Dinge, die ich meinem jüngeren Ich über Behinderung am liebsten mitgegeben hätte – Transkript

Lesezeit ca. 17 Minuten

Die Neue Norm: „Drei Journalist*innen, zwei Rollstühle und eine Sehbehinderung: Die Journalist*innen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 7: „Dinge, die ich meinem jüngeren Ich über Behinderung am liebsten mitgegeben hätte“

 

Jonas:
Judyta, wenn du dein Leben noch einmal leben könntest, würdest du alles noch mal genauso machen?

Judyta:
Ja, ich glaube… diesen einen quietschgelben Fahrradhelm, den hätte ich nicht angezogen, damals als Kind.

Jonas:
Herzlich willkommen bei Die Neue Norm, dem Podcast. Wir möchten heute mit euch ein kleines Gedankenspiel machen. Und zwar stellen wir uns heute die Frage, welche Dinge wir unserem früheren Ich gerne über Behinderung erzählt hätten. Also, welche Dinge hätten wir früher schon gerne gewusst, die wir heute im Laufe unseres Lebens erlernt haben? Aber bevor wir mit dieser kleinen Zeitreise beginnen, die ich übrigens mit Judyta Smykowski und Raul Krauthausen machen möchte… Hallo…

Raul:
Alle an Bord!

Jonas:
Mein Name ist Jonas Karpa. Wir haben eine Mail bekommen von Hannah, die uns geschrieben hat und noch mal eine Frage an uns hatte. Und zwar… sie selber hat auch eine Behinderung und fragte uns, ob es nicht viel sinnvoller ist, Menschen zu sensibilisieren, indem man einfach mit Menschen ohne Behinderung redet und einfach Präsenz zeigt und in der Gesellschaft im Leben teilnimmt, anstatt jetzt wirklich bewusst Inklusionsaktivist zu sein oder -aktivistin. Und jetzt… sage ich mal… Seminare zu geben, also, ob quasi einfach allein die Präsenz und das Teilnehmen, wenn man jetzt im Journalismus ist, einfach in Redaktionen stattfindet oder in großen Unternehmen. Ob das nicht ein viel fruchtbarerer Weg ist?

Judyta:
Ja, auf jeden Fall, also, es ist beides richtig, denke ich. Wir haben den Job. Es ist unser Job, etwas zu erzählen, Seminare zu geben, darüber zu schreiben, darüber zu sprechen. Aber in jeder kleinen Geschichte, in jedem kleinen Alltag darüber auch zu reden oder darüber zu stolpern über das Thema ist doch super.
Raul nickt…

Raul:
Ich denke darüber nach. Dahinter steckt auch die Frage, ob man als Mensch mit Behinderung sich immer zum Thema Behinderung positionieren und äußern und engagieren muss. Ist das wichtig? Und da würde ich ganz klar sagen: Nein! Aber es ist besser, es tun Betroffene selbst, als es tun, nicht Betroffene.

Judyta:
Dem habe ich wiederum nichts hinzuzufügen. 

Jonas:
Wenn ihr auch Fragen, Anregungen, Lob oder Kritik habt, dann könnt ihr uns natürlich auch gerne schreiben. Entweder direkt eine Mail an [email protected] oder an [email protected]. Und natürlich findet ihr uns auch auf allen erdenklichen Social-Media-Kanälen: Facebook, Instagram, Twitter.
Und jetzt wollen wir gleich starten mit unserer kleinen… ja, ich will nicht sagen… Zeitreise…
Was sind Dinge, die wir unserem früheren Ich gerne über Behinderung erzielt hätten?

Judyta:
Einmal hätte ich gerne viel mehr Kontakt gehabt mit Kindern mit Behinderung. Damals die Einzige zu sein, war manchmal blöd, manchmal schwierig, manchmal aber auch irgendwie toll. Also, man war dann einfach die Exotin. Aber auch im positiven Sinne. Man hatte vielleicht auch so eine Art „Behinderten-Karte“, die man spielen konnte, wenn einem alles zu viel wurde. Aber dieser Austausch mit jemandem, dem es genauso geht, der sich die genau gleichen Gedanken macht, so… „Wer will ich sein? Wie komme ich klar in einer Welt von nicht behinderten Menschen?“ – das wäre schon echt cool gewesen.

