Die Neue Norm: „Drei Journalist*innen, zwei Rollstühle und eine Sehbehinderung: Die Journalist*innen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 16: „Behindertenwohnheime“
In Gedenken an Martina W. Christian, S. Lucille, H. Andreas K.
Jonas Karpa:
Herzlich Willkommen zu Die Neue Norm dem Podcast. Eigentlich hatten wir in dieser Ausgabe ein ganz anderes Thema geplant. Doch mitten in der Vorbereitung erreichte uns dann diese Nachricht:
Am Abend des 28. April wurden in einer Wohn- und Pflegeeinrichtung für behinderte Menschen in Potsdam-Babelsberg fünf Bewohner*innen angegriffen, vier von ihnen tödlich verletzt.
Der Tat verdächtigt wird eine Pflegemitarbeiterin aus der Einrichtung, die inzwischen in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht wurde. Wir möchten heute darüber sprechen, wie die Situation in solchen Pflege- und Wohneinrichtungen für behinderte Menschen ist. Wir möchten auch darauf schauen, wie über diese Tat berichtet wurde. Und wir möchten gucken, was für alternative Wohnformen gibt es für behinderte Menschen? Darüber sprechen wir mit Judyta Smykowski und Raúl Krauthausen.
Judyta & Raúl:
Hallo… Hallo
Jonas:
Mein Name ist Jonas Karpa. Wir selbst sind nicht in einer Pflege- und Wohneinrichtung untergebracht, sondern wohnen zuhause. Aber du, Raúl, du hast dich mal… ja, ich will nicht sagen…in so eine Einrichtung „gewagt“. Du hast mal ein Heim-Experiment gemacht und bist für einige Tage in so einer Einrichtung gewesen. Wie kam es dazu?
Raúl:
Ja, das war vor fünf Jahren, da war ich, als wir gegen das Bundesteilhabegesetz protestiert haben, für fünf Tage undercover in einem Behindertenheim. Es war nicht das Oberlinhaus in Potsdam, sondern es war in einem anderen Bundesland. Und wir sind dahingegangen, bzw. ich bin da reingegangen, mit einer anderen Frisur und anderem Aussehen, auch anderem Rollstuhl, sodass man mich möglichst nicht wiedererkennt. Weil die Politik damals behauptet hat, bei der Entwicklung des Gesetzes, des Bundesteilhabegesetzes, dass Heime doch ganz okay seien. Und es Politiker*innen gab, die gesagt haben, ein Wohnheim ist so wie die eigene Wohnung. Und dann haben wir gesagt Okay, das glauben wir nicht. Da müssen wir den Gegenbeweis antreten. Wir gehen da jetzt rein, und ich bin mit versteckter Kamera fünf Tage in dieser Einrichtung gewesen und habe da jetzt keine Misshandlung erlebt und keine wirklich bewusste, aktive Gewalt, aber schon strukturelle Gewalt und auch sehr schambehaftete Momente und Situationen, wo ich denke, wenn das nicht behinderte Menschen über sich ergehen lassen müssten, dann wäre die Rebellion groß. Aber es ist leider wie so oft, da wo wir nicht hinschauen, da kriegen wir dann eben auch nicht mit, was passiert. Und die Einrichtungen haben ein viel zu gutes Image im Vergleich zu der Arbeit, die dort gemacht wird, beziehungsweise die Situationen, in denen Bewohner sich befinden.
Jonas:
Aber man kann natürlich, glaube ich, auch sagen, dass wir jetzt… also es gab diesen Vierfachmord… dass wir jetzt natürlich über die strukturellen Probleme, die vielleicht in solchen Einrichtungen herrschen, reden können. Aber wenn es wirklich um solche Taten geht wie Mord, das könnte ja theoretisch gesehen immer wieder passieren. Beziehungsweise es kann auch auf offener Straße zur falschen Zeit am falschen Ort passieren, wenn man eben auf Leute trifft, die vielleicht im psychischen Wahn handeln. Es geht ja jetzt glaube ich eher nicht in unserer Diskussion darum, wie man jetzt einen Mord verhindert, sondern generell zu schauen, wie ist die Situation in solchen Pflege- und Wohneinrichtungen?
