Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 41: „Die neue Neue Norm“
Jonas:
So, Leute, wir brauchen einen neuen Jingle, das funktioniert ja nicht mehr. Eine Sehbehinderung, zwei Rollstühle, drei JournalistInnen. Karina hast du zufällig… nutzt du einen Rollstuhl?
Karina:
So manchmal…also vielleicht… halb.
Jonas:
Ja, okay…Eine Sehbehinderung, anderthalb Rollstühle…
Raúl:
Klingt komisch.
Jonas:
Ja, klingt komisch.
Karina:
Aber witzig.
Raúl:
Bedarf aber vieler Erklärung.
Jonas:
Haben wir eine Alternative?
Karina:
Also wie wäre es mit: Zwei gehen, zwei stehen ,zwei sehen?
Jonas:
Ist aber sehr irgendwie auf so Fähigkeiten heruntergebrochen, oder? Passt irgendwie auch nicht. Können wir nicht einfach das „Behinderung“ komplett weglassen und sagen einfach: Drei Journalist*innen?
Raúl:
Das wäre mal was!
Karina:
Ja, dann hört keiner mehr rein.
Raúl:
Sind nicht alle Leute eigentlich Journalist*innen, die beim Radio Radio machen?
Jonas:
Ist ja kein geschützter Begriff.
Raúl:
Ist es nicht?
Jonas:
Nein, aber deswegen ist es ja umso wichtiger, dass wir quasi noch mal neben unserer Fähigkeit als Journalist*innen, noch mal unsere Identität hervorheben, nämlich als Mensch mit Behinderung, oder?
Raúl:
… und Süßigkeiten-Liebhaber*in.
Jonas:
Aber das kommt, glaube ich, nicht in den Jingle mit rein. Also ich würde vorschlagen: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung – wäre das okay?
Raúl:
Mangels besserer Ideen.
Jonas:
Herzlich willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Oder sollten wir vielleicht eher sagen: Herzlich willkommen zu Die neue Neue Norm, denn ihr habt es vielleicht schon gehört, es ist etwas anders. Nachdem wir eine kurze Sommerpause gemacht haben und in der letzten Folge ja unsere Kollegin Judyta Smykowski verabschiedet haben, sind wir jetzt in einem, ja, nicht ganz neuen Gewand, aber in einer neuen Konstellation hier unterwegs, nämlich: Karina Sturm ist jetzt Teil unseres Podcast-Teams. Und wie es immer so ist, wenn man sich neu kennenlernt, ist natürlich auch immer die Frage das Thema Behinderung. Denn wir haben alle drei eine Behinderung, die ja eine Rolle spielt. Und wie intensiv redet man darüber, wie häufig stellt man die Frage: Sag mal, was hast du eigentlich für eine Behinderung? Und was kannst du? Was kannst du vielleicht nicht? Barrieren, die auftauchen. Wie sehr ist das Thema, oder wie sehr sollte das Thema sein? Darüber möchten wir heute in diesem Podcast sprechen, und deshalb begrüße ich ganz herzlich Karina Sturm.
Karina:
Hallo.
Jonas:
Und altbewährt, immer noch am Tisch, seit der letzten Folge: Raúl Krauthausen.
Raúl:
Hast du mich eben alt genannt?
Jonas:
Ich wollte damit einfach nur noch einmal dir nachträglich ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren.
Raúl:
Vielen Dank, war sehr schön.
Karina:
Du bist der Älteste am Tisch trotzdem.
Raúl:
Das stimmt!
Jonas:
Genau, wir müssen natürlich dann, wenn wir jetzt schon sagen: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung – dann müsste ich natürlich auch meiner journalistischen Pflicht irgendwie nachkommen und sagen: Karina, was hast du denn eigentlich? Also jetzt hier… Behinderungen.
Karina:
Also, du darfst das.
Jonas:
Ich darf das fragen?
Karina:
Ja, auch weil wir uns schon eine Weile kennen. Aber du wüsstest ja auch gar nicht, dass ich überhaupt eine Behinderung hab, wenn ich es dir nicht eh schon vorher erzählt hätte.
Jonas:
Weil ich sie nicht sehe. Und jetzt nicht aufgrund meiner Sehbehinderung, sondern weil ich sie einfach nicht…
Karina:
Genau, weil du sie auch so nicht sehen würdest.
Jonas:
Okay. Heißt also, du hast eine unsichtbare Behinderung und, wie im Jingle noch angefügt, eine chronische Erkrankung. Aber bleibst du bei dieser Aussage, also ist es ein Unterschied, ob man jetzt sagt, okay, ich habe etwas, was in die und die Richtung geht oder ob man es komplett offenlegt und sagt okay, ich habe folgende Diagnose?
Karina:
Nein, ich spreche sehr viel über meine Diagnose, hauptsächlich, weil es für mich extrem schwierig war, überhaupt eine zu bekommen, weil diese sehr selten und unbekannt ist. Deswegen ist es für mich sehr wichtig, da viel Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Und vielleicht sollte ich einfach mal die Diagnose ist es doch endlich mal sagen.
Jonas:
Jetzt sag es doch endlich…
Karina:
Also, dass ich habe eine genetische Bindegewebserkrankung, und die heißt Ehlers-Danlos-Syndrom und sie zählt zu den seltenen Erkrankungen.
Jonas:
Fühlt man sich da schon…
Karina:
Special….
Jonas:
Also es ist so, wie wenn man so ein Sammelalbum hat…
Karina:
Man fühlt sich schon besonders, aber nicht auf eine gute Art.
Raúl:
Ab wann ist eine Erkrankung selten?
Karina:
Ich glaube ab unter 1:5000. Aber da möchte ich jetzt nicht für zitiert werden.
Jonas:
Aber es ist halt die Frage, ob man sagt, okay, es ist so ein Alleinstellungsmerkmal oder etwas, was einen persönlich ausmacht und was wenig Leute um einen herum haben. Aber dann kommt, glaube ich, demgegenüber die Sache, wie sehr ist die Erkrankung oder die Sache erforscht und wie kann man das… es ist ja immer das Thema Heilung – das schwebt ja so ein bisschen, glaube ich, über allem auch.