Jonas:
Du bist sehr inklusiv, in dem Sinne aufgewachsen. Also, wenn man jetzt von Sondereinrichtungen ausgeht, wo Menschen mit Behinderungen unter sich sind, dann…

Judyta:
… inklusiv in dem Sinne nicht, weil ich ja die Einzige war, unter vielen nicht behinderten Menschen. Also, das wäre dann ja… inklusiv wäre, wenn ich viele andere Mitschüler mit und ohne Behinderung gehabt hätte.

Raul:
Ja, da würde ich gerne anschließen. Also, ich war auf einer Inklusionsschule, wo Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet wurden. Aber trotzdem habe ich mich immer zu den Nichtbehinderten dazu zählen wollen. Und ich glaube, was ich meinem jüngeren Ich gerne früher mitgegeben hätte und zwar glaubwürdig mitgegeben hätte… weil meine Eltern haben immer wieder versucht, dass es okay ist, Kontakt zu anderen Menschen mit Behinderung zu haben und dass man sich dafür nicht schämen braucht und dass es einem auch etwas geben kann – nämlich Austausch und vielleicht auch Inspiration, wie andere ihren Alltag bewältigen. Und das hätte mir, glaube ich, in meiner Pubertät sehr geholfen. Gleichzeitig fand ich es aber auch immer komisch, dass meine Eltern mich bekannt machen wollten mit anderen Behinderten, weil die auch behindert sind. Und das fand ich irgendwie schräg. Aber ich glaube, so diesen einen Hinweis von einer Person, die vielleicht nicht meine Eltern sind, den hätte ich gerne gehabt.

Judyta:
Bei mir war es genau andersrum. Also bei mir im Umfeld, war es eher so, dass ich so ein bisschen, ja eher in dieser nicht behinderten Welt war, also gar nicht so herangeführt wurde. So „Tausch dich mal aus mit denen.“, sondern „Orientiere dich immer an den nicht behinderten Menschen, weil die sind nun mal in der Mehrzahl. Du musst so sein wie sie.“ – das hat auch einen gewissen Druck ausgeübt. Und da habe ich gar nicht erkannt, dass das irgendwie toll gewesen wäre und powerend gewesen wäre, diesen Austausch zu haben. Das weiß ich jetzt. Und deswegen… ja, das ist auch so eine Sache, die ich bereue. Auf jeden Fall. Und die wünsche ich auf jeden Fall Kindern mit Behinderung mehr.

Raul:
Aber genau dieser Druck ist ja dann auch der, der in der Pubertät – zumindest bei mir – total stark wurde. Spätestens dann, wenn es so etwas wie Kuschelpartys gab oder man irgendwie anfing, sich zu daten oder alle sich dateten – außer ich, oder niemand mich daten wollte, oder ich zumindest das Gefühl hatte. Und ich glaube, da hätte ich gerne gelernt, dass ich den Fehler nicht bei mir suchen sollte, sondern dass mein Körper so okay ist, wie er ist. Mit allen Bedürfnissen, Wünschen nach Intimität und auch Liebe, sodass ich jetzt nicht den Wunsch hätte haben sollen, so zu sein wie die anderen, sondern eher, dass es okay ist, so zu sein, wie ich bin.