Raúl:
Ja, es geht darum vor allem. Ich frage mich aber trotzdem schon, wenn wir uns den Tatverlauf anschauen oder zumindest das, was bekannt ist, wie es eigentlich sein konnte, dass eine Pflegerin genug Zeit hatte, in aller Seelenruhe fünf Bewohnerinnen umzubringen, obwohl angeblich zur Tatzeit das Heim voll besetzt war an Personal. Dass diese Person dann in der Lage war, nach Hause zu fahren, diese Tat ihrem Mann zu beichten, der Mann dann bei der Polizei anruft und erst dann die vier Toten entdeckt wurden. Also wie wieviel Zeit muss da verstrichen sein? Und wie konnte es sein, dass das niemand gemerkt hat? Und ist es nicht schon auch problematisch, dass eine Pflegeperson oder eine potenzielle Mörderin Zugriff auf so viele wehrlose Menschen hat, ohne dass jemand nach dem Vier-Augen-Prinzip oder so guckt, ob alles mit rechten Dingen zugeht für so lange Zeit. Und ich kann mir schon vorstellen, dass solche Strukturen… und das ist ja auch kein Einzelfall, also es gibt ja immer mal wieder alle paar Monate oder Jahre solche Vorfälle in Einrichtungen…, dass solche Strukturen auch Gewalt begünstigen oder zumindest vertuschen und verschleiern und verstecken.
Judyta:
Du hast ja eben gesagt, du hast auch Dinge erlebt, natürlich nicht so drastische. Aber vielleicht kannst du ein bisschen was erzählen von deiner Zeit.
Raúl:
Grundsätzlich würde ich gerne vorwegschicken, das ich normalerweise in meinen eigenen vier Wänden wohne, ich Assistenz habe. Ich wohne in einer WG und für mich war das schon ein krasses Verlassen meiner Komfortzone, mich einer Einrichtung zu überlassen, wo ich das Pflegepersonal nicht kenne, ich die Bewohner*innen nicht kenne und wo ich dann einfach von einer Sekunde auf die andere letztendlich in einem komplett neuen Umfeld war und dann auch noch in einem nicht elektrischen Rollstuhl, so dass ich auf noch mehr Hilfe angewiesen bin. Und spätestens beim ersten Mal, wo ich auf Toilette gehen musste und dabei Hilfe brauchte, ich vor Scham am liebsten alles abgebrochen hätte, einfach, weil ich mich komplett einer Person hingeben musste, die ich nicht kenne und die dann, ja, mich ausziehen musste und mir dann auf Toilette half. Und als ich dann auf dieser Toilette saß, merkte ich, dass sie die Tür gar nicht zumacht von der Toilette und ich dann da irgendwo auf dem Pott sitzte und auf den Flur gucken kann und auf dem Flur liefen dann halt andere Pfleger*innen oder Bewohner*innen lang und auch die Putzkraft, die da sauber gemacht hat. Und dann hatte ich gebeten, die Tür doch zumindest zuzumachen. Und da hatte sie die zugemacht und dann, keine drei Sekunden später klopfte es und eine andere Pflegekraft kam rein und meinte, sie hole nur mal kurz Desinfektionsmittel.
Und dann dachte ich, was wäre eigentlich, wenn das in deiner Toilette passiert wäre, liebe Pflegeperson? Also ich hab mich auf jeden Fall in dem Moment sehr, sehr… also in meine Privatsphäre eingedrungen gefühlt. Und über die Tage, die ich dann da war merkte ich, dass das normal ist, dass das immer so ist, auch bei anderen Bewohner*innen so gemacht wurde. Wenn ich sonst auf Toilette wollte, wurde ich oft vertröstet auf „wenn die Zigarette aufgeraucht ist“ von einer Pflegeperson oder wenn irgendwie diese oder jene Unterschrift in den Aktenordnern gemacht wurde. Und ich hatte zum Beispiel keinen Einfluss darauf, ob mir ein Mann oder eine Frau auf Toilette hilft, was gerade bei jüngeren Bewohnern oder Bewohnerinnen wahrscheinlich noch schambehafteter sein kann. Und es gab natürlich auch Pfleger*innen, die ein bisschen gröber waren als andere. Aber nicht, weil sie gewaltvoll sind, sondern einfach, weil es ihr Naturell ist. Und ich habe ja Glasknochen. Und wenn dann jemanden mich ein bisschen gröber anpackt, als du es eigentlich wünschst, dann hatte ich schon auch Angst, dass mir da nicht mal eben aus Versehen der Oberarm gebrochen wird oder die Schulter ausgekugelt, wenn man mir nur ein T-Shirt anziehen möchte.