Karina:
Ja, das ist ein ganz schwieriges Thema. Kann man viel darüber diskutieren. Auch dass… Behinderung muss man eigentlich nicht heilen. Aber nachdem ich auch eine Erkrankungen habe, die mit chronischen Schmerzen kommt, die würde ich zum Beispiel schon sehr gern loswerden.
Jonas:
Wie äußert sich das, also, ich meine, wir haben ja gesagt, okay, kein Rollstuhl, kein Rollator. Das wäre ja auch irgendwie… wir haben ja kurz darüber uns den Kopf zerbrochen. So… wie nennen wir den Claim unseres Podcasts und gibt es irgendwie einen Gegenstand oder was dich, ja, nicht outet, aber was das erkennen lässt?
Karina:
Es gibt durchaus… ich meine, das ist ein Spektrum. Und ich habe viele verschiedene Hilfsmittel und ich nutze noch keinen Rollstuhl oder zumindest nur ab und zu. Aber es gibt auch Leute, die nutzen regelmäßig einen Rollstuhl und andere nutzen einen Stock, einen Rollator, Bandagen, Orthesen, also ganz viele verschiedene Hilfsmittel, je nach Tagesform.
Raúl:
Was ich gerade so faszinierend, weil jetzt schon in den ersten Minuten mehrere Themen angeschnitten wurden, die wir in den letzten 40 Ausgaben auch schon mal thematisiert haben, also zum Beispiel Heilung. Und dann gibt es natürlich Rollifahrer wie mich, die sagen, ich will nicht geheilt werden, aber sobald Schmerzen im Spiel sind, wie du sagst, ist das natürlich noch mal eine andere Nummer, die wir gar nicht beurteilen können. Und dann, was mich wirklich die ganze Zeit auch in den letzten Monaten und Jahren genervt hat, wenn Behinderung thematisiert wird – und da muss ich mir auch an die eigene Nase fassen – dann ist immer irgendwie immer jemand im Rollstuhl der redet. Jemand der gehörlos ist im Radio ist super selten. Jemand mit einer Lernschwierigkeit ist super selten, jemand der schwer zu verstehen ist, ist super selten, und jemand mit chronischer Erkrankung ist auch super selten. Oder er redet darüber nicht oder sie. Und vielleicht ist das sogar auch das nächste Level dieses Podcasts, noch mal die Themen anders zu beleuchten als diese Klassiker, die wir immer gemacht haben.
Jonas:
Ja, ich meine, Rollstuhl ist halt einfach sehr plakativ.
Raúl:
Ja, aber blind und Radio ist auch sehr plakativ. Also, das ist ja auch so obvious, dann machst du halt Radio – gibt sehr viele blinde ModeratorInnen und DJs und so.
Karina:
Ich habe ganz lang mich überhaupt nicht getraut, das Wort Behinderungen für mich selber zu verwenden, weil ich immer das Gefühl hatte, ich darf das nicht, weil ich nicht behindert genug bin.
Jonas:
Aber wer sagt das? Also ich meine, das ist ja, wenn man sich irgendwie eingeschränkt fühlt, es hat ja auch häufig diese, wenn es um die Begrifflichkeiten geht, um den Unterschied, sagt man jetzt Behinderung oder Beeinträchtigung. Ich finde beides okay, also Behinderung ist ja trotzdem das, was die Selbstbezeichnung ist und auch verwendet werden sollte und auch raus aus der Schimpfwort-Ecke kommen sollte. Manche Leute sagen auch eher Beeinträchtigung, was noch einmal eher dieses Medizinische im Blick hat, dass es irgendetwas gibt, was einen etwas hindert. Und ich finde, sobald man sich irgendwie eingeschränkt fühlt oder beeinträchtigt fühlt in seinem Alltag – warum nicht?
Karina:
Weil das Umfeldes das nicht wirklich versteht. Ich kann auf beiden Beinen laufen. Ich kann im Alltag, wenn ich vor meine Tür gehe, sieht mir per se niemand an, dass ich tatsächlich irgendein Problem habe. Also solche Dinge wie chronische Schmerzen, so was sieht man nicht.
Jonas:
Ja, du läufst ja nicht die ganze Zeit „AHHH, AHHH…“
Karina:
Meistens nicht – manchmal. Aber ich glaube, mir wurde auch immer vermittelt, dass die einzige Behinderung, die es im Endeffekt gibt, ist jemandem im Rollstuhl. Und dann fühlt man sich irgendwie einfach den Menschen gegenüber nicht behindert genug. Und wie, als würde man irgendwie den Menschen was wegnehmen und für sich selber claimen.
Jonas:
Raúl, du bist im Rollstuhl unterwegs, hast du Bock, über deine Diagnose zu sprechen? Also was hast du eigentlich?
Raúl:
Also ich habe ja das Privileg, dass man das googeln kann inzwischen. Ich glaube auf Wikipedia steht, was meine Behinderung ist. Ich habe selber aber auch jahrelang den Fehler gemacht, bereitwillig ungefragt random people meine Behinderung zu erzählen, meine genaue Diagnose, einfach, weil man dachte, das will mein Gegenüber wissen. Bis ich irgendwann auch erkannt habe, auch zum Schutz meiner eigenen Würde, dass man das nicht jedem aufs Brot schmieren muss und man auch das Gegenüber in dieser Unklarheit lassen kann – unsicher zu sein. Was hat er oder sie denn jetzt? Und wenn er oder sie es wirklich wissen will, so, wie Karina sagt, dann erzählt man das vielleicht nach ein paarmal, die man sich kennengelernt hat. Aber es ist keine geile Dating-Frage.
Jonas:
Ja, kann ich verstehen. Bei mir ist es häufig irgendwie so, dass ich dann auch nicht über meine Diagnose spreche. Also Thema Sehbehinderung ist da. Und es war schon der Unterschied, ja, Sehbehinderung, aber nicht blind.
Raúl:
Wie gut siehst du denn noch?
Jonas:
Genau, das ist die häufigste Frage, wo ich mir auch manchmal denke so, okay, ich hab mal darüber nachgedacht, so… nehme ich irgendein Bild von einer Landschaft oder aus einer Stadt und bearbeitet es in Photoshop so nach, dass ich das dann Leuten zeigen kann und dann immer sagen kann: So viel!
