns jetzt auch gut mit unseren Eltern.
Jonas:
Auf jeden Fall!
Raúl:
Schon, ist aber auch ganz gut, wenn man die Tür zumachen kann.
Judyta:
Und das ist auch gut, 40 Minuten voneinander entfernt zu sein – auf jeden Fall. Aber in Bezug auf Zustimmung, beziehungsweise, wir sind ja auch sehr privilegiert. Wir sind drei Akademiker*nnen mit Akademiker*nnen-Eltern, die… das Geld musst du auch erst mal haben, die Studentenklitsche zu bezahlen. Nebenbei zu arbeiten und es reicht trotzdem nicht.
Raúl:
Bezahlbarer Wohnraum ist ein ganz wichtiger Aspekt.
Jonas:
Ja, könnte man ja vielleicht mal in den nächsten Koalitionsvertrag reinschreiben, dass das dann wirklich auch verpflichtend umgesetzt wird. Grüße an die Politik an dieser Stelle!
Das war Die Neue Norm, der Podcast. Und wir freuen uns, wenn ihr beim nächsten Mal auch wieder mit dabei seid.
Raúl, Judyta & Jonas:
Tschüss!