Judyta:
Ja, aber mach das erstmal, sag dir das erstmal und befolge dieses „Du bist okay, wie du bist.“ Also, das ist ja sowieso für jeden, glaube ich, ein schwieriger Prozess. Und dann aber auch noch, wenn du dich komplett noch unterscheidest von deiner gesamten Umwelt – dann noch dieses Selbstbewusstsein zu haben, zu sagen „Ja, ich bin okay, wie ich bin.“ – das ist schon schwierig, auch wenn du es überall liest, hörst, wenn es die Pädagoginnen sagen. Ich habe jetzt auch viel darüber gelesen, was man seinem jüngeren Ich sagen würde… „Ja, sei stärker, sei selbstbewusst, sei Du.“ Aber was bedeutet das überhaupt? Also, wenn du einem 13-Jährigen Ich sagen würde „Sei wie du selbst.“ – dann würde es auch erstmal dastehen und sagen „Ja, was heißt das konkret?“ 

Jonas:
War das denn für euch glaubwürdig? Können wir auch gleich noch mal vielleicht drüber sprechen, weil es ja einfach ein Unterschied ist zwischen uns Dreien – ihr habt die Behinderung von Geburt. Bei mir ist es nicht so. Wenn euch früher Leute gesagt haben, es ist okay, so wie ihr seid. Aber ihr habt, wie du gesagt hast, Judyta, festgestellt, okay, es ist ein Unterschied. Ich bin dann vielleicht die einzige Person in der Klasse, die im Rollstuhl sitzt und man trotzdem das immer wieder gesagt bekommt, dass ist in Ordnung so und man ja auch selbst in irgendwelchen Lebensphasen… Ja… ein bisschen vielleicht auch an sich zweifelt. Denkt man nicht irgendwann „Ach komm, erzähl doch nichts…“

Judyta:
Ja, ich meinte das eher anders, dass ich das jetzt gelesen habe über Leute, die erwachsen sind und die das ihrem jüngeren Ich oder jüngeren Leuten mit Behinderung raten. Also, ich habe diesen Ratschlag eher nicht bekommen, sondern das war, glaube ich, so natürlicherweise haben das die Leute angenommen, dass ich mich annehme. Aber es war vielleicht nicht so, es war eher später so.

Raul:
Ich glaube, dass die Frage der Augenhöhe hier entscheidend ist, also, wenn Eltern das sagen oder Lehrer*innen oder Sozialpädagog*innen, dann hat das schnell so was pädagogisches und Kinder merken superschnell, wenn irgendwie eine pädagogische hidden agenda drin steckt. Aber wenn ich… keine Ahnung… in der Parallelklasse jemanden gesehen hätte, der das gleiche Alter hat und eine ähnliche Behinderung und er hätte sein Leben anders gestaltet, dann hätte ich ja mich daran vielleicht auch inspirieren können. Und ich hatte einen Klassenkameraden – oder Schulkameraden – zwei Klassen über mir, den habe ich immer beneidet um seine Freunde. Aber ich habe mich nie getraut, mit ihm darüber zu reden.

Judyta:
Weißt du, ich hätte mich irgendwie… ich glaube, erst mal… verglichen. So… ist seine Behinderung irgendwie in irgendeiner Weise schlimmer als meine oder wer gewinnt jetzt hier gerade den Behinderten-Battle sozusagen? Also das wäre, glaube ich, so…

Raul:
Wer hätte gewonnen, der mehr behindert ist oder der, der weniger behindert ist?

Judyta:
Der weniger behindert ist. 

Jonas:
Okay.

Judyta:
Ich glaube, dass wäre ja irgendwie so eine akward battle gewesen bei mir, ja. Also, deswegen, es war nicht natürlich so aufzuwachsen, dass es mehrere gibt, sondern es gab immer nur diese Sicht in Richtung der nicht behinderten Menschen, die einen irgendwie anspornen sollte. Und das waren auch so kleine Sachen. Zum Beispiel… ganz lange hatten wir einen Kinderwagen für mich, weil ich ja nicht gut laufen konnte. Und ich habe meinen ersten Rollstuhl erst so mit neun oder so bekommt und bis dahin, bis ich neun war, war ich quasi im Kinderwagen unterwegs mit meinen Eltern. Und damals habe ich schon gespürt, dass das so ein krasser Einschnitt war für meine Eltern, dass sie so „Okay, jetzt bekommt sie einen Rollstuhl. Jetzt ist es real.“