Karina:
Geht das?
Raúl:
Was schreibst du dann….drei? Was ist denn dann auf dem Bild zu sehen? Also, sorry, jetzt mal kurz…als sehbehinderter Mensch an Photoshop sitzen und ein Bild machen – ist es dann doppelt schlecht zu erkennen? Verstehst du, was ich meine? Musst du HD auf SD runterrechnen, damit du überhaupt…..?
Jonas:
Nein, es ist dann Minus mal Minus. Wenn ich sehr schlechte Bilder angucke, dann sehe ich die sehr sehr scharf.
(lacht)
Raúl:
Okay, aber ich denke dann so die ganze Zeit, was soll denn die Person jetzt mit dieser Information eigentlich anfangen? Dass du jetzt irgendwie… keine Ahnung… in der Mitte was siehst oder alles unscharf oder alles grau? Ich würde einfach sagen, nee, bei mir sind alle Menschen nackt.
Jonas:
Ja…..
Raúl:
Es kann auch einschränken.
Jonas:
Vor allem in Bewerbungsgesprächen.
Raúl:
Busfahren – wie auch immer – alle nackt.
Jonas:
Ja, wäre schön.
Raúl:
Nein, situationsbedingt.
Aber ja, wie erklärt man das? Also ich merke zum Beispiel, wenn ich den Leuten sage, ich habe Glasknochen… so, jetzt wissen es alle…. dann geben sie mir nicht mehr die Hand bei der Begrüßung, weil sie Angst haben mir die Hand oder den Arm zu brechen. Wenn sie es aber nicht wissen, dann geben Sie mir die Hand. Das heißt, ich mache mich behinderter, durch das Preisgeben meiner Diagnose…
Karina:
Du könntest einfach das Fachwort verwenden, dann wüsste keiner, was das ist.
Raúl:
Das weiß ich ja selber nicht. Osteogenesis imperfecta – dann stehen die Leute mit noch mehr Fragen im Raum.
Karina:
Ja, stimmt.
Jonas:
Imperfekter? Gibt es auch Plusquamperfekter?
Raúl:
Ja, oder Osteogenesis perfekta. Das wäre so wie „Unbreakable“ mit Bruce Willis.
Jonas:
Ja, das, was du eben gesagt hast, also das, was bringen die Informationen? Oder ist es ein Nachfühlen? Dann eher, dieses „Ja, echt Scheiße…/cool.“
Raúl:
Ja, echt schwierig.
Jonas:
Aber deshalb ist gerade eben auch dieses Thema: unsichtbare Behinderung…ich meine, gut. Raúl, jetzt hast du es eben auch noch mal gesagt, was du hast, und man kann es googeln. Und Rollstuhl ist sehr plakativ. Und das ist auf der einen Seite, ist es vielleicht gut, dass es irgendwie eindeutig ist und dass man vielleicht auch dann vielleicht nicht so häufig gefragt wird. Iim anderen Fall, also gerade bei einer unsichtbaren Behinderung, und ich finde, eine Sehbehinderung…ich geh ja auch nicht mit einem, mit dem langen Stock durch die Gegend und habe auch keinen keinen Blindenführhund. Wobei so ein Sehbehinderten-Alpaka, das wäre also…
Karina:
Das wäre toll!
Raúl:
Aber wenn du dir das Tier aussuchen kannst, willst du ein Alpaka? Also, ich würde mir dann eher ein Äffchen nehmen.
Karina:
Aber Alpakas sind so süß.
Raúl:
Aber ein Äffchen ist viel praktischer.
Jonas:
Aber ist das nicht viel zu hektisch? Wenn dann einen Sehbehinderten-Elefant. Wenn ich dann morgens mit…
Raúl:
…mit dem Bus….
Jonas:
Nein, aber das ist ja dann so, dass man sich trotzdem ja unbehelligt durch die Gegend bewegen kann und so in der Masse untergeht. Also das finde ich manchmal sehr angenehm, weil man nicht sofort von Weitem erkannt wird „Ah, da ist ein Behinderter“ oder so. Aber musst trotzdem dich immer wieder outen. Also, wie ich häufig irgendwie schon im Supermarkt gefragt habe, wo irgendwo Gegenstände sind und die Verkäufer*innen dann gesagt haben „Ja…da vorne.“ und zeigen irgendwie mit dem Finger dahin, wo ich dann halt wieder sagen muss „Ja, schön. Aber können Sie es mir genauer zeigen, weil ich erkenne es nicht.“ „Wie…äh…ach so!“ Du musst dich immer wieder – Stichwort: was sieht man? – du musst dich immer wieder nackig machen.
Karina:
Alles hat halt irgendwie zwei Seiten. Ich meine, auf der einen Seite ist es also für mich persönlich, gerade als Frau, wenn ich irgendwie alleine unterwegs bin, trage ich meistens keine Hilfsmittel. Dann werde ich eben als nicht behindert durchgehen, weil es auch ein Sicherheitsding ist, gerade bei mal alleine unterwegs ist als Frau. Aber auf der anderen Seite stehe ich dann aber auch gleichzeitig halt im Bus und habe keinen Sitzplatz und muss irgendjemanden fragen, ob er für mich aufsteht. Und es funktioniert nicht immer ganz so gut, weil ich halt eben aussehe wie eine junge oder mittelalte – mittlerweile – gesunde Frau.
Jonas:
„Junge Frau, stehen Sie mal auf hier…“
Karina:
Ja, da wird man sich dann teilweise wünschen, dass man es sehen könnte, dass man eine Behinderung hat. Aber dann zum Beispiel bin ich mit Raúl unterwegs zum ersten Mal wirklich und da kommt ein Kind auf ihn zu, und das erste, was das Kind sagt, ist: „Wieso bist du so klein?“ Und Raúl ist total lässig und cool und nett mit dem Kind. Und ich war nur halt da total genervt und dachte mir, es ist echt jeden Tag so.
Raúl:
Ja, das ist definitiv jeden Tag so.
Karina:
Aber das ist auch super anstrengend. Also da zum Beispiel, also die Erklärung möchte ich nicht jeden Tag geben, glaube ich, oder gewöhnt man sich da irgendwie dran?