Und ich glaube, da wissen dann oft auch sowohl das Pflegepersonal als auch die Bewohner*innen nicht, was das auch mit den Bewohner*innen macht und auch, dass das auch eine gewaltvolle Erfahrung sein kann, die jetzt aber nicht zum Beispiel justiziabel ist. Ich kann da nicht vor Gericht gehen, kann niemandem anzeigen. Ich weiß auch oft gar nichts über die Möglichkeiten, dass ich mich vielleicht beschweren kann an irgendeiner Stelle. Ich wurde nicht darüber aufgeklärt und informiert, dass es so etwas wie eine Heimaufsicht gibt. Ich durfte meine Zimmertür nicht abschließen. Es wurde mir ganz klar zu verstehen gegeben, dass es aus brandschutztechnischen Gründen besser sei, die Tür immer offen zu lassen. Das heißt, ich hatte auch keine Privatsphäre irgendwie. Und dadurch habe ich natürlich auch mitbekommen, was bei anderen Bewohner*innen so passierte in den Zimmern. Und ich hatte schon das Gefühl, dass die sich alle sehr weit auch zurückgezogen haben in sich selbst. Also dass sie einfach so auf dem Präsentierteller gelebt haben. Dass auch noch relativ wenig Persönlichkeit übrig blieb, das war mein Eindruck. Und das waren auch alles Bewohner*innen in dieser Einrichtung, die körperbehindert waren. Also, es ist jetzt nicht so, dass es Menschen mit so schweren Einschränkungen waren, wo man sagen würde: Ja, aber die brauchen ein Heim, sondern es waren Menschen, die auch… also ich kenne Menschen mit ähnlichem Behinderungen oder gleichen Behinderungen, die in Berlin mit Assistenz in ihren eigenen vier Wänden leben und zwei Kinder haben. Das tun die dort in dieser Wohneinrichtung nicht. Und das krasse ist…
Judyta:
Und wie lange warst du da?
Raúl:
Fünf Tage war ich da, und das war ja auch nur für diese undercover-Aktion. Und was ich halt wirklich krass fand, das ist vielleicht noch der letzte Satz dazu, dass das eigentlich eine Wohngruppe war, die sich AktivWohnen nennt. Das heißt, die Bewohner*innen sollten innerhalb von zwei Jahren in dieser Wohngruppe lernen, irgendwann alleine wohnen zu können in ihren eigenen vier Wänden. Und wenn man dann aber mit der Nachtschwester gesprochen hat und das habe ich halt einmal gemacht und sie gefragt, wann wechseln denn hier eigentlich Bewohner, sagte sie zu mir: Eigentlich nur, wenn jemand stirbt. Also nicht alle zwei Jahre. Und auf dem Papier werden diese Einrichtungen immer noch gerechtfertigt mit der Begründung, dass sie eben Menschen mit Behinderung empowern und befähigen, in ihren eigenen vier Wänden später mal zu leben. Aber de facto passiert das nicht, und es wird auch nicht geprüft, weil wo sollen sie denn hin, wenn sie nicht alleine wohnen? Und deswegen bleiben die da, und das wird jedes Mal neu gerechtfertigt „Du bist noch nicht so weit. Es geht noch nicht.“ Und ich habe wirklich in einem Zimmer gewohnt, wo jemand zuvor verstorben war und diese Trostlosigkeit in einer Einrichtung, die eigentlich total barrierefrei ist, also die Türen gingen automatisch auf und zu. Man kann jederzeit kommen und gehen, wann man will. Das ist kein Gefängnis. Und dir wird auch nichts verboten. Aber die Struktur sagt dir permanent, dass du bloß nicht den Arbeitsablauf stören sollst. Also wenn du nachts um drei Spaghetti Bolognese essen möchtest und dabei Unterstützung brauchst, dann wird dir das vielleicht einmal gewährt. Wenn du das aber jeden zweiten Tag machen willst, dann wird dir sehr schnell gesagt, das geht so nicht, das kannst du nicht machen, du hältst den ganzen Betrieb auf.
Und ich habe mich mit einem Bewohner unterhalten und der hat sich zum Beispiel nicht getraut, das Gelände zu verlassen, weil er Angst hatte, dass mit seinem Rollstuhl was passieren könnte. Und niemand in der Einrichtung vom Pflegepersonal hat gesehen und gemerkt, dass er Angst hat, mit seinem Rollstuhl umzukippen und ihm vielleicht dabei hilft, dass er keine Angst zu haben braucht das zu lernen. Sondern er wohnt dort seit zwei Jahren und traut sich noch nicht mal das Pflegepersonal zu fragen, ob sie mit ihm einkaufen gehen, weil er sagte, die haben ja eh keine Zeit. Und das heißt, er war in einer Einrichtung, die barrierefrei ist, offen, vermeintlich nach außen vielleicht sogar eine Bilderbucheinrichtung ist, aber eben in seinem mentalen Gefängnis lebt. Und darüber redet niemand. Und wenn wir die ganze Zeit immer von Präventionsmaßnahmen reden und von Gewaltschutz und so weiter und so fort und von Qualität und Begutachtung und Heimaufsicht wenn solche Einrichtungen geprüft werden, dann müssen wir auch darüber sprechen, wie Bewohner*innen in diesen Einrichtungen überhaupt über ihre Rechte und auch über ihre Möglichkeiten informiert werden. Und das hatte ich da nicht, das Gefühl, dass das passiert.
Jonas:
Das erinnert mich so ein bisschen an Werkstätten, wo auch eigentlich die Intention ist, Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten. Und dass dann das Heim ja auch nicht so ein Sprungbrett dafür ist, Menschen darauf vorzubereiten, alleine zu wohnen.
Raúl:
Genau, es geht eher in diese Richtung.
Jonas:
Aber wir reden ja, wie wir am Anfang gesagt haben, nicht unbedingt über die Mordfälle. Aber du hast ja auch gesagt, was ich sehr spannend finde, wo fängt Gewalt an? Also auch eben diese psychische Gewalt, der man ausgesetzt ist. Vielleicht indem Grenzen gezeigt werden oder Sachen, die eben wenig empowernd sind. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass jetzt auch gerade nach dem, was jetzt in Potsdam-Babelsberg passiert ist, das natürlich sehr schrecklich gesehen wird, was es auch ist, aber so als Einzelfall auch ein bisschen abgestempelt wird. Gleichzeitig haben wir aber viele Meldungen auch darüber, dass eben Misshandlungen, Diskriminierung und, ja, so ein strukturelles Problem in Pflege- und Wohneinrichtungen eben keine Einzelfälle sind.
Raúl:
Ja, wir hatten Anfang des Jahres in Bad Oeynhausen den Fall beispielsweise, dass 145 Mitarbeiter*innen einer Einrichtung behinderte Menschen misshandelt und gequält haben, teilweise auch mit Reizgas und so, dass wirklich alles schön in irgendeiner Untersuchungskommission jetzt wegdelegiert wurde. Jetzt sind auch keine Medien mehr interessiert und man jetzt bei dem Fall in Potsdam wieder von einem Einzelfall spricht. Und diese ganze Einzelfall-Rhetorik führt dazu, dass wir strukturell auch nichts hinterfragen. Dabei erreichen uns seit Potsdam – auch ich persönlich erhalte seit Potsdam zahlreiche Eingaben sowohl vom Pflegepersonal, von anderen Einrichtungen, als auch von Bewohner*innen in solchen Einrichtungen – dass sie Angst haben um ihr eigenes Leben, dass sie Ähnliches erlebt haben was Gewalt angeht. Ein Bewohner hatte mir geschrieben – muss man sich mal vorstellen – dass er in seinem Zimmer einen Sprachassistenten hat, eine Alexa, und er jetzt vom Pflegepersonal gebeten wurde, diese Alexa abzubauen, weil es die Privatsphäre des Pflegepersonals treffen würde oder verletzen würde. Und er konnte aber mit Alexa sein Zimmer steuern, er konnte das Licht anmachen, er konnte damit den Fernseher steuern und so. Und es wurde ihnen weggenommen, weil das angeblich die Privatsphäre oder den Datenschutz des Pflegepersonals verletzt. Und da muss man schon auch die Frage stellen: Wer wird eigentlich geschützt? Sind es wirklich die Bewohner*innen um die es geht? Oder geht es jetzt wieder um irgendwelche Paragrafen und juristische Geschichten, die wieder das Pflegepersonal festlegt? Und an wen kann sich so ein Bewohner eigentlich wenden? Der ist jetzt alleine, der kann da nicht weg.
Jonas
Ja, das finde ich total interessant was du sagst. Auch mit dem Beschwerdemanagement in dem Sinne, weil gerade in Systemen, wo es um schutzbefohlene Personen geht, wo ja meistens das System so in sich geschlossen ist, dass du dich bei den Leuten beschweren musst, über die du dich beschweren möchtest. Also so ein bisschen… ich habe so das Gefühl, wie, wenn du Polizeigewalt erlebst, gehst du dann zur Polizei? Und das ist ja irgendwie auch in sich nicht schlüssig. Und dann, wenn du in so einer Pflege-Wohneinrichtung bist und sagst, du wirst nicht gut behandelt von dem Pflegepersonal, dann gehst du zu einem anderen Pflegepersonal und dann ist die Chance groß, dass die gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigen. Eher nicht, glaube ich.
Raúl:
Eine Maßnahme, die man unbedingt machen müsste wäre, bis der Konflikt geklärt ist, also auch einvernehmlich geklärt ist, dass diese zwei Personen, die nicht miteinander können, auch erst mal nichts miteinander zu tun haben. Auch im Sinne des Schutzes der Person, die sich beschwert hat, aber auch im Sinne der Unschuldsvermutung. Ja, also natürlich kann man das nicht klären, als Dritter von außen, wenn man nicht dabei war und es keine eindeutigen Beweise gibt. Aber das ist doch für beide auch eine unangenehme Situation, wenn ich angeschwärzt wurde als Pfleger oder Pflegerin, dann weiterhin mit der Person zusammenzuarbeiten. Und wie schlimm muss es für die Person sein, die sich misshandelt gefühlt hat oder misshandelt wurde, wieder in Kontakt mit dieser Person sein zu müssen, weil es gerade keine Alternative gibt. Und dass es Alternativen gibt, wissen sie oft gar nicht. Also wenn ich z.B. von meiner Assistenz rede bei mir zu Hause, da kommen ja Menschen, die mir im Alltag helfen. Und sowohl ich als auch meine Assistent*innen haben die Möglichkeit, jeden Tag aufs Neue zu sagen, sie möchten nicht mehr mit mir oder ich nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten. Und das ist unser beider Recht. Und wir müssen da nicht vor Gericht gehen oder so. Und wenn das so ist, dann wird jemand Neues gesucht. Und so muss es eigentlich in Heimen auch sein. Aber ich wette, Bewohner*innen von solchen Einrichtungen, die haben gar keine Entscheidungsmöglichkeiten, welche Pflegerin oder welcher Pfleger eingestellt wird.
Judyta.
Es gibt dann ja auch noch den Fall, dass Bewohner*innen zum Beispiel sich nicht verstehen. Das habe ich in einer Diskussion mitbekommen. Vom Bündnis Inklusion progressiv – verlinken wir auch noch einmal einen Shownotes auf www.dieneuenorm. de. Da ging es darum, dass sich eine Bewohnerin und Bewohner nicht verstanden haben, beziehungsweise ist das auch untertrieben. Sie, die Lisa, so wird sie genannt in dem Panel, hat sich gestalked gefühlt auch von den Bewohnern – und hat da eben auch keine Hilfe bekommen vom Personal. Das wurde dann so hingenommen. Und so tragisch diese Ereignisse gerade sind, so führt es halt dazu, dass gerade jetzt auch diese Geschichten erzählt werden und dass sie halt auch erzählt werden müssen, wo wir auch wieder bei der Verantwortung von uns Journalist*innen sind, dass wir diese Geschichten auch sichtbar machen.
Raúl:
Bei der Lisa, ich hatte das bei der Diskussionsrunde auch gehört, da wurde mir dann auch noch mal klar, was es eigentlich heißt, wenn in den Medien und solchen Einrichtungen immer von Wohngruppe die Rede ist. Ich glaube z.B., dass eine nicht informierte Zuhörer*in oder Zuschauer*in bei dem Wort Wohngruppe relativ schnell an WG denkt. Man muss aber wissen, dass so eine Wohngruppe in so einer Wohneinheit oder Pflegeeinrichtung meistens aus 8 oder 14 Bewohner*innen besteht. Und das ist eher ein kleines Heim oder ein kleines Krankenhaus als wirklich eine nette Wohnung. Und eine 14er WG ist ja auch nicht immer friedlich. Und wenn ich aber in einer 14er WG wohne in Berlin Kreuzberg mit meinen Hippie-Kumpels und mir passen 8 von den 14 Bewohner*innen nicht, dann habe ich jederzeit die Möglichkeit auszuziehen.
Wenn ich aber in einer Wohngruppe wohne, von so einer Behinderteneinrichtung, dann kann ich nicht ausziehen. Das heißt, es ist auch Gewalt, diesen Bewohner*innen, die mich zum Beispiel wie bei Lisa, die mich stalken, wenn ich denen nicht aus dem Weg gehen kann. Und das ist auch etwas, worüber wir reden müssen, wenn wir über strukturelle Veränderungen sprechen, dass eine Wohngruppe eben nicht so etwas ist wie eine WG, das ist ganz wichtig. Und das ist auch eine Verantwortung, finde ich, dass der Journalismus noch mal genauer hinzuschauen hat. Wer deutet hier eigentlich, was in einer Einrichtung wie zu heißen hat? Und es sind meistens Wörter, die da benutzt werden, die von nicht Betroffenen, nicht behinderten Menschen entwickelt wurden, um es möglichst angenehm klingen zu lassen. Wohngruppe – klingt erst mal nett.
Judyta:
Apropos deuten… also es gab dann ja auch beim RBB ein Spezial nach der Tat, wo dann auch ein Polizeipsychologe, der Gerd Reimann, befragt wurde und man spekulierte über die Tat, über die Motive der Täterin. Und da fielen dann auch so Wörter wie Erlösung vom Leid oder halt auch Überforderung der Täterin. Und das sind natürlich wirklich schlimme Sätze, die dann so ein bisschen auf diese Täter-Opfer-Umkehr hindeuten, dass man sozusagen Erklärungen sucht, warum sie es jetzt gemacht hat. Und im schlimmsten Fall denkt man so: Ja klar, war doch klar, dass so etwas passiert. Und das ist ja automatisch auch so, wenn man überfordert ist, was natürlich wirklich einfach dramatisch ist, da so einen Schluss zu ziehen.
Jonas:
So wie du es quasi gesagt hast, dass man auf der einen Seite immer für solche unerklärlichen Sachen halt nach Erklärungen sucht. Aber dass dann dort, sage ich mal, der Pflegenotstand, den es ja de facto gibt in Deutschland, dass der dann herangezogen wird als mögliche Begründung, warum das alles plausibel klingt, es ist wirklich absurd. Am Ende wurde eigentlich nur noch über diese vermeintliche Täterin gesprochen und die Gründe gesucht, warum das denn jetzt nachvollziehbar ist, anstatt über die Opfer. Es hat sehr lange gedauert, bis diese Namen überhaupt öffentlich wurden von den Opfern.
Raúl:
Ich glaube, was auch wirklich noch mal ganz wichtig ist, natürlich ist der RBB nicht verantwortlich dafür, was ein Polizeipsychologe sagt. Aber der RBB ist zum Beispiel dafür verantwortlich, das auch entsprechend einzuordnen, also auch eine Gegenposition vielleicht noch mal abzubilden. Auch mal ganz klarzumachen, dass das hier die einzelne Aussage eines Polizeipsychologen war. Aber es nicht unkommentiert in den Raum als legitimen Grund hinzustellen, dass man aufgrund von Überforderung oder Erlösung Menschen umbringt.
Ich meine, kein Amazon-Paketlieferant bringt aus Überforderung Menschen um. Also diese Idee, dass die Überforderung überhaupt ein Motiv sein kann, ist brandgefährlich, wenn man das nicht einordnet. Und das insgesamt, und das zieht sich schon, finde ich, durch die komplette Berichterstattung seit dieser Tat, insgesamt viel zu sehr die Perspektive des Pflegepersonals eingenommen wurde. Da wird dann der Pfarrer angehört, der dann so schreckliche Sätze sagt, wie, dass die Bewohner*innen in dieser Einrichtung sich in einem Lebensvollzug befinden. Redet darüber, als wäre es ein Gefängnis. Dass die ganze Zeit, wenn über Bewohner*innen gesprochen wird, Wörter gebraucht werden, wie, sich kümmern, die Schwachen, die Schützlinge, dass sie viel Geborgenheit brauchen, dass es um Liebe geht, dass es aufopferungsvoll sei, dass in einer Pressemitteilung vom Oberlinhaus, wenn ich das richtig erinnere, sogar von Verstorbenen die Rede war und nicht von Ermordeten oder Getöteten. Dass unglaublich viel Paternalismus in der Berichterstattung auch ist.
Dass es ständig darum geht, dass das heilige Pflegepersonal, das ja einmal kurz durchgedreht ist, ja, und dann aber doch irgendwie bewachend und beschützend die Hände über den Menschen mit Behinderung hat und die ganze Zeit so wie Kinder behandelt wird. Das macht Menschen mit Behinderung auch behinderter als sie sind und warum bedeuten behinderte Menschen eigentlich Stress? Und warum redet man nicht über den Stress, den die behinderten Menschen in diesen Einrichtungen selbst erleben. Auch mal die Perspektive umzudrehen und sich die Mühe zu machen, dass man mal die Perspektive von Bewohne*rinnen einnimmt und auch anhört. Und vielleicht noch einen Satz dazu, da wird mir oft von Journalist*innen entgegnet, Naja, aber die brauchen ja auch hier Zeit zum Trauern. Wie sollen wir denn jetzt da irgendwie Bewohner*innen kriegen? Die schirmen die Einrichtung ja ab. Also ganz ehrlich Leute! Es gibt Hunderte solcher Einrichtungen in Deutschland. Ihr würdet bei jeder anderen Tat und bei jeder anderen Gruppe, die umgebracht worden wäre, würdet ihr versuchen, vergleichbare Settings zu finden, wo ihr Leute interviewen könnt, die Ähnliches erlebt haben. Und ihr müsst nicht in die gleiche Einrichtung gehen, um die Erfahrung von Menschen mit Behinderung einzusammeln. Also macht euch wirklich die Recherchemühe und versucht auch an den Presseabteilungen dieser Einrichtungen vorbei, die euch sowieso immer nur die tollen Fälle zeigen werden, an wirkliche Informationen zu kommen, die jetzt nicht so präsentiert worden wären, wenn man die Einrichtung gefragt hätte.
Judyta:
Was mich da auch sehr sehr schockiert hat war dann der Trauergottesdienst, wo vier weiße Rollstühle auf dem Altar aufgebaut waren. Also eine Symbolik, die wohl angelehnt ist an Christchurch – da war mal ein Erdbeben – das ist schon mal der erste schiefe Vergleich – warum wird da die Tötung von Menschen mit einer Naturkatastrophe verglichen? Das war ganz ganz schrecklich zu sehen, und wir wissen nicht, ob das vier Rollstuhlfahrer*innen waren. Der Rollstuhl steht ja auch sehr oft für Behinderung. Was einfach fatal ist, weil der Mensch komplett fehlt. Also normalerweise bei einer Beerdigung gibt es Bilder von den Verstorbenen oder die Särge werden dort aufgebaut. Und hier waren es eben nur die Rollstühle, also auch wieder eine, ja irgendwie eine Reduzierung auf die Behinderung. Die Person verschwindet. Es hat mich auch so ein bisschen an ein Titelbild der WELT damals erinnert, als Stephen Hawking gestorben ist, der Physiker. Da wurde auch nur sein Rollstuhl auf der Titelseite gezeichnet. Und das hat immer so ein bisschen, so den Anschein, so, jetzt sind sie erlöst von ihrem Rollstuhl, von der Behinderung. Also auch wieder diese, diese Symbolik des Erlösens, dass man behinderte Menschen immer irgendwie erlösen muss, dass sie zwangsläufig leiden. Ja, das war noch einmal ganz ganz schlimm mit anzusehen.
Jonas:
Ja, es wurde auch die ganze Zeit immer erzählt…. oder auch in dem Gottesdienst hat der Pfarrer gesagt, dass diese vier Plätze bleiben nun leer. Also, es ist für mich auch vollkommen unverständlich, wie man diese Art von Symbolik da hat durchwinken können. Mich hat’s ein bisschen daran erinnert, an diese Mahnmale bezüglich Fahrradunfällen. Es gibt ja häufig an Kreuzungen, wo ein Fahrradunfall, ein tödlicher Fahrradunfall passiert ist, wo eben auch so ein weißes Fahrrad an den Ampelpfahl, an die Laterne, an ein Straßenschild gestellt wird, um eben auf diesen Unfall – was es auch eben ist: ein Unfall und keine Tat, kein Mord in dem Sinne gewesen, aufmerksam zu machen. Und gleichzeitig können wir eben hier sicher sein, dass diese Person, die gestorben ist, auf dem Fahrrad gesessen hat. Dort ergibt es irgendwie Sinn. Aber da jetzt, ja, wie du gesagt hast, einfach vier weiße Rollstühle hinzustellen… es war wirklich sehr sehr zynisch. Und was mir aufgefallen ist in der Berichterstattung, wir haben ja auch unser Projekt leidmedien.de, wo es eben um die klischeefreie Berichterstattung in Wort und Bild geht. Und ich hatte das Gefühl, dass sich in den letzten Jahren das schon ziemlich gebessert hat. Also so gängige Floskeln hat man gar nicht mehr so häufig gesehen, und ich dachte, yeah, wir sind auf dem richtigen Weg. Und kaum passiert dann so eine Tat, wo natürlich dann auf einmal… und da ist auf einmal wieder Behinderung Thema. Also es wird wenig in den Zeitungen, in Medien so generell über Behinderungen berichtet. Aber da haben sie sich jetzt natürlich alle draufgestürzt, und da wurden die alten Floskeln von Leid und so weiter herausgeholt. Und ja, es gibt noch viel zu tun in dem Sinne.
Raúl:
Ja, und dass RBB dann im Anschluss ein RBB Spezial gesendet hat, wo dann zur Untermalung des Tons Bilder verwendet wurden aus einem Imagefilm vom Oberlinhaus. Und dass ganz am Ende des Tages, der RBB auch noch den Mut hatte, den Mumm hatte – also noch nicht mal Mut – da überhaupt nicht draufkamen, das vielleicht zu ändern, haben sie wirklich „Ziemlich beste Freunde“ gezeigt als Kinofilm, wo man denkt, so, wie viele moralische Fallnetze mussten da eigentlich durchbrochen werden, dass das niemand gesehen hat. Hat niemand in der Redaktion mal geguckt, okay, was machen wir im Programm? Und was kommt danach? Kann das vielleicht pietätlos rüberkommen? Aber anscheinend fanden die das total in Ordnung.
Jonas:
Ich bin mir unsicher, ob dieser Film „Ziemlich beste Freunde“ an dem Abend eh eingeplant war. Es hatte für mich auch so ein bisschen den Anschein, um einen positiven Ausstieg aus dem Tag zu haben, so ein positives Ende, dass es einem vielleicht auch zeigen sollte, dass behinderte Menschen zu pflegen, sich um sie zu kümmern, doch gar nicht immer so negativ ist und auch ein bisschen lustig sein kann. Aber ja bei jeder anderen Geschichte, bei jeder anderen Tat gibt es „Notfallprogramme“ selbst eben im Hörfunk. Wenn irgendwelche Katastrophen und so passieren, wird eine andere Musikfarbe gewählt, dass nicht irgendwie die lustigen, poppigen Partylieder gespielt werden, sondern eher Balladen und Co. Also solche Programminhalte hat jede Rundfunkanstalt, und es wirkte wie ein schlechter Scherz.
Raúl:
Und der Pfarrer, den wir schon mehrfach angesprochen haben, Matthias Fichtmüller, der des Oberlinhauses, der hat dann jetzt in mehreren Interviews auch gesagt… also letztendlich so eine Art Täter-Opfer-Umkehr betrieben, als er gesagt hat, dass wegen diesem Aufschrei jetzt aus der Szene der Menschen mit Behinderungen die Einrichtung keine Zeit hätte zum Trauern. Und er sagte – Zitat – „Es ist jetzt nicht an der Zeit, sich den strukturellen Fragen zu widmen. Das könne man vielleicht in einem Jahr machen“.
Jonas:
Ja, gerade jetzt ist es an der Zeit!
Raúl:
Gerade jetzt müssen wir die strukturellen Fragen in diesen Einrichtungen stellen und auch hinterfragen. Ich lasse mir doch nicht von einem Pfarrer, der von Lebensvollzug spricht als Mensch mit Behinderung, egal ob ich in der Einrichtung wohne oder nicht, den Mund verbieten, wenn ich solche Strukturen kritisiere. Also das muss man auch noch mal ganz klar sagen, dass ein Pfarrer auch vielleicht nicht der ideale Gesprächspartner für Medien sein sollte, wenn es um solche Taten geht, sondern wir wirklich versuchen müssen, mit den Opfern und den Angehörigen Kontakt aufzunehmen und auch zu gucken, wie so etwas für die Zukunft verhindert werden kann.
Judyta:
Ja, aber auch dazu – da hat auch zum Beispiel der Ministerpräsident von Brandenburg, Dietmar Woidke, gesagt: Die Tat trifft die Schwächsten, die Menschen, die unser aller Schutz brauchen. Und bei solchen Sätzen stellen sich mir auch die Haare auf, also dann in dem Zusammenhang von den Schwächsten zu sprechen, das dann auch wieder noch einmal zu betonen und welchen Schutz brauchen sie denn? Ich unterstelle jetzt mal, dass er meinte, den Schutz von diesen Einrichtungen, von den Sonderwelten. Und gerade den Schutz brauchen sie ja nicht. Sie brauchen ja gerade den Schutz, nicht getötet zu werden in ihrem Zuhause.
Jonas:
Ich möchte keinen Schutz. Ich möchte Gleichberechtigung.
Raúl:
Genau, eben! Und das muss man auch bedenken, das war ihr Zuhause! Wenn du dich in deinem Zuhause nicht sicher fühlst! Und, wie gesagt, da bekommen wir wirklich regelmäßig E-Mails von Bewohner*innen oder vom Pflegepersonal. Die sagen: Diese Einrichtung, in der ich bin, ist nicht sicher. Da müssten wir hinschauen! Und es braucht auch Strukturen des Beschwerdemanagements. Es braucht Aufklärung der Bewohner*innen in diesen Einrichtungen über ihre Rechte. Und es braucht viel viel mehr Transparenz über: Was wird geprüft? Wer prüft? Wie wird geprüft? Und wie werden Bewohner*innen befähigt? Und warum werden eigentlich hundert Prozent dieser Einrichtungen von nicht behinderten Menschen geführt? Wir führen doch auch keine