chronische Erkrankung – Transkript

Lesezeit ca. 25 Minuten

Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 42: „chronische Erkrankung“

Jonas:
Du sag mal, Karina, Raúl und ich, wir sind ja beide Menschen mit Behinderungen, hast du auch eine Behinderung?

Karina:
Ja, aber meine ist auch eine chronische Krankheit.

Raúl:
Muss ich jetzt also aufpassen, dass ich mich nicht anstecke?

Jonas:
Herzlich Willkommen zu „Die Neue Norm“, dem Podcast und erst einmal vielen Dank für die vielen Rückmeldungen, die wir bekommen haben, zu unserer letzten Folge, die ja die erste in der neuen Staffel ist von „Die Neue Norm“ in dieser neuen Konstellation. Das hat uns sehr gefreut. Ein treuer Zuhörer hat uns auch geschrieben, warum wir denn weiterhin „Die Neue Norm“ heißen und nicht uns jetzt umbenennen in „stürmische Karpafahrt nach Krauthausen“. Sehr kreativer Einfall, wie ich finde. Aber unsere Norm ist, dass wir weiterhin „Die neue Norm“ heißen und auch weiterhin in der ARD Audiothek zu hören sein werden. Ihr habt das auch gehört in dem neuen Jingle, dass es eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl und eine chronische Erkrankung ist. Und in dieser Podcast-Folge widmen wir uns dem Thema chronische Erkrankung. Wir fragen uns, was ist der Unterschied zwischen einer chronischen Erkrankung und Behinderungen? Gibt es da überhaupt Unterschiede? Und warum muss man unbedingt von Krankheit sprechen? Sind wir Menschen mit Behinderung wirklich krank? Darüber sprechen wir mit Karina Sturm und Raúl Krauthausen. Mein Name ist Jonas Karpa. Eine chronische Erkrankung? Karina, das ist quasi das, womit du jetzt in diesem Podcast verbunden bist. Ist es auch deine Selbstbezeichnung? Also würdest du dich selbst eher als Personen mit einer chronischen Erkrankung bezeichnen oder als Frau mit Behinderung?

Karina:
Ich glaube eher, als jemand mit einer chronischen Erkrankung. Einfach weil ich irgendwann ja auch einmal gesund war. Also für mich gab es ganz klar diesen Einschnitt, von dem einen zum anderen und also per Definition ist meine Erkrankung eine Erkrankung, die auch eine Behinderung sein kann, aber nicht muss.

Jonas:
Das hab‘ ich mich auch die ganze Zeit gefragt: Also, ist das eine nicht auch das andere? Also, quasi, ist jede Behinderung eine chronische Erkrankung? Oder ist jede chronische Erkrankung auch eine Behinderung? Also, Raúl, du mit Glasknochen brichst du dir chronisch die Knochen oder ich als Mensch mit Sehbehinderung kann ich chronisch nicht gut sehen?

Raúl:
Das ist eine gute Frage. Ich weiß jetzt nicht genau, was die medizinische Definition ist. Aber ich würde sagen, ich bin chronisch gefährdet, mir schneller die Knochen zu brechen. Wenn der Knochen dann gebrochen ist, dann ist er halt gebrochen und heilt so schnell wie vielleicht deine Knochen. Aber ich kann die Frage ja zurückstellen Jonas, deine Sehbehinderung war ja auch fortschreitend. Bist du jetzt chronisch krank oder bist du jetzt sehbehindert?

Jonas:
Wir haben in der letzten Folge auch über das medizinische Modell von Behinderung gesprochen und gesagt, dass natürlich jeder Behinderung in irgendeiner Art und Weise eine Ursache zugrunde liegt, also ein Unfall vielleicht oder eine Erkrankung in dem Sinne? Also könnte man natürlich sagen, dass ich eine Erkrankung habe, die andauert. Ich finde aber, gerade beim Thema Erkrankungen schwingt immer so ein bisschen das Heilen mit. Also bei Behinderungen ist es auch, obwohl es ja auch diese Doppeldeutigkeit des Wortes gibt, dass man hier nicht nur eine Behinderung hat, sondern auch behindert wird. Das klingt irgendwie so endgültig.Erkrankung klingt für mich so ein bisschen heilbar und chronisch auch so ein bisschen wechselhaft, also immer mal wieder. Also dass es immer mal wieder auftaucht und dadurch, dass es bei mir persönlich jetzt nicht  in dem Sinne Tage gibt, wo ich sehr gut sehen kann und Tage, wo ich weniger gut sehen kann, finde ich irgendwie diese Bezeichnung „chronische Erkrankung“ jetzt in meinem Fall irgendwie so ein bisschen, ja eher, fehl am Platz.

Karina:
Soll ich hier mal die Definition einschmeißen von chronischer Krankheit?

Raúl:
Hau raus …

Karina:
Also chronisch krank ist, wer länger als drei, beziehungsweise sechs Monate lang krank ist und welche Krankheit nicht heilbar ist. Also drei beziehungsweise sechs Monate, da sind sich die Quellen nicht einig. Aber chronische Krankheit ist tatsächlich die häufigste Ursache von Behinderung. Wusstet ihr das?

Jonas:
Okay, also nicht diese immer wieder auftauchende Story von durch einen Autounfalquerschnittsgelähmt und im Rollstuhl? Was ja eher so ein Ereignis ist?

Karina:
Ja, das ist so diese stereotype Vorstellung von wie jemand mit Behinderung aussieht. Aber das trifft tatsächlich nur auf unter ein Prozent der Menschen zu.

Raúl:
Das heißt, wenn ich jetzt eine Krebserkrankung habe, dann kann ich auch chronisch krank sein?