Raúl:
Ich bin vor Kurzem nach Brandenburg gefahren mit dem Regionalexpress, und da ist echt so eine Familie eingestiegen, mit gefühlt 20 Kindern. Und die Erwachsenen haben sich entspannt zurückgelehnt, weil ihre Kinder ja jetzt beschäftigt waren. Und zwar mit mir. Nicht nur, dass ein Kind gefragt hat: „Warum bist du so klein?“ Sondern jedes Kind hat diese Frage dann noch Mal gefragt. Und dann musst du es jedes Mal neu die gleiche Antwort natürlich auch gehört bekommen. Und das war dann so, nach einer halben Stunde war ich dann irgendwann auch sauer auf die Erwachsenen, dass sie dann einfach ihr Kind so bei mir abgestellt haben, oder ihre Kinder und ich dann irgendwann zu der einen gesagt habe: Also, es tut mir leid, aber ich denke, ich habe jetzt meinen pädagogischen Auftrag erfüllt. Dass sie jetzt doch bitte ihre Kinder wieder einsammeln mögen, weil ich ja auch irgendwie gerade keinen Bock auf diesen Regionalexpress bei 35 Grad Hitze hab.
Jonas:
Also, ich meine, wenn du schon aktivistisch unterwegs bist, dann…
Raúl:
Einmal Aktivist, immer Aktivist.
Karina:
Von dir erwartet aber auch, glaube ich, jeder, dass du ständig eine Antwort auf alles hast.
Raúl:
Aber, da bin ich, glaube ich, inkognito unterwegs gewesen. Das war jetzt ohne Promi-Bonus. Aber das heißt, ihr beide könnt die Rolle spielen, so zu tun, als hättet ihr keine Behinderung.
Karina:
Definitiv.
Jonas:
Ja.
Karina:
Sehr einfach.
Raúl:
Das kann ich halt überhaupt nicht.
Karina:
Erzähl.
Raúl.
Also ich verlasse das Haus und bin der Typ im Rollstuhl – so. Und man kennt mich, man grüßt mich, meine Partnerin sitzt im Rollstuhl. Wir werden gegrüßt, wenn wir einzeln unterwegs sind im Stadtteil werden wir gefragt: Wo ist denn ihre andere Hälfte? Wir sind so Besitz irgendwie… keine Ahnung. So ein bisschen wie …wenn es so ein Kinder-Wimmelbuch wäre, dann wäre die Frage: und jetzt suchen wir das rollstuhlfahrende Pärchen.
Jonas:
Also wo ist Walter? Oder…wo ist Raúl?
Raúl:
Genau! Oder „Guck mal, guck mal, da ist er ja schon wieder, oh, guck mal! Heute ist er beim Bäcker“… und so. Und okay, man kennt uns, wir gehören irgendwie anscheinend zum Inventar dieses Stadtteils.
Jonas:
Aber ich hab mich gerade gefragt, fragen die dich, wo ist deine andere Hälfte, weil sie nach deiner Partnerin fragen oder weil du so klein bist?
Lachen!
Raúl:
Das ist sehr witzig! Nee, ehrlich gefragt, fragen die nach meiner Partnerin. Und sie wird auch nach mir gefragt. Also, ich finde es irgendwie witzig, und ich nenne uns dann – das mag sie ja überhaupt nicht hören, wir sind die Kleinis hier in der Stadt, aber das mag sie halt nicht, das Wort. Aber ich finde es irgendwie witzig. Lange Rede, kurzer Sinn. Es ist ja jetzt Juli und der Juli, wie wir alle wissen, ist der Disabiliy Pride Month – also der Monat des Stolzes von Menschen mit Behinderung. Wobei Stolz und Deutsche, glaube ich, sowieso schwierig konnotiert ist, immer aber auch so die Anerkennung der Leistungen und auch der Community von behinderten Menschen. So ähnlich, wie es dem Pride Month von queeren Menschen gibt im Juni, ist der Juli der Pride Month von behinderten Menschen. Und was mir in den letzten Monaten klar wurde, Jahren klar wurde, dass wenn Leute zu mir sagen: also ich weiß nicht, wie du hast alles schaffst – oder: ich bewundere das, wie du das machst, ich an deiner Stelle könnte das nicht. Dann habe ich das früher immer so als Aggression empfunden. Da hab ich früher immer gedacht, ja, heißt es, du würdest dich an meiner Stelle umbringen? Also was willst du mir sagen? Und als ich mich dann aber mit diesem Pride-Begriff beschäftigt habe und dem Pride Month, ist mir klar geworden, dass diese Menschen eigentlich etwas anderes auch beneiden, nämlich die Akzeptanz der Behinderung. Und wenn ich als Mensch mit Behinderung, die die Behinderung nicht verstecken können, so wie ihr das vielleicht könntet…ich treffe ja jeden Tag die Entscheidung – jeden Tag bewusst oder unbewusst – du bist jetzt da draußen der Behinderte.
Jonas:
Du könntest auch sagen, ich gehe gar nicht mehr raus, weil du dich nicht so zeigen wollen würdest.
Raúl:
Genau – resignieren oder weitermachen? Die zwei Optionen hab ich im Leben gehabt. So, dann kann ich mir das mal neu stellen. Aber ich habe mich wahrscheinlich schon mit Kindesbeinen an schon den Frieden leben machend. Und ich stelle mir die Frage gar nicht so oft, und wenn ich mir jetzt… also ich kann mich auf den Kopf stellen und so tun, als hätte ich keine Behinderung. Und ich bin am Ende der Rollstuhlfahrer auf dem Kopf. Also das ist, das macht ja gar keinen Sinn. Wenn die Leute aber jetzt zu mir sagen: ich an deiner Stelle, könnte das nicht, dann meinen die eigentlich, dass sie irgendetwas in sich tragen, irgendeinen Makel, etwas, mit dem sie selbst unzufrieden sind – es kann in ihrer Kindheit liegen, an ihrem Körper liegen oder eine traumatische Erfahrung, mit dem sie noch nie zuvor groß mit jemandem gesprochen haben, außer den engsten Verwandten oder Freunden und sich wünschen würden, das zu können. Die Kraft zu haben, dazu zu stehen – und diese Entscheidung wurde mir genommen. Oder habe ich irgendwann getroffen. Entweder genommen pro Geburt – ich bin einfach behindert, so, kann man nichts machen. Oder ich habe mich dazu entschieden, damit umzugehen. Und diese Entscheidung bezeichne ich als Stolz. Also dazu zu stehen und würdevoll rauszugehen und zu sagen, ja, ich bin jemand im Rollstuhl mit Freude oder auch mal mit schlechter Laune. Und das… ich versuche noch, Worte dafür zu finden – ihr merkt, wie ich jetzt rumeiern. Aber ich finde es so faszinierend… wie wäre mein Leben eigentlich, wenn ich so tun könnte, als hätte ich keine Behinderung? Und wann würde ich das nutzen, wenn würde ich es mache? Also wahrscheinlich im Regionalexpress, wenn ich diese Kinder nicht bespaßen will.