Raul:
Da erinnere ich mich an eine Sache: Ich glaube, ich habe meinen ersten Rollstuhl mit sechs oder zu bekommen. Und damals gab es halt keine Kinder-Rollstühle. Und ich bin ja sehr klein, das heißt, es hätte ein Baby-Rollstuhl sein müssen, mehr oder weniger. Das heißt, er war ein bisschen zu groß. Und ich habe den relativ neu gehabt und war stolz wie Bolle. Und meine Mutter ist mit mehr einkaufen gegangen und normalerweise saß ich im Kinderwagen und dann hat sie den Kinderwagen im Supermarkt irgendwo abgestellt. Und da, wo sie ihn abgestellt hat, da war ich dann halt…

Judyta:
Ja, das hasse ich…

Raul:
… und plötzlich war ich nicht mehr da, weil ich war ja im Rollstuhl, ich konnte ja selber fahren. Meine Mutter die ist vor Schock fast umgefallen, weil ich weg war. Dabei bin ich einfach nur rumgefahren in dem Supermarkt und hab halt irgendwie den Supermarkt auf eigene Faust erkundet. Und das war so ein Freiheitsgefühl für mich. Ich wusste gar nicht, dass ich meinen Eltern einen Megaschrecken einjage damit. Ich kannte das nicht.

Jonas:
Selbständigkeit, die dann von den Eltern quasi erst mal…

Raul:
Und ich war sechs und nicht zwei!

Judyta:
Ich war neun und hab erstmal einen rosa-blau mit Glitzer-Strass-Steinchen Rollstuhl bestellt. Und dann war ich echt beeindruckt, wie leicht es auch geht. Also, weil ich natürlich auch diese Schrecken- oder Horrorvorstellung von einem Rollstuhl hatte. Und dann bin ich aber auch davongedüst.

Raul:
Ich wollte immer einen Lego-Rollstuhl – gab es aber damals nicht, gibt es heute immer noch nicht. Gibt immer nur so Dinger für die Speichen, oder so. Aber ich hätte gern einen offiziellen Rollstuhl von Lego gehabt.

Judyta:
Okay, an Herrn Lego, falls Sie zuhören…

Raul:
Was ich gerne noch als Kind gewusst hätte, dass es okay ist, Hilfe zu bekommen. Also, es war oft so, dass ich mich nicht getraut habe, nach Hilfe zu fragen. Das ist ja schon mal eine Hürde, aber auch, dass ich mich geschämt habe, wenn andere gesehen haben, dass mir geholfen wurde. Das heißt, dass es okay ist, Hilfe zu bekommen, beinhaltet irgendwie für mich beides. Und dass es eher ein Zeichen von Stärke ist, Hilfe auch anzunehmen, als ein Zeichen von Schwäche.

Jonas:
Weil einem das auch immer wieder zeigt, okay, dass man gewisse Sachen nicht kann. Also, mir geht es heutzutage noch so, dass, wenn ich quasi, sagen wir mal, im Supermarkt unterwegs bin und ich jetzt natürlich irgendwie Sachen selber finden möchte und mich auch selbständig im Supermarkt irgendwie bewegen möchte und orientieren möchte und ich dann quasi Sachen nicht finde. Manche Supermärkte sind wirklich schlecht sortiert. Aber, dass man quasi sich eingestehen muss, okay, ich finde Sachen nicht aufgrund meiner Behinderung und bin auf Hilfe angewiesen, weil es eben Barrieren gibt. 

Raul:
Genau.