Karina:
Definitiv. Es gibt ohnehin, glaube ich, chronisch verlaufende Krebsformen. Aber du kannst auch Langzeitschäden haben, zum Beispiel und dadurch chronisch krank sein und/oder behindert, weil ja auch nicht jede chronische Krankheit zu einer Behinderung führt. Und auch nicht jede Behinderung hat eine chronische Erkrankung zugrunde liegen.

Raúl:
Genau darauf wollte ich gerade hinaus. Das heißt, eine Behinderung resultiert aus der chronischen Erkrankung.

Karina:
Kann, muss aber nicht. Und um es noch komplizierter zu machen, manche Leute mit zum Beispiel meiner Erkrankungen identifizieren sich als Mensch mit Behinderung und andere nicht, weil es auch ein Spektrum ist, auf dem manche wenig eingeschränkt sind und andere mehr.

Raúl:
Und wann entscheidest Du dich, dich als Frau mit Behinderungen zu bezeichnen oder als chronisch erkrankte Frau?

Karina:
Schwierig. Ich glaube, der Übergang ist ziemlich fließend. Aber ich glaube an dem Punkt, an dem du von deiner Umwelt so eingeschränkt wirst, dass dir das selber auffällt…Ich glaube, das war für mich so der Punkt, wo ich dachte: ja, das ist schon durchaus auch eine Behinderung.

Jonas:
Aber die chronische Erkrankung ist ja auch etwas, was, sag ich mal, glaube ich, im Alter zunimmt. Oder also, wenn man dann vielleicht durch ein, ja, schwächeres Immunsystem vielleicht auch empfänglicher ist für Erkrankungen? Also gibt es da Zahlen, dass man sagt, okay, das ist etwas, was dann eher auch ältere Menschen betrifft und dann zwangsläufig zu einer Behinderung führt?

Karina:
Also, ich liebe ja Zahlen. Schön, dass du fragst (lacht). Insgesamt leben 40 Prozent aller Deutschen mit einer chronischen Erkrankung. Und, ja klar, das nimmt im Alter zu. Also, am Anfang so zwischen 30 und 39 sind es nur 20 Prozent, die chronisch krank sind, und dann, zum Beispiel bei den über 60-Jährigen sind es dann schon 38 Prozent, und bei über 70-Jährigen sind es im Endeffekt fast die Hälfte aller Menschen.

Jonas:
Finde ich in dem Sinne spannend, du sagst 40 Prozent haben eine chronische Erkrankung. Die Zahl, die ja immer wieder genannt wird ist, das quasi jede zehnte Person in Deutschland, hat eine Behinderung. Und wenn man dann aber schaut, okay, wie viele Leute wirklich dann ja chronisch krank sind, was dann zwangsläufig auch sie vielleicht im Alltag einschränkt und sie vielleicht auch behindert, ohne dass sie es vielleicht so nennen möchten oder dass es so anerkannt ist… Es ist ja eine Riesenmenge von Personen?

Karina:
Ja, wenn man die alle dazunehmen würde und quasi zur Community von Menschen mit Behinderung zählen würde, dann wären wir keine Minderheit, sondern eher die Mehrheit.

Raúl:
Ich finde das deswegen so interessant, weil, ich erinnere mich an ein Gespräch mit der sogenannten Einsatzbegleitung meines Assistenzdienstes, also die, die für mich und mit mir die Assistenzen koordiniert, die ich morgens und abends brauche und die die Dienstpläne und Abrechnungen macht. Und die Einsatzbegleitung sagte, als ich mit Assistenz anfing, da war ich Anfang 20, zu mir: „Es ist leichter, mit Behinderung alt zu werden, was Assistenz angeht, als im Alter behindert“. Wenn du dann 79 bist und du brauchst plötzlich Assistenz, dann wird die nicht mehr bezahlt ohne weiteres vom Amt, weil du bist alt und gehst dann halt ins Altersheim. Wenn du aber als behinderter Mensch alt wirst und du hast dein Leben lang Assistenz gehabt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du zu Hause gepflegt wirst. Weil du ja eh gepflegt wurdest, und das ist natürlich auch eine krasse Ungerechtigkeit, was überhaupt Assistenz und Alter angeht.

Jonas:
Und es ist ja generell glaube ich auch so, dass das Gesundheitssystem darauf ausgelegt ist, dass, wenn es um Behandlung von Krankheiten, Behinderungen geht, eher dann auch jüngere Menschen bevorzugt werden, weil sie noch ein längeres Leben, statistisch gesehen, vor sich haben.

Raúl:
Genau, aber das ist quasi jetzt mein Heimvorteil, dass ich behindert alt werde.

Karina:
Aber das ist ja auch totale Altersdiskriminierung eigentlich, oder? Das hat mir letztens auch erst ein Familienmitglied erzählt, wo es drum ging, ob es eine neue Hüfte gibt, mit Ende 60. Und da haben schon die Ärzte irgendwie darüber diskutiert, ob sich das noch lohnt. So, weil wieso musst du noch, irgendwie, Lebensqualität haben in dem Alter?

Raúl:
Stell dir vor, die Person wird 105, das heißt, noch mal so 45 Jahre mit der kaputten Hüfte.

Karina:
Schmerzen auch, die damit assoziiert sind und extrem reduzierte Lebensqualität, halt.

Jonas:
Aber hat eine chronische Erkrankung nicht auch immer etwas zu tun, dass es, wie ich Eingangs schon sagte, dass es Tage gibt, wo die Erkrankung und dann die vielleicht damit einhergehende Behinderung, gar nicht so stark ausgeprägt ist und dann es Tage gibt, wo es dann etwas schwieriger ist? Karina, du hast doch in der letzten Folge auch erzählt, dass es bei dir eher auch so Tage gibt, wo du vielleicht im Rollstuhl unterwegs bist und manche, wo man jetzt von außen betrachtet, man gar nicht sagen würde, ah, das ist eine Frau mit Behinderung!