Karina, lachend:
Dann tätst du auf dem Boden sitzen, weil kein Sitzplatz mehr frei ist.
Raúl:
Genau. Und dann wäre ich schon gar nicht reingekommen im Zug.
Karina:
Ja, so stehst du vor dem Zug und kommst nicht rein.
Jonas:
Wenn man die Tatsache sieht, dass man die Anzahl der Menschen mit Behinderung nimmt, die es in Deutschland gibt und die in Deutschland leben, haben ja quasi nur nur 3,3 Prozent ihre Behinderung seit der Geburt. Und bei mir ist es ja auch so gewesen, dass ich meine Behinderung im Laufe des Leben erworben habe. Vor neun Jahren war das der Fall, und es hat einfach auch sehr lange gedauert, bis ich quasi meine eigene Behinderung akzeptiert habe und gesagt habe okay, das ist jetzt so. Und ich fühle mich zugehörig zu der Gruppe der Menschen mit Behinderungen, weil ich einfach auch vorher schon, du kriegst ja auch schon vorher so ein bisschen mit, wie wie Menschen mit Behinderung diskriminiert werden, was für Barrieren es gibt. Und wenn du dann quasi sage ich okay, ich bin jetzt Teil dieser Gruppe, die diese ganze Scheiße jeden Tag irgendwie miterleben muss. Die ganzen Umwelterfahrungen, die anderen diskriminierenden Menschen und so weiter. Das ist natürlich irgendwie so ein längerer Prozess gewesen. Deshalb finde ich diesen Umgang mit… Vielleicht ist dieses Pride in dem Sinne dieses Stolz sein, einfach auch ein Dazustehen, also das irgendwie für sich ja in Ordnung finden. Wie war es bei dir Karina? Hattest du, diese Frage hatten wir noch gar nicht, diese Behinderung seit der Geburt oder ist die irgendwann entstanden?
Karina:
Also eigentlich ist es angeboren. Aber wo ich wirklich gemerkt habe, dass ich chronisch krank bin, war mit 24…
Jonas:
Also letztes Jahr?
Karina:
Ja, danke Jonas, charmant, wie immer. Aber für mich war es ähnlich wie bei dir, glaube ich also, dass man gerade wenn man erst im Erwachsenenalter, aber trotzdem noch relativ jung, chronisch krank wird, dass man noch weiß, wie das Leben vorher war. Also da gibt es quasi ein vor dem krank sein und ein nach dem krank sein. Und vor allem diese Periode von vielleicht ein paar Jahren oder so, die man von der einen Welt in die andere quasi geht, weil es doch ziemlichr Einschnitt oder große Einschnitte ins Leben ist, ist mit viel Trauer verbunden, weil man erst mal irgendwie betrauert, was man alles nicht mehr kann. Und ich weiß ja noch genau, dass ich viel Volleyball gespielt habe, was ich jetzt nicht mehr kann. Und dann verliert man in dem Moment eigentlich alles, was einen ausgemacht hat, also seine komplette Identität und fühlt sich irgendwie völlig verloren. Und dann aber eine Community zu finden, die mich mit offenen Armen aufnimmt und wo ich auch so viel irgendwie das Gefühl habe, dass ich was beitragen kann, was mir mehr oder weniger sogar nur ins Sinn im Leben gegeben hat, das glaube ich, ist für mich ist für mich Disability Pride , ein Teil von diesem größeren Ganzen zu sein. Und von dieser Community, die so hart arbeitet, Barrieren abzubauen und irgendwie gegen Ableismus kämpft.
Raúl:
Aber sind wir jetzt Berufsbehinderte geworden?
Karina:
Also du definitiv. Lachen. Also ich bin ja Journalistin. Lachen
Jonas:
Wir sagen doch, wir sind drei Journalisten, Raúl, du doch auch.
Raúl:
Ich habe was mit Kommunikation studiert.
Karina:
Ja, aber du bist trotzdem mehr Aktivist.
Raúl:
Aber sind wir das nicht irgendwie alle?
Karina:
Ja. Ich meine, das ist sehr fließend. Der Übergang.
Jonas:
Aber Karina war es bei dir auch so in der Retrospektive dass du da immer so ein bisschen auch immer unterschieden hast von vor und nach der Behinderung?
Karina:
Ja,
Jonas:
Manchmal ist es nicht mehr so hart drin, aber so, wie man früher unterschieden hat. Das war vor dem 11. September und nach dem 11. September. So wie: das war vor Corona und nach Corona. Das war vor der Behinderung, nach der Behinderung. Das war so wie für andere Leute so ein einschneidendes Erlebnis, also auch wenn es natürlich nicht irgendwie Tag X gab oder so. Aber dass man schon irgendwie, „stimmt, dieses Erlebnis hatte ich damals noch, als ich noch sehen konnte“.
Raúl:
Aber das war doch schleichen bei dir oder nicht?
Jonas
Jaja. Aber trotzdem, dass man, wenn man sich zurückerinnert, an gewisse Erlebnisse. Dass man dann auch quasi weiß, ist es eher dem zugeordnet, ohne Behinderung, oder ist es dem zugeordnet mit Behinderungen.