Jonas:
Grundsätzlich finde ich das Gedankenspiel ganz interessant, dass es ja Unterschiede gibt zwischen uns Dreien. Dass ihr die Behinderungen schon seit der Geburt habt und ich nicht. Und ich habe mir im Vorfeld mal Gedanken gemacht, ob es für mich anders gewesen wäre, quasi diesen Wechsel zu erleben. Also in den Moment zu kommen – okay, jetzt habe ich eine Behinderung. Ob dieses Erlebnis anders gewesen wäre, wenn ich in meiner Kindheit, in meiner Jugend vielleicht mehr mit Menschen oder anderen Jugendlichen mit Behinderung Kontakt gehabt hätte. Und ich glaube nicht. Also ich bin nicht sicher, also es ist quasi der Wechsel auf einmal dann zu merken, okay, jetzt bin ich ein Mensch mit Behinderung. Man hat ja dann trotzdem so einen sehr egoistischen Blick auf sich selbst und hat aufgrund des Alters oder der bis dahin schon Lebenserfahrung einfach den Vergleich – okay, was konnte ich vorher ohne Behinderung? Was sind jetzt die neuen Barrieren in meinem Leben? Das dass, ja, trotzdem ein neues Gefühl ist und man immer in seinem Leben das Streben hat, gesund zu sein oder Sachen zu können. Ich meine, es ist dieser relativ blöde Vergleich immer zwischen gesund und krank. Behinderung ist ja, oder behindert werden, ist ja quasi keine Krankheit, sondern es passierte durch die Barrieren/ Diskriminierung. Aber ich glaube, wenn man früher im Kindesalter, im jugendlichen Alter natürlich mehr auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen getroffen wäre, hätte man eher das Verständnis, dass es viele unterschiedliche Arten von Behinderungen gibt. Aber ich glaube, in dem Moment, wenn es einen dann selber trifft, ist es jetzt nicht so erleichternd in dem Sinn, dass man für sich sagt: „Ach, ist doch jetzt gar nicht so. Ist doch gar nicht so schlimm.“

Judyta:
Ja, klar. Also, auch wenn du die Begegnungen hattest, das ist ja dann deine persönliche Geschichte, so dein persönliches Erlebnis. Da musst natürlich du dich erst einmal irgendwie sortieren und so. Und ich glaube, egal, wie inklusiv du aufgewachsen wärst, wäre es für dich erst mal schwierig. Also, es ist ein neues Leben. Es ist ein neuer Teil deiner Identität sozusagen. Und da würde ich auch jedem irgendwie den Prozess lassen, so lange wir er braucht.

Raul:
Aber das finde ich einen spannenden Punkt. Ich glaube, da trifft sich nämlich auch wieder unsere Gemeinsamkeit, dass wir alle irgendwie auf dem Weg der Akzeptanz der eigenen Behinderung alleine waren. 

Jonas:
Ja.

Raul:
Ich wollte mit den anderen nichts zu tun haben. Du warst die einzige in deiner Klasse, und du kanntest vorher keinen, der eine Behinderung hatte, als du deine bekamst.

Jonas:
Und es ist auch natürlich eine Sache, wie man… wo man sich vorher jetzt nicht so großartig auseinandergesetzt hat. Also, so Thema Inklusion, Thema Behinderung, ja, fand mal irgendwie statt. Man kannte ein paar Leute vielleicht, aber jetzt eben auch nicht diesen „jeder Zehnte“, wie es eigentlich in der Gesellschaft quasi ist. Nicht jeder zehnte Freund/Freundin von mir war eine Person mit Behinderung…

Raul:
Sondern es waren immer die anderen.

Jonas:
Genau – es waren immer die anderen. Und das kommt jetzt erst dadurch, dass man sich dann extrem damit auseinandersetzt, eben auch extrem vernetzt. Ich meine, heutzutage durch das Internet, durch Foren, durch Interessensverbände, die es ja auch gibt, hat man einfach die Möglichkeit, eben sich auch mit anderen Betroffenen auszutauschen.

Judyta:
Ja, und ich glaube, das sollte man auf jeden Fall nutzen und nicht denken, dass das so „Der Klub der Betroffenen“ ist, wo man sich trifft und sich bemitleidet…

Jonas:
Selbsthilfegruppe…

Judyta:
Ja, sondern dass es etwas empowermentmäßiges ???? ist, also, dass man da wirklich viel lernen kann, sich stärken kann. Aber das weiß ich halt jetzt erst. Und was auch krass war, war die Geschichte, so, die ganzen Mädchenzeitschriften, die man so hatte, oder die ganzen Doku-Soaps… ne, nicht Doku-Soaps… Soaps – GZSZ und Co., wo es halt heißt…

Jonas:
So was hast du gekuckt?

Judyta:
Natürlich… 

Raul:
Der Leon saß wohl im Rollstuhl.

Judyta:
Ja, aber der hatte dann irgendwann wieder eine spontane Heilung.

Raul:
Ja, das ist oft so.

Jonas:
Das ist total häufig so. Hab ich gehört.

Judyta:
Das hat alles gefehlt. Und ich hatte da aber auch so einen guten Instinkt, glaube ich, ich bin diesen Zeitschriften dann nicht so verfallen, weil ich dachte so, das betrifft mich ja alles sowieso nicht. Also, obwohl, natürlich hatte ich mir irgendwelche Tipps für die Haut abholen können, aber halt nicht Tipps für High Heels, weil ich High Heels nie tragen konnte. Also, ich glaube, ich hatte da so eine, so eine Schutzbarriere, die einfach gesagt hat, so okay, das betrifft dich nicht und das macht dich aber auch nicht irgendwie uncooler oder so, weil es ist eigentlich sowieso oberflächlich.

Raul:
Also, was ich auch spannend finde, wenn ich jetzt mit Jugendlichen zu tun hätte, würde ich versuchen, mit ihnen über das Thema „Deine Behinderung ist nicht an allem schuld oder für alles verantwortlich.“ zu sprechen. Also, weder dafür, dass die Leute Scheiße zu dir sind, noch, dass du vielleicht besonders schlau oder besonders talentiert in anderen Bereichen sein musst.

Judyta:
Und, weil du eine Behinderung hast, darfst du nicht automatisch irgendwie blöd zu anderen sein.

Raul:
Genau. Dass man sich nicht hinter der Behinderung verstecken sollte. Die Versuchung ist groß. Aber am Ende des Tages, glaube ich, ist es eine Negativ-Rechnung, wenn man das dauerhaft macht.

Jonas:
Auch in dem Punkt, wenn man meint, dass die Behinderungen für alles verantwortlich ist. Wenn man sagt „Mich mag keiner, nur weil ich eine Behinderung habe… finde ich doof, weil ich eine Behinderung habe… da habe ich schlechte Noten, nur weil ich eine Behinderung habe.“

Raul:
Es geht in die Richtung. Es ist sicherlich eine Wechselwirkung. Also, es kann sein, dass die Leute Scheiße zu einem sind, weil man eine Behinderung hat oder einen nicht mögen oder man schlechte Noten bekommt. Aber eigentlich liegt das nicht an einer Behinderung, sondern am Gegenüber.

Judyta:
Ja, was man heute den Kindern und Jugendlichen und Eltern von behinderten Kindern mitgeben kann ist, dass sich viel verändert hat. Also, dass die Öffentlichkeit eine andere ist, dass es mehr Filme, Bücher, Sendungen gibt – immer noch zu wenige natürlich – aber dass es ein paar Dinge gibt – in Kinderbüchern zum Beispiel – dass Vielfalt irgendwie mehr die Rolle spielt. Das hatten wir auch schon mal an anderer Stelle gesagt.

Jonas:
Und können gerne in dem Sinne noch mal auf unseren Podcast „Kinder und Behinderungen“ verweisen, wo wir auch noch mal ganz detailliert darüber sprechen.

Judyta:
Genau, das kommt einfach schon vor. Und es gibt mehr positive Beispiele, beziehungsweise einfach Beispiele, wie man selber ist.

Raul:
Aber da muss ich sagen, das ist wirklich ein ganz, ganz schmaler Grat. Also, es gibt auch richtige Scheiß-Literatur und -Filme, die das Thema Behinderung behandeln, die Stereotype zementieren, und die, die es gut meinen, sind dann so pädagogisch, dass die Geschichte halt so unspannend ist, weil alles korrekt sein muss, dass Kinder die dann auch in die Ecke feuern. Das heißt, dieser Grad, diesen Spagat zu gehen zwischen spannend und gehaltvoll, ist wirklich sehr schwer zu treffen, und es kann auch nicht jeder ein Kinderbuch machen. Das muss man ganz klar sagen.

Judyta:
Das stimmt! Also an dieser Stelle noch einmal: Gruß an Hannah, die Hörerin, die die Frage hatte. Also, es ist nicht immer alles gut, nur weil man das es auf Teufel-komm-raus irgendwie inklusiv machen möchte, sondern es sind manchmal auch einfach die kleinen Dinge und Situationen.

Raul:
Es gibt ja das kimi-Siegel, das Kinderbuch-Siegel für Vielfalt, wo auch eine Dimension Behinderung ist. Und ich glaube, das wird gerade vergeben, lohnt sich sicherlich mal reinzugucken auf kimi-siegel.de, um da zu schauen, welche Kinderbücher gerade empfohlen werden mit Vielfaltsmerkmal.

Jonas:
Da fiel mir jetzt neulich auf, weil leider jetzt Anfang Juli, der Schauspieler Tilo Prückner verstorben ist – es gab damals… habe ich als Kind gesehen und das fand ich sehr unterhaltsam… einen Film, wo er gemeinsam mit Mario Adorf zwei – es ist eine TragikKomödie – zwei Gangster spielt, er hieß „Bomber und Paganini“, glaube ich, der Film. Die durch einen Überfall, der misslingt, beide eine Behinderung haben und zwar Mario Adorf in seiner Rolle ist blind, und Tilo Prückner sitzt im Rollstuhl und ist halt so eine Art… ja, ich will nicht sagen „Roadmovie“ – ist zu viel gesagt, aber dass dann beide unterwegs sind und der Blinde schiebt den, der im Rollstuhl sitzt, und müssen sich quasi so gegenseitig helfen. Fand ich als Kind sehr unterhaltsam. Ohne den Hintergedanken zu haben, sind die Rollen jetzt authentisch besetzt? 

Judyta:
Ne, hattest du das nicht damals, diese Sicht? 

Jonas:
Nein, hatte ich damals nicht – heute ein großes Thema. Aber das fiel mir jetzt neulich noch mal wie gesagt auf, als der Tilo Prückner verstorben ist. Und was aber bei meiner Recherche auch aufgefallen ist, dass es viele, viele Webseiten gibt, die eben diese Tipps – und da sind wir vielleicht auch an dem Punkt, wo wir sagen: „Okay, was können wir euch Hörer*innen mitgeben aus dieser Folge? – dass wir viele, viele Tipps hatte oder Webseiten, die ja verschiedene… also die 10 Tipps, die man mitgeben könnte an Kinder und solche Listen, wovon wir euch auch einige in unseren shownotes auf www.dieneuenorm.de verlinken werden. Sind solche Listen sinnvoll?

Raul:
Ich habe ein bisschen die Sorge, dass dann so ein Druck durch diese Listen entstehen kann… „Mein Kind muss jetzt unbedingt diese 10 Punkte befolgen, kennen, machen, tun.“ 

Jonas:
„Sei lieb. Respektiere andere“ – Die Zehn Gebote.

Judyta:
„Sei kein Arschloch.“

Raul:
„Sei kein Arschloch“ ist wahrscheinlich schon mal ein ganz großer Anfang. Und ich würde mir eher wünschen von der Gesellschaft, dass wir Kindern mit Behinderung, egal was für eine Behinderung sie haben – wirklich ganz wichtig – mehr zutrauen! Und dass wir nicht von vorneherein glauben, sie in Watte packen zu müssen, sondern wirklich erst das Kind sehen mit seiner Neugier, mit der Offenheit und auch mit den Fähigkeiten, die jeder unterschiedlich hat. Und nicht immer nur – auch in Anwesenheit des Kindes – zum Beispiel über Behinderung zu sprechen. Das war etwas, was ich meinen Eltern total dankbar für bin, dass sie nicht permanent über Behinderungen gesprochen haben, wenn sie auf andere Eltern trafen, sondern dass sie…

Judyta:
Gibt es Eltern, die das machen?

Raul:
Ja, voll! Dass in irgendwelchen Gesprächen… dass permanent über Behinderungen gesprochen wird, über das Kind und die Pflege und wie aufwendig das Ganze ist und so. Und das nimmt man ja dann irgendwie mit auf.

Judyta:
Naja, aber es ist vielleicht auch irgendwie ein Teil dieses Elterntalks. Wie war denn heute der Windelinhalt und so…

Jonas:
Aber doch nicht, wenn das Kind dabei ist. 

Raul:
Das kann man machen, wenn das Kind zwei ist. Bis es zwei ist, aber vielleicht nicht mehr ab drei. Weil dann ist es einfach auch irgendwie eine Privatsphäre des Kindes.

Judyta:
Aber wir sind ja alle keine Eltern. Deswegen…

Jonas:
Kann ja noch kommen! Allerletzte Frage: Habt ihr das Gefühl, wenn wir jetzt diese Zeitreise beenden, was ihr eurem früheren Ich gerne mitgegeben hättet über Behinderungen, dass sich etwas getan hat, dass der Umgang mit euch als Kindern, damals vor einigen Jahren, dass sich das geändert hat, wie mit Kindern mit Behinderung heute umgegangen wird? Vielleicht gibt es sogar eine positive Entwicklung?

Raul:
Müsste man sich eigentlich mal mit aktuellen Kindern mit Behinderung austauschen. Weil ich glaube schon, dass diese Dinge besser geworden sind, was zum Beispiel Barrierefreiheit von Schullandheimen angeht. 

Judyta:
Schullandheim…

Raul:
Ja, dass du irgendwie so eine Klassenfahrt gemacht hast … und Freizeiteinrichtungen, öffentlicher Personennahverkehr. Ich glaube schon, dass Behinderte mehr Freiheiten haben, als wir es damals hatten, die alle noch mit so Schwerbehindertentransporten von A nach B gefahren wurden.

Judyta:
Oh ja, an dieser Stelle einen Gruß an meiner Heimatstadt Hamburg, die es endlich auf die Kette bekommen hat, richtig viele U- und S-Bahn-Stationen barrierefrei auszubauen. Das hätte mir so viel Lebenszeit ersparen. 

Raul:
Wie lange hat es gedauert? 

Judyta:
Ja, also ich bin jetzt schon ein bisschen erwachsen. Fast schon seit über zehn Jahre, oder noch ein bisschen mehr…

Jonas:
Meine Heimatstadt Essen – übrigens Kulturhauptstadt 2010 – fängt jetzt gerade erst damit an, das so langsam umzubauen. 

 

Gut, aber wir kommen zum Ende unseres Podcasts und können einfach festhalten, dass wichtig ist, im Austausch zu bleiben mit den Kindern, auch, wie Raul, wie du gesagt hast, einfach auch mal vielleicht fragen, wie so die aktuelle Situation ist.

Wir freuen uns, wenn ihr auch beim nächsten Mal in unserer Podcastfolge von Die Neue Norm wieder mit dabei seid.
Alle nützlichen Links findet ihr auf www.dieneuenorm.de und wenn ihr uns hört in der ARD-Audiothek, bei Spotify oder bei Apple Podcast, lasst uns gerne eine Bewertung da. 

Und wir hören uns dann beim nächsten Mal wieder, bis dahin.

Judyta, Raul, Jonas:
Tschüß!

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

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