Karina:
Ja, die gibt es, glaube ich, gerade bei chronischen Krankheiten ganz viel. Also, das nennt sich ja dann immer so schön „dynamische Behinderung“, also, wo du gar nicht weißt, wie dein nächster Tag eigentlich aussieht. Also im Prinzip kannst du von -im Bett liegen und dich nicht bewegen können- bis zu -auf beiden Beinen gehend, ohne Hilfsmittel- innerhalb von Minuten alles haben. Was ein Konzept ist, das für viele Menschen sehr schwer verständlich ist. Also da gibt es dieses Klischeebeispiel, über das ganz viele Menschen mit dynamischen Behinderungen berichten. Zum Beispiel, dass sie den Behindertenparkplatz nutzen, weil es ihnen an dem Tag vielleicht nicht so gut geht. Aber die nutzen vielleicht trotzdem keinen Rollstuhl, vielleicht nicht mal irgendwie eine andere sichtbare Mobilitätshilfe und steigen aus diesem Auto aus, gehen in den Supermarkt und haben dann entweder, irgendwie böse Zettelchen an der Windschutzscheibe kleben, so nach dem Motto: “Du bist ja gar nicht behindert. Wieso nimmst du anderen den Behindertenparkplatz weg?” Was emotional super anstrengend ist und was viele Leute ja dann auch dazu bewegt, zum Beispiel solche Parkplätze gar nicht mehr zu nutzen…

Jonas:
…weil man sich nicht behindert genug fühlt…

Karina:
Ja, oder weil man einfach keine Lust hat, mit diesen ständigen Konfrontationen umzugehen und sich erklären zu müssen.

Raúl:
Wie plant man dann bei so einer dynamischen Behinderung eigentlich seinen Alltag? Also, wenn du nicht weißt, wie dein Tag enden wird, also was, was körperliche Ressourcen angeht, das können ich oder Jonas ja vielleicht besser einschätzen. Wenn ich das und das mache, dann habe ich noch so und so viel Akku-Power in mir drin, dann pack ich den Tag bis 18 Uhr so und so. Aber wenn das dynamisch ist, dann plant man da vielleicht auch ganz anders.

Karina:
Also da gibt es diese schöne Theorie, die heißt Spoon-Theory im Englischen – auf Deutsch: die Löffel-Theorie. Die hat eine Person mit Lupus erfunden, vor vielen Jahren schon. Da geht es quasi darum, dass eine Person mit einer chronischen Erkrankung, die dynamisch verläuft, hat, sagen wir mal zehn Löffel pro Tag, und für jede Aktivität, die man an diesem Tag durchführt, braucht man soundso viele Löffel. Was natürlich unterschiedlich sein kann von Person zu Person. Wenn ich zum Beispiel weiß, ich habe jetzt diese zehn Löffel und Duschen kostet mich irgendwie zwei Löffel, einkaufen gehen noch mal drei Löffel, dann habe ichfür den restlichen Tag noch fünf Löffel. Und danach plane ich dann praktisch, was ich an diesem Tag noch machen kann. Und bei mir ist es halt auch so. Ich plane halt jeden Tag so ein, dass ich nur die Aktivitäten, für die ich wirklich Energie habe mache und dann vielleicht noch ein bisschen Luft für irgendwelche Notfälle oder für irgendetwas, was dringend passieren muss, wo man dann zur Not noch mal irgendwie zwei Löffel für ausgeben muss.

Jonas:
Also es ist immer gut, irgendwie ein, zwei oder drei Löffel noch in der Hinterhand zu haben. Löffel, um vielleicht irgendwie Medizin zu sich zu nehmen. Wo ich mich schwertue, ist bei der Bezeichnung chronische Erkrankung oder chronische Krankheit, dass es immer um, ja, das Kranksein geht, also quasi gerade auch der Unterschied zwischen Erkrankung und Krankheit. Ich finde Krankheit, da winkt immer sowas mit im Sinne von, dass es ansteckend ist oder es wirkt so distanziert. Und Krankheit ist immer das Thema wie Heilung und der Unterschied zwischen krank und gesund, das finde ich manchmal im großen weiten Kosmos von dem Thema Behinderung immer recht problematisch.

Karina:
Das ist es auf jeden Fall. Vielleicht ist es auch genau der Punkt, dass man sich vielleicht selbst als eine Person mit Behinderung sieht, weil man weg will von diesem ständig nur als krank gesehen werden. Und da ist jemand, der geheilt werden muss, vor allem, wenn man halt einfach eine unheilbare chronische Krankheit hat.

Jonas:
Hast du schon mal eine Erfahrung gehabt, dass Leute anders auf dich reagieren, abhängig davon, ob du sagst, du hast eine chronische Krankheit oder eine chronische Erkrankung oder du sagst, du hast eine Behinderung?

Karina:
Ne, die haben eigentlich weitestgehend entweder kein Verständnis oder Mitleid mit mir, egal was davon ich sage. Also ich meine, man sieht mir ja beides nicht an. Weder die chronische Krankheit noch die Behinderung. Also der Standardkommentar ist halt normalerweise: “Wieso? Aber du siehst doch eigentlich ganz gesund aus.”

Jonas:
Chronisch nicht gesund.

Karina:
Genau.

Raúl:
Aber mit Krankheit verbinde ich so etwas wie ansteckend, heilbar, ich muss zur Apotheke gehen, was ja für mich als jemand, der im Rollstuhl sitzt, sagen wir mal, eher Dinge sind, die ich für mich ausschließe. Also Apotheke, klar, wenn ich Kopfschmerzen habe, aber sonst gehe ich nicht zur Apotheke, wegen meiner Glasknochen in der Regel.