Raúl
Also dein Körper hat sich schneller verändert, als du es wahrhaben konntest.
Jonas:
Ja ja. Und und jetzt kommt auch noch das Alter dazu. Lachen.
Raúl:
Ja, aber bei Karina war das so, warst dann irgendwann beim Arzt und der hat gesagt, Sie haben das und das.
Karina:
Ne. Bei mir war das tatsächlich schlagartig von einem Tag auf den anderen, wo es mir total schlecht ging. Und dann war ich ja eigentlich nur noch ein Jahr bettlägrig.
Raúl:
Ach krass.
Karina:
Und dann hat noch einmal drei Jahre gedauert, also vier Jahre insgesamt, bis ich dann tatsächlich eine Diagnose hatte. Und in der Zeit habe ich halt alle erdenklichen Therapien ausprobiert. So wirklich anfangen zu akzeptieren, dass man chronisch krank ist, kann man ja erst in dem Moment, in dem man eigentlich wirklich weiß, was es für eine chronische Krankheit ist. Und deswegen spreche ich auch so viel über Diagnosen, weil die für mich extrem wichtig war. Obwohl ich auch weiß, dass das problematisch ist, weil es hier so ein bisschen ins medizinische Modell füttert. Vielleicht sollte man kurz erklären, was das medizinische Modell von Behinderung ist.
Jonas:
Ja gerne.
Karina:
Also da wird im Endeffekt die Diagnose als was Schlechtes gesehen, als etwas, was man heilen muss und steht im Vordergrund vor der Person. Und ich habe das Gefühl, dass ich dadurch, dass ich so viel über die Diagnose spreche, dass ich da auch so ein bisschen reinfüttere. Aber auf der anderen Seite ist es auch nicht so, dass meine Diagnose bei mir irgendwie super im Vordergrund steht. Es ist halt einfach nur ich möchte, dass andere Leute nicht die Erfahrungen machen wie ich und so lange brauchen, bis sie überhaupt eine bekommen.
Jonas:
Demgegenüber steht ihm auch das soziale Modell von Behinderungen, wo man dann sagt okay, und das ist ja das Schöne an diesem Wort Behinderungen, dass man ja sagen kann, man hat eine Behinderung, und man wird auch behindert. Also das Sozialmodell sagt ja, was wir auch schonmal hier besprochen haben. Mir geht es jetzt wirklich gerade in dem Moment körperlich schlecht, mit Schmerzen oder was auch immer. Aber es ist ja nicht so, dass ich morgens aufstehe und sage guten Morgen, Jonas, du Mensch mit Behinderung, sondern ich merke meine Behinderung erst dann, wenn ich auf Barrieren treffe oder auf Diskriminierung. Also deshalb dieses Behindert-werden durch die Gesellschaft, durch die Umwelterfahrungen und so ist halt eher das soziale Modell von Behinderung, und die beiden stehen halt auch in Wechselwirkung. Beides gehört irgendwie dazu. Also ich finde, beides hat seine Berechtigung in dem Sinne. Aber natürlich ist, wenn es nur rein auf das Defizitäre legt, den Fokus, und sagt: Es gibt die Erkrankung? Es geht darum, was kann die Person nicht? Immer das Schlechte, das Defizit, dann ist es natürlich sehr einseitig, weil man sich dann gar nicht mehr um die Barrieren kümmern muss, weil die Person ist ja sozusagen selber schuld. Sie kann ja nicht.
Raúl
Ich finde das total interessant. Also jetzt, zum ersten Mal wird mir klar, dass meine Rolle als jemand, der eine Behinderung hat, jemand kennt. Also klar, Querschnitt kennt man auch. Aber wenn ich den Leuten sagen, ich habe Glasknochen, dann hat jeder schon mal dazu irgendwas gehört. Und jeden Arzt, den ich spreche, hat davon im Studium gehört. So die machen alle eine Stunde Glasknochen, weil es nah an Osteoporose und keine Ahnung was und Knochen ist ein Ding bei Menschen haben sie relativ viele davon und ist doof, wenn sie nicht gehen. Dann ist halt Glasknochen noch ein Teil des Studiums. Und mein Spezialist*innen–Arzt-Problem ist jetzt nicht, finde einen Arzt, der Glasknochenkrankheit kennt. Mein Spezialist*innen-Problem ist: Welcher Arzt traut sich zu, meine Ohr-Knöchelchen zu operieren, die besonders klein und fragil sind. Aber alle wissen, das ist ein Problem. Bei euch ist es so, die Leute wussten vielleicht auch gar nicht, was ihr habt, haben rumgestochert, rumdiagnostiziert, ewig gesucht.
Karina:
Eigentlich noch für schlimmer, weil das zurückgehen auf: die Leute glauben auch gar nicht, dass dir was fehlt, wenn du als 24-jährige, gesund aussehende Frau, die vorher sehr, sehr sportlich war, dadurch auch dementsprechend relativ athletisch ausgesehen hat, dich da hinsetzt und ihm im Endeffekt sagst du fühlst dich todkrank gerade und hast fruchtbare Schmerzen und der Arzt meistens männlich und ein bisschen älter, so sagt dir, so eine junge Frau wie du, nee, das muss Stress sein. Du bist halt ein bisschen depressiv, mach mal mehr Yoga oder trinkt diesen komischen Früchtetee hier. Lachen
Raúl
Wo man sich auch denkt: So keine Ahnung. Einundzwanzigstes Jahrhundert. Und die argumentieren noch mit Stress und Früchtetee.
Karina
Weil halt hier Gender Bias ein großes Problem in der Medizin ist vor allem für junge Frauen in Machtgefällen zu als Ärzten.
Raúl
Wenn du jetzt ein junger Mann gewesen wärst?
Karina:
Habe ich das Gefühl, würde teilweise besser laufen, weil allgemein da gehen diese Stereotypen rein: von Männern wird nicht erwartet, dass die sich unnütz beschweren bei Ärzten. Da wird davon ausgegangen, dass wenn die Schmerzen haben, dann haben wir die Schmerzen. Wenn Frauen das machen, dann sind die bißchen hysterisch. Die existieren immer noch in der Medizin. Und es spricht keiner drüber.
Raúl
Du hast mich vor ein paar Wochen nachhaltig nachdenklich gemacht. Da hast du mir erzählt, dass du ewig lang die Diagnose gesucht hast, unfassbar viel Geld ausgabst. Und dann deine Symptome bei Chat GPT eingabst. Lachen.
Karina.
Das habe ich getan.
Jonas:
Und was hast du?
Karina:
Ich habe meine Diagnoseliste von tatsächlich ganz am Anfang der ersten Woche wo ich krank wurde, habe ich bei Chat GPT rein und habe Chat GPT gefragt: Das ist die Patientin. Welche Diagnosen kämen in Frage und Chat GPT hat mir vier Diagnosen ausgespuckt alle, die relativ gut zu den Symptomen passen und meine Diagnose war eine davon. Hat 5 Minuten gedauert. Lachen.
Raúl
Kann das bedeuten, dass die Diagnostik revolutioniert werden könnte mit solchen…
Karina
Hoffentlich. Nein, ich meine, das Ding ist halt. Künstliche Intelligenz hat nicht wirklich irgendeinen Bias. Da gibt es nicht wirklich diesen Gender-Bias. Chat GPT interessiert sich wenig dafür, ob das ein Patient oder eine Patientin ist, oder non-binary. Oder also da gibt es einfach diese Stereotypen nicht. Aber wenn du von einem Arzt sitzt und der denkt von vornherein in dem Moment, in dem du reinkommst, auf beiden Beinen laufend, denkt es sich schon, die kann nix haben, und du hast den Stempel schon im Endeffekt drauf. Und dann gucken die ja gar nicht mehr weiter. Chat GPT macht das nicht. Weil…
Raúl
Also interessant wäre gewesen, wenn du geschrieben hättest: ein Patient kommt und hat folgende Diagnosen
Karina
Das sollte ich noch ausprobieren. Ich habe es allerdings auf Englisch gemacht, da ist es eh egal.
Jonas
Sind trotzdem drei Diagnosen, die falsch sind. Also im Endeffekt ist es immer die Frage, was man draus macht. Und ich meine, Chat GPT ist auch immer nur so intelligent mit dem, was es gefüttert wurde. Und was ist. Und vielleicht ist eher auch das ein Zeichen dafür, dass, wenn deine Diagnose da unter diesen vieren war, dass es eben doch gar nicht so so unbekannt ist, wenn selbst Chat GPT die kennt. Wenn ich Chat GPT frage, wer ist Jonas Karpa, sagt der, keine Ahnung, weiß ich doch nicht. Den kenne ich nicht. – Oder er findet was. – Oder das.
Karina
Mit Biografien ist er nicht sehr gut, stimmt.
Raúl
Warum sagen wir eigentlich immer „er“?
Karina
Ich weiß nicht, ich habe mir das irgendwie angewöhnt. Für mich ist das ein „Er“.
Raúl
Ich nenne sie jetzt immer „Sie“. Ab sofort werde ich sie „Sie“ nennen.
Karina
OK, Ich bin dafür, dass wir „They“ sagen
Raúl
Ja
Jonas
Ja
Raúl
Ja, also, ich habe jetzt mal eine Frage noch: Wenn man so lange eine Diagnose sucht und dann bekommt man am Ende den Namen genannt, kann es ja auf der einen Seite erleichternd sein…. Aber, bleibt ein Rest Zweifel?
Jonas
An der Diagnose?
Karina
Eigentlich nicht. Weil zu dem Punkt war es dann schon sehr eindeutig und vor allem nachdem es genetisch bedingt ist, also durch Gene bestätigt. Und ich glaube, Gene lügen nicht wirklich…
Raúl
(singt)…Gene lügen nicht
Jonas
Aber wenn wir jetzt noch mal zurückkommen zu unserer…
Raúl:
Podcast-Folge, genau
Jonas:
…nochmal zu der Thematik. Also wie intim darf man auch über Behinderungen sprechen oder beziehungsweise, wie sehr steht die Behinderung eben auch im Vordergrund? Ist sie für uns als podcast, die „Neue“ neue Norm? Wie auch immer…. Nein, aber hat es eine Relevanz, dass wir Journalist innen mit Behinderungen sind? Müssen wir hier proaktiv immer auch über unsere Behinderung oder, in deinem Fall Karina, dann quasi über die Diagnose sprechen, um uns zu legitimieren, dass wir hier ein podcast sind, zum Thema Behinderung? Wir haben ja ganz am Anfang gesagt, wir können doch einfach sagen: Die Neue Norm – Drei Journalist*innen, Karina Sturm, Jonas Kaper und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft…Geht ja auch!
Karina
Wir haben ja auch irgendwie eine spezielle Perspektive durch die Behinderung, würde ich denken. Das ist ja eigentlich auch der Grund, warum wir über Behinderung sprechen. Oder wäre es nicht seltsam, wenn nicht-behinderte über Behinderungen sprechen würden, wie wir das gerade tun?
Raúl
Aber vielleicht könnte man das so machen, dass wir das nur noch auf Nachfrage sagen
Karina
Ja, aber es weiß ja ohnehin jeder, ich mein‘, Du hast nen Rollstuhl und dich kennt jeder
Raúl
…den man im Radio nicht sieht…
Karina
Das stimmt!
Raúl
Also ich bin inzwischen an einem Punkt, ich verstecke meine Behinderung nicht mehr, also auf Fotos soll man sehen, dass es einen Rollstuhl gibt. Da bestehe ich auch drauf, weil der ist nun mal Teil meiner Identität.
Jonas
Hast Du da sonst immer so eine große Decke darüber gehüllt?
Raúl
Keine Ahnung, einfach nur so sonst immer bis zur Brust….
Jonas
So, dass die Leute denken, das ist ein großer Sitzsack in dem ich sitze?
Raúl
Aber gleichzeitig eben, die Fotos verschweigen, was meine Diagnose angeht. Alles geht dann quasi auch erst mal sehr ins Private. Und im Radio …klar warum reden wir über dieses Thema? Weil wir uns darin‘ auskennen, warum kennen wir uns aus? Weil wir eine Diagnose haben. So das ist dann ja auch okay. Aber ich glaube, für die Hörerinnen und Hörer, die zum ersten Mal diese Sendung hören, macht es im Intro vielleicht Sinn, das zu erklären, warum wir diese Sendung so machen wie wir sie machen. Aber ich würde jetzt ungerne die nächsten 41 Folgen jedes Mal über Glasknochen reden.
Jonas
Also, ich sage über meine Behinderung auch relativ selten was. Also auch gerade wenn ich irgendwie Workshops gebe zu gewissen Themen oder als Speaker auftrete oder in anderen Bereichen journalistisch aktiv bin, sage ich, dass ich eine Behinderung habe, auch selten. Also – warum?
Karina
Ich habe das Gefühl, ich muss aus meinem Profil auf Instagram entfernen: „Journalistin mit Behinderungen “. Vielleicht mache ich einfach nur Journalistin!
Jonas
Das Instagram-Profil von Dir, Karina, verraten wir einfach mal in unseren Shownotes auf www.dieneuenorm.de für alle, die etwas mehr über dich erfahren möchten, weil du ja jetzt fester Bestandteil dieses Podcasts bist, und somit ja regelmäßig, genauso wie wir, einmal im Monat zu hören bist, was uns sehr, sehr freut.
Raúl
Auch ich freue mich sehr, dass du dieses Team bereicherst. Ach Gott, in sowas bin ich schlecht… Ich habe dieses Thema, sichtbare, unsichtbare Behinderung, in wieweit reden wir darüber, in wie weit müssen wir darüber reden, wollen wir auch darüber reden, ist Aufklärung Teil unserer Aufgabe? Ja oder nein? Müssen wir alle aufklären? Werden mir jemals alle aufgeklärt bekommen? Diesen Fragen werden uns in den nächsten Folgen wahrscheinlich immer wieder öfter neu und anders begegnen. Und ich habe, für mich jetzt, in den letzten Monaten wirklich das Gefühl, dass ich eine neue Erkenntnisstufe erreicht habe, einfach durch das Treffen von Menschen mit anderen Behinderungen als meiner. Oder Menschen, die nicht nur im Rollstuhl sitzen, sondern manchmal auch andere Behinderungen haben. Und es ist so faszinierend, auch meine eigenen Vorurteile und Stereotypen zu hinterfragen und abzulegen und dann eigentlich…, und das ist das Geschenk an alle Hörerinnen und Hörer, …es geht ja gar nicht darum, wie jemand etwas macht. Es geht doch um das Ergebnis und das finde ich so…das ist mir zum ersten Mal klargeworden, als ich meiner Partnerin dabei zugesehen habe, wie sie einen Einkaufswagen ausräumt. Es sieht halt anders aus. Und ich dachte mir, ich will jetzt helfen, ich will jetzt helfen, ich will jetzt helfen…
Jonas
Und dann hast Du gesagt so: „Nö…, mach mal“
Raúl
(Lacht) Ich kann auch gar nicht helfen
Jonas
Das hab‘ ich zum Beispiel jetzt gerade total vergessen. Ich habe gedacht, du sitzt daneben so und denkst: Ja, ja, lass die mal machen.
Raúl
Dann halten wir halt an und wir können auch nicht mal gucken, dass wir jemanden mitnehmen, jemanden finden, der uns beim Einkaufen hilft. Dann sagt sie so: Hör mal, ich mache das mein Leben lang schon so! Das ist schon okay. Es war irgendwie geil, solche Perspektiven neu zu sehen…. Das Ergebnis ist das Ziel, dass man am Ende den vollen Kühlschrank hat.
Jonas
Also, natürlich ist es wichtig, dass man nen vollen Kühlschrank hat, aber es muss natürlich auch etwas reinpassen. Raúl, bei dir wieder das Video bei den Sommertemperaturen…du begibst dich auch häufig auch mal in den Kühlschrank, oder?
Raúl
Also wenn ich am Kühlschrank bin, aufgrund der Temperaturen draußen, dann ist wenig Platz im Kühlschrank. Deswegen haben wir auch nur H-Milch
(Alle lachen)
So, und wer von euch war schon mal im Kühlschrank. Wir reden immer über Behinderung, Defizit und so weiter und so fort….
Karina
Guck, und jetzt beneide ich Dich schon wieder!
Raúl
Siehste!
Karina
Das sind die Momente, in denen ich gern Raúl Krauthausen wäre!
Raúl
Behinderungsneid. Ich kenne Futterneid….
Karina
Beneidest du mich auch für meine unsichtbare Behinderung?
Raúl
Also wie gesagt, ich würde es gerne mal ausprobieren wie das so ist, so zu tun, als hätte man keine,…Ich war kurz davor zu sagen: “Schmerzen“…. Damit kenne ich mich auch aus, aber ich glaube, das ist eine andere Nummer!
Karina
Es gibt ja kein Ranking…
Raúl
Ja, genau!
Karina
Ich glaube, der Punkt, den du aufzeigen wolltest mit deiner Partnerin und dem Einkaufswagen war, dass Behinderung ein sehr breites Spektrum ist und wir alle unterschiedliche Fähigkeiten haben, aber irgendwie kreative Wege finden, Barrieren zu überwinden.
Jonas
Man könnte ja auch sagen: In der Behinderung getrennt – in der Sache vereint. Also unterschiedliche Behinderungen, aber alle haben wir irgendwie Herausforderungen oder auch Vorteile. Stichwort: Kühlschrank und Sommer, Stichwort: Unsichtbare Behinderung, und so weiter…. Man zieht sich ja die eigenen Vorteile auch raus und man ist halt eben auch kreativ, um irgendwelche Sachen umzusetzen und sein Leben so zu leben, wie man es gerne möchte. Und diese Kreativität werdet ihr auch vielleicht hören in den nächsten Folgen unseres podcasts: Die Neue Norm, wenn wir mit vielen interessanten Themen wieder auf euch warten und jetzt auch sehr froh sind, dass wir noch mal eine ganz andere Perspektive hier mit am Tisch sitzen haben und diese mit einfließen lassen können. Das war Die Neue Norm, der Podcast. Und wir freuen uns, wenn ihr dann beim nächsten Mal auch wieder mit dabei seid…Bis dahin – Tschüss