Jonas:
Aber im Rollstuhl unterwegs zu sein, du bist ja auch, Stereotyp Nummer eins für das Thema Behinderung, also gerade wenn man Behinderungen thematisiert, wenn man schaut, wie Behinderung dargestellt wird. In Piktogrammen wird immer diese Person im Rollstuhl abgebildet, also selbst hier bei uns im Büro haben wir an den Aufzügen einen Knopf für die Sprachausgabe des Aufzugs, damit angesagt wird, auf welcher Etage man unterwegs ist. Und dieser Knopf, obwohl es eine Audioausgabe ist, ist beschriftet mit einer Person, die im Rollstuhl ist. 

Raúl:
Das ist mir auch aufgefallen.

Jonas:
Was überhaupt keinen Sinn ergibt in dem Sinne – gleichzeitig ist natürlich die Frage, ist es, weil es eben so plakativ ist und so stereotyp, trotz alledem irgendwie noch selbsterklärend, als wenn man dort jetzt vielleicht das Piktogramm mit dem Auge, was durchgestrichen ist, was für Sehbehinderung oder Blindheit da steht irgendwie, ja, dass es das irgendwie zeigt. Also ich finde das Bild von Behinderung ist ja in der Gesellschaft sehr eindeutig, weswegen, glaube ich, auch noch mal der Umgang, beziehungsweise die Vorurteile und diese Unwissenheit gegenüber chronischer Erkrankung nochmal viel, viel größer ist. Gerade wenn es dann noch dynamisch ist und nicht sichtbar. Damit können dann, glaube ich, die wenigsten dann irgendwie umgehen.

Raúl:
Es gab mal einen Wettbewerb, wo man versucht hat, ein Symbol zu finden für Barrierefreiheit, das nicht das Rollstuhlsymbol ist und Apple beispielsweise benutzt diesen Leonardo da Vinci-Menschen in so einem Kreis, was für accessibility steht, aber ich glaube, das versteht keiner.

Karina:
Es versteht auch so irgendwie… Selbst das Rollstuhlsymbol finde ich auch immer schwierig, weil ich halt keinen Rollstuhl nutze. Ich hatte vor kurzem die Situation im Zug mit so einem kleinen Kind – also ich saß halt auf diesen Plätzen für Menschen mit Schwerbehinderung, und das Kind guckt mich an und sagt: Du darfst da nicht sitzen, das ist nur für Behinderte. Dann hab ich gesagt: “Naja, man kann halt manche Behinderung  sehen, manche halt auch nicht. Und dann hat mich das Kind angeschaut und gesagt: Nein! Und dann wusste ich auch nicht mehr, was ich drauf sagen soll. Weil, wenn das alles so verfestigt ist, dass Behinderung nur assoziiert wird mit einer Person im Rollstuhl, ist es halt für einen Haufen anderer Menschen irgendwie sehr exklusiv.

Raúl:
Einmal Privilegien haben. 

Jonas: Hast du dann deinen angry cripple – also hast du dann quasi deinen Schwerbehindertenausweis gezeigt?

Karina:
Nee, ich bin nicht so gut darin, sowas zu erklären. Kindgerechtes kann Raúl sehr viel besser.

Raúl:
Aber ich habe neulich einem Elternteil gesagt, dass ich jetzt meinen pädagogischen Auftrag hiermit geleistet hätte, indem ich fünf Kindern 20 Minuten lang erklärt habe, warum ich klein bin und die Person dann gebeten, doch ihre Kinder wieder bei sich zu nehmen, weil ich nicht den Auftrag habe, die Kinder zu erziehen. 

Karina:
Was haben Sie da gesagt? 

Raúl:
Sie habe es dann verstanden, aber es war auf jeden Fall 20 Minuten nervig.

Karina:
Aber du hast 20 Minuten Geduld. Ich meine, ich halte nicht mal eine aus. Aber auch, weil ich die Situation einfach nicht so gewöhnt bin wie du. Also weil mich selten Leute ansprechen.

Raúl:
Okay, also, ich musste noch nie in meinem Leben… doch schon, aber nicht so oft… meinen Schwerbehindertenausweis zeigen. Wie oft werdet ihr gefragt?

Karina:
Gefragt werde ich nur selten. Also selbst wenn ich im Zug…

Raúl:
…also aufgefordert, indirekt durch nicht glauben oder so?

Karina:
Ich meine, ich zeige ihn halt her, wenn ich irgendwie das Gefühl habe, ich werde gerade krumm von der Seite angeschaut. Oder ich höre irgendeinen Kommentar, wo jemand flüstert. Ich bin, glaube ich, noch nie wirklich aktiv aufgefordert worden, den vorzuzeigen, aber ich habe mich oft irgendwie so ein bisschen gezwungen gefühlt, jetzt zu beweisen, dass ich einen habe.

Jonas:
Naja, bei Konzerten oder bei Fahrten mit der Bahn oder so. Also bei mir ist es so, dass ich das machen muss oder dann mache, wenn es irgendwie auch erforderlich ist. Aber jetzt, im Rahmen dessen, das als Verstärkungsargument, ist es bei mir auch noch nicht gekommen, dass ich quasi proaktiv gesagt habe: Ich habe eine Behinderung. Und dann die Leute so: Wirklich? Und ich dann quasi den Ausweis gezeigt habe. Also so war es noch nicht. Aber es ist natürlich so die Situation, dass im Gegensatz zu dir, Raúl, zum Beispiel bei Konzertbesuchen, obwohl es quasi klar ist, dass zum Beispiel als Person mit einem Schwerbehindertenausweis und dem Merkzeichen B, dass du eine Begleitperson kostenlos mitnehmen darfst, also, dass dich das berechtigt dazu, das ist natürlich immer komisch bei einer unsichtbaren Behinderung, dass man dann vorzeigen muss. Während das quasi dann bei dir ja selbstverständlich ist. Oder dass du quasi, glaube ich, im öffentlichen Personennahverkehr auch gar nicht mehr kontrolliert wirst, weil es aufgrund einer sichtbaren Behinderung und den Umständen einfach klar ist, dass du die Wertmarke für den öffentlichen Personennahverkehr hast, oder?

Raúl:
Also ich will jetzt nicht zu viel verraten, aber ich habe ihn seit 15 Jahren nicht verlängert, weil mich nie jemand danach gefragt hat. Wo kein Kläger, da kein Henker. 

Jonas:
Also du musst gar nicht in dem Sinne den Nachweis irgendwie großartig erbringen? Aber gerade dieser Nachweis ist bei ja sehr eindeutigen Behinderungen manchmal vielleicht gar nicht mehr nötig, so wie bei dir, Raúl. Natürlich gibt es Hürden, einen Schwerbehindertenausweis zu bekommen, und es gibt auch sehr viel Diskriminierung im Rahmen der Beantragung von einem Schwerbehindertenausweis. Aber wie sieht es aus mit chronischen Erkrankungen, die, ja, wie gesagt, auch dynamisch sind und unsichtbar? Beantragt man dann den Schwerbehindertenausweis oder den Nachweis generell, dass man nicht nur chronisch krank, sondern deswegen auch durch die Gesellschaften, durch Barrieren einfach im Alltag behindert wird dann an Tagen, wo es einem nicht so gut geht? Und was,wenn man dann quasi einen Termin hat für das ärztliche Gutachten und dann aber „dummerweise“  ein Tag ist, wo es einem eigentlich gut geht. Ist das dann dumm gelaufen?

Karina:
Ja, da hast du dann halt verkackt. Also ich meinees ist tatsächlich so, dass ganz viele Menschen eben dieses Konzept nicht verstehen, dass es so etwas wie dynamische Behinderungen gibt. Und selbst wenn man es erklärt, sieht man ja trotzdem dann meistens noch aus wie eine gesunde Person. Und da ist dann halt von der Gegenseite sehr wenig Verständnis da, also die meisten Menschen mit jetzt zum Beispiel meiner Erkrankung haben sehr, sehr viele Hürden, gerade im sozialrechtlichen Bereich. Also sei es irgendwie der GdB oder die Rente, weil es dafür einfach auch keine… es gibt keine Kriterien, es gibt nix, wo irgendwie drin steht, wie mein schlechtmöglichster Tag aussieht. Und es wird einem halt auch einfach nicht geglaubt, wenn man es nur sagt. Also was man nicht sehen kann, das wird einem einfach nicht geglaubt – also bin halt immer in der Beweispflicht, und das funktioniert halt sehr, sehr schlecht bei eher subjektiven Problemen.

Raúl:
Was fehlt, deiner Ansicht nach? Was forderst du?

Karina:
Aufmerksamkeit, das Verständnis dafür, dass es verschiedene Erkrankungen, verschiedene Behinderungen gibt. Und ja, das Verständnis, dass es unsichtbare Behinderungen und Erkrankungen gibt. Und: Warum gibt es einen Grund, mir nicht zu glauben, wenn ich sage, wie ich mich fühle? Also welchen Grund hätte ich, drüber zu lügen?

Jonas:
Willst dir Sozialleistungen erschleichen?

Karina:
Genau, weil sich das ja so arg lohnt.

Raúl:
Gerade weil da so viel Stigmatisierung mit einhergeht, wenn man dann einmal diese Sozialleistungen hat.

Karina:
Also als ich krank wurde, war ich irgendwie 24, stand so in der Blüte meines Lebens, würde ich fast sagen. Mir ging es wirklich gut. Hatte einen tollen Job, der gut bezahlt war. Wieso hätte ich da das Bedürfnis, plötzlich Sozialleistungen zu bekommen, obwohl es mir in meinem Job und in meinem Leben doch eigentlich gut ging? Also es gibt keinen Grund dafür, dass ich jemanden anlügen würde.

Raúl:
Was ich halt so krass finde, wir leben im 21. Jahrhundert – wir haben das Jahr 2023. Es ist ja nicht so, dass Menschen mit Behinderung, chronische Erkrankung erst seit fünf Jahren existieren würden. Und jetzt haben wir sehr viele Menschen, die Long- haben oder ME/CFS – auch eine chronische Erkrankung. Also ich zumindest lese immer häufiger davon, dass die Behörden es nicht hinbekommen, das auch anzuerkennen und so zu akzeptieren, dass das auch als Behinderung gelesen wird.

Karina:
Ja, du erwähnst aber hier gerade auch Krankheiten, die ganz oft hauptsächlich Frauen betreffen. Und da spielt ja noch mal ein ganz anderer Faktor mit rein, nämlich dass man jungen Frauen, die nicht krank aussehen, generell eher wenig glaubt.

Raúl:
Ja, das hattest du in der letzten Folge schon angedeutet.

Karina:
Ja, aber das ist gerade bei ME/CFS, Long-, bei meiner Erkrankung, bei ganz, ganz vielen anderen, die dominierend Frauen betreffen und auch die so komplex sind und man teilweise weder die Ursache ganz klar definieren kann, noch gibt es irgendwie in eine Behandlung, und diese Erkrankungen werden dadurch halt einfach komplett ignoriert und sehr stigmatisiert.

Raúl:
Ja, Scheiße.

Jonas:
Aber ist es nicht auch so, wenn man noch mal den Vergleich zieht, so den Unterschied also, wenn es überhaupt einen Unterschied gibt zwischen chronischer Erkrankung und Behinderung – hat es nicht auch trotzdem sehr viel mit der Selbstbezeichnung zu tun? Also wie gesagt, bei mir hat das auch gedauert, bis ich das quasi für mich akzeptiert habe, dass ich ein Mensch mit Behinderung bin, obwohl ich schon lange vorher meine Behinderung oder Krankheit in dem Sinne quasi bekommen habe, dass es trotzdem ja auch ein bisschen die Frage ist, ob man sich zu der Gruppierung hinzu zählt, unabhängig davon, ob das dann von Amtswegen auch bestätigt wird und man einen Schwerbehindertenausweis bekommt und so weiter und sofort. Aber dass man eben sich als Person, die eine chronische Erkrankung hat, eben auch als Selbstbezeichnung selbst als Mensch mit Behinderung nennt und es gar nicht so irgendwie einen Punkt gibt, wo man sagt okay, jetzt darfst du das – also quasi wer erlaubt das, sich so bezeichnen zu dürfen und wer eben auch nicht?

Karina:
Es ist ein schwieriges Thema. Ich glaube, da hatten wir ja schon mal kurz, auch in der letzten Folge darüber gesprochen, dass man sich manchmal auch nicht so richtig fühlt, als dürfte man sich eine Person mit Behinderung nennen, wenn man eben nicht zum Beispiel den Rollstuhl nutzt oder irgendeine ersichtliche Behinderung hat. Das war für mich auch ganz lang sehr, sehr schwierig. Und ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich mich hauptsächlich als chronisch krank bezeichne.

Jonas:
Weil es ja quasi trotz alledem Definitionen ja gibt zum Thema, was Behinderung ist, auch wenn sie, trotz alledem sehr, finde ich, schwammig sind. Also ähnlich schwammig wie die Definition von chronischen Erkrankungen – das ist ja auch bei Behinderung so, dass es dort weit umrissen wird und wenig eindeutig ist. Was aber im Endeffekt ja eigentlich auch vielleicht gut ist, weil es eben ja nicht, wie wir gemerkt haben, es die eine Art von Behinderung gibt, sondern dass Behinderung eben auch vielfältig ist.

Karina:
Die UN-Behindertenrechtkonvention zum Beispiel sagt, Menschen gelten als Personen mit Behinderung, “wenn sie langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an einer vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.” Und wenn ich die zum Beispiel auf mich übertrage, dann würde ich also durchaus diese Definition erfüllen, würde ich sagen. Weiss nicht, wie das bei euch ist. Jonas, sag mal…

Jonas:
Ja, doch. Also, es ist eben, und das finde ich eben bei der Definition so schön oder quasi so angenehm, dass das eben so die beiden Aspekte beinhaltet, also dass du quasi eine Art Diagnose hast, also das medizinische Modell und eben diese Wechselwirkung zwischen den Barrieren in der Umwelt und den Erfahrungen, denen man dort ausgesetzt wird. Also Diskriminierung, die Gesellschaft, die Barrieren, auf die man stößt, dass quasi beides eine Rolle spielt und eben weder nur das eine oder nur das andere. Und dass eben auch dort eine Vielfalt an Behinderungsarten genannt wird.

Raúl:
Also ich finde das total spannend, dass wir hier quasi die ganze Zeit versuchen, etwas zu definieren, was eigentlich immer nur die Nichtbehinderten wollen, dass man es definiert. Sonst gilt man ja nicht als behindert. Oder was auch immer. Und dann gibt es immer so komische Beschreibungen, so etwas wie angeboren oder erworben. Dann gibt es die Beschreibung temporär behindert oder chronisch behindert. Und ich habe manchmal das Gefühl, dass wir diesen ganzen Rechtfertigungsdruck eigentlich nur für die Nichtbehinderten machen, weil man kann ja auch einfach den Betroffenen glauben. Und das ist vielleicht in unserem aktuellen kapitalistischen System nicht ganz kompatibel, weil dahinter ja auch oft immer irgendwelche finanziellen Leistungen stecken. Aber ich fühle mich ganz wohl mit dem Gedanken, dass wir trotzdem zu dritt hier mit den verschiedensten Behinderungen eine gemeinsame Peergroup sind, nämlich von Menschen mit Diskriminierungserfahrung aufgrund ihrer Fähigkeiten.

Jonas:
Und dass wir nicht nur viele, also nicht nur drei unterschiedliche Behinderungsarten haben, sondern auch eben den Unterschied haben zwischen im Laufe des Lebens erworben und sichtbare Behinderung und dynamische Behinderung. Und das einfach auch nochmal zeigt, wie ja, wie vielfältig wirklich Behinderung ist und dass es weit über, sorry, Raúl, weit über Rollstuhl hinausgeht.

Raúl:
Und ich finde das auch für mich als Lernerfahrung so wichtig, dass wir in den kommenden Folgen, die wir aufzeichnen werden, natürlich auch aus viel mehr Perspektiven beleuchten können, als nur die Perspektive, die wir aus unserem eigenen Erleben kennen und wir selber vielleicht auch mehr verstehen, wie weitreichend diese Dimension Behinderung und auch chronische Erkrankung sein kann, ohne zu sagen, ja, du gehörst dazu oder du gehörst nicht dazu und wir vielleicht untereinander üben können, einander zu glauben, weil dieses glauben das Gegenteil davon ist, ja, nicht glauben. Sondern ich glaube, es ist einfach dieses schwer nachvollziehen können, was für mich nicht automatisch bedeutet, er oder sie lügt. Oder er oder sie glaubt nicht, sondern es ist einfach… man hat darüber noch nicht so viel nachgedacht.

Karina:
Auch innerhalb der Community von Menschen mit Behinderungen gibt es wieder ganz kleine Untergruppen an Menschen mit bestimmten Behinderungen oder chronischen Erkrankungen. Und manchmal, glaube ich, guckt man dann nicht so weit über den Tellerrand, um auch die Erfahrungen von anderen Leuten zu verstehen, obwohl uns ja auch wenn wir alle sehr individuell sind, trotzdem super viel vereint.

Raúl:
Was nicht bedeutet, dass wir alle behindert sind. Also das finde ich… also ernsthaft. Also ich finde das wirklich eine total spannende und auch schwierige Definitionssache. Es gibt ja sehr oft auch den Satz, wo jemand sagt „Wir sind doch alle behindert“. Dann will ich sagen: “Ja, aber wir haben vielleicht eine Behinderung mehr.”

Jonas:
Aber steht dir das zu?

Raúl:
Deswegen habe ich ja vielleicht gesagt. 

Jonas:
Also was ist los, wenn eine Person sagt:”Ich habe auch eine Behinderung, ich trage eine Brille.”

Raúl:
Da würde ich sagen, ja, stimmt, du hast eine Sehbehinderung. Aber manchmal habe ich das Gefühl, die Leute benutzen es als Floskel und dann verniedlicht das oder verharmlost das die reale Behinderungserfahrung, wenn man das so ab tut. Das ist so ähnlich, wie wenn gesagt wird, ich sehe keine Hautfarben oder für mich sind alle Menschen gleich. Das ist hier nicht der Fall. 

Karina:
Du wertest halt die Diskriminierungserfahrungen einfach ab. 

Raúl:
Genau…

Karina:
Die hat man…

Raúl:
…oder es muss noch nicht mal Diskriminierung gewesen sein. Du wertest die Erfahrung ab, die behindert Menschen machen.

Jonas:
Also würde es bedeuten, dass ihr gegen das inflationäre Benutzen des Wortes Behinderung seid?

Karina:
Ja, wollen wir nicht lieber Special Needs sagen? Ne, Quatsch.
Das Wort an sich ist ja eigentlich auch nur eine Beschreibung – es ist ja eigentlich weder gut noch schlecht. Nur, ich glaube gesellschaftlich ist es halt irgendwie negativ konnotiert. Aber die meisten Leute, die irgendwie so andere Begriffe für Behinderung erfinden, sind ja meisten nicht per se die Menschen mit Behinderung selbst, habe ich das Gefühl.

Jonas:
Ja, doch sowieso. Wenn dann irgendwelche anderen Wörter benutzt werden wie besondere Bedürfnisse,Handicap… Ich wurde neulich mal gefragt, um das Wort Behinderung zu vermeiden, ob es denn gut wäre zu sagen „Mensch mit Teilhabeausschluss“…

Karina:
Das habe ich auch noch nicht gehört.

Jonas:
Fand ich als Selbstbezeichnung auch eher problematisch. Also ich würde mich jetzt auch nicht als „Hallo, ich bin Jonas ein Mensch mit Teilhabeausschlüssen“ beschreiben. Deshalb also Nein… Auf der einen Seite…

Raúl:
… oder der Teilhabeausschlussausweis. 

Jonas:
Es ist die Frage halt, dass wir auf der einen Seite sagen – und das finde ich halt bei dieser Thematik Behinderung/chronische Erkrankung etwas schwierig, beziehungsweise da diese Trennschärfe hinzubekommen, dass wir auf der einen Seite sagen, wir fordern ein, dass uns geglaubt wird, wenn wir selber sagen: Ich habe eine Behinderung, auch wenn sie nicht sichtbar ist. Ich möchte, dass mir geglaubt wird. Und wir aber gleichzeitig sagen, dass wenn andere Personen sagen: “Haben wir nicht alle eine Behinderung”, oder “ich habe eine Behinderung, ich trage eine Brille” oder whatever, dass wir dann sagen: “Nee, also so nicht!” Also wir quasi selber trotzdem urteilen und sagen, wir fordern ein, dass Behindertsein uns geglaubt wird, aber urteilen trotzdem, welche anderen Personen es machen dürfen oder nicht. So ein bisschen double bind, oder?

Karina:
Es gibt ja doch einen Unterschied zwischen einer Brille, die mittlerweile sehr, sehr viele Menschen tragen, und Leuten, die trotzdem irgendwo zu einer marginalisierten Minderheit gehören und Diskriminierung erleben. Wobei … ich meine… Leute mit Brillen werden auch teilweise diskriminiert. Das stimmt schon. Also ist schon was dran an dem, was Jonas sagt.

Raúl:
Ich habe neulich in einem Workshop gehört, dass es wohl auch mal eine Zeit gab, in der Menschen, damals, als man noch die Gemälde von Hand malte, dass Menschen ihre Brillen versteckt haben, wenn das Gemälde angefertigt wurde, weil es als stigmatisierend galt. 

Jonas:
Und gleichzeitig gab es auch mal einen Trend, eine Zeit lang, sich coole Brillen aufzusetzen, die Fensterglas hatten, einfach nur als modisches Accessoire, weil es vielleicht das Erscheinungsbild des eigenen Gesichts veränderte.

Karina:
Also meinst du, dass Behinderung jetzt dann auch bald ein Trend wird? Und jetzt dann Leute irgendwie modische Gehstöcke als Accessoires benutzen oder so?

Raúl:
Oder VR-Brillen?

Jonas:
Wann wird es eigentlich Zeit, Raúl, für einen neuen Elektrorollstuhl von dir? Ich warte auch drauf. 

Raúl:
Im Moment wird jedes Ersatzteil einmal ausgetauscht und er ist dann quasi wie neu. 

Jonas:
Schade! Wenn du einen komplett neuen bekommen würdest, vielleicht wäre ja dann auch fancy und alle würden sagen: “Oh, Krauthausen mit seinem neuen Geschoss.” 

Raúl:
Oh, es gibt so geile neue Rollstühle – also der Nachfolger von dem, den ich jetzt habe, der sieht schon ein bisschen besser aus.

Jonas:
Hat der auch einen coolen Namen wenigstens?

Raúl:
Nein, die heißen alle gleich – ist nur eine Weiterentwicklung – sieht ein bisschen stylischer aus, geht so in Richtung Apple.
Also Karina, als du das erste Mal in deinem Leben auf Menschen mit Behinderung getroffen bist, wie hast du dich dabei gefühlt, als du schon die Diagnose hattest?

Karina:
Ich glaube, dass ich auch extrem viele Stereotypen im Kopf hatte über behinderte Menschen. Ich hatte auch nicht super viel Kontakt, bevor ich selber halt dann eben Teil von der Community war. Ich weiß nicht, in retrospekt mache ich mir ständig Vorwürfe, wie ableistisch ich gedacht habe. Ich habe mich hoffentlich nicht sonderlich häufig ableistisch verhalten. Aber ich hatte mit Sicherheit diskriminierende Denkmuster, die ich damals selber auch einfach überhaupt nicht verstanden habe. Ich habe das Gefühl, ich bin eine deutlich bessere, offenere Person geworden, seit ich sehr viel mehr Kontakt zu Menschen mit Behinderung habe.

Raúl:
Kannst du sagen, was du von denen gelernt hast? 

Karina:
Oh, das ist eine große FrageWas habe ich gelernt? Ich glaube, ich habe eine komplett neue Perspektive von so ziemlich jedem Bereich meines Lebens, also gerade auch durch Menschen mit anderen Behinderungen, also jemanden mit körperlichen Behinderungen, mit sichtbaren Behinderungen und so. Ich habe so viele Barrieren gesehen, die mir vorher nie aufgefallen wären und die mir vielleicht früher auch einfach egal gewesen wären, weil sie mich nicht betroffen haben. Irgendwie beschäftigt man sich mit Barrieren nur ganz wenig, wenn sie einen nicht selbst betreffen. Und dadurch haben sich auch noch ganz viele andere Communitys für mich eigentlich eröffnet, weil ich festgestellt habe, dass zwischen den ganzen Minderheiten so extrem große Überlappungen sind, lso was Diskriminierungserfahrungen angeht. Dadurch habe ich auch einen ganz, ganz großen Einblick zum Beispiel in die LGBTQIA+-Community bekommen, den ich vorher eigentlich nie hatte. Und überhaupt ist auf einmal die Welt sehr viel größer, bunter, vielfältiger, schöner, weil du auf einmal so viele verschiedene Menschen kennst, die unterschiedliche Erfahrungen machen, die einen selber bereichern.

Raúl:
Was mich gerade so ein bisschen aufhorchen ließ, war: die Welt ist schöner und bunter geworden. Weil, das ist ja manchmal auch dieses Bullerbü, von dem dann oft gesprochen wird, die in dieser Inklusion oder in der Begegnung von Menschen mit Behinderung steckt. Aber es ist gleichzeitig auch herausfordernder geworden, finde ich, worüber wir oft auch wenig reden. Also man muss halt mehr bedenken, anders planen, man muss mehrere Bedürfnisse gleichzeitig unter einen Hut kriegen, die auch vielleicht man sonst nicht unter einen Hut bringen musste, sodass es eben nicht nur bunter und schöner ist, sondern vielleicht auch langsamer, aber vielleicht dadurch auch wieder intensiver.

Karina:
Was ich auch super spannend fand, obwohl jetzt zum Beispiel ich und du völlig unterschiedliche Erfahrungen haben im Alltag, haben wir trotzdem so einen gemeinsamen common ground. Es ist so eine gemeinsame Basis einfach, auf der wir aufbauen und auf der wir uns verstehen. Also das ist irgendwie so einen safe space zu haben, wo man einfach akzeptiert wird für die Person, die man ist, und an dem Punkt, an dem man gerade ist, ist es extrem wertvoll, Also so Teil der Community zu sein, wo man einfach selber sein kann.

Jonas:
Ja, das ist dann, glaube ich auch, wie du gesagt hast, Intersektionalität – also auch Gemeinsamkeiten zu finden in anderen Communities und Gemeinsamkeiten zu finden in anderen Behinderungsarten, also egal, ob wir Drei jetzt eine unterschiedliche Behinderung haben, wir alle wissen, wie es ist, wenn die Energie-Löffel am Tag so langsam ausgehen und man vielleicht auch eben aufgrund der Behinderung irgendwie so langsam sagt: Ich schaffe dies und jenes nicht mehr. Und diese vielen weiteren Perspektiven möchte man natürlich auch in den nächsten Folgen unseres Podcast abbilden. 

Wenn ihr generell Themenvorschläge habt, worüber wir mal in diesem Podcast sprechen sollen, dann schreibt uns gerne. Entweder an [email protected] oder [email protected]. Und ihr findet alle Informationen zu diesem Podcast natürlich auch in den Shownotes auf www.dieneuenorm.de und hören könnt ihr uns selbstverständlich in der ARD Audiothek.
Und wir freuen uns, wenn ihr dann auch beim nächsten Mal wieder mit dabei seid.

Karina, Raúl & Jonas:
Tschüß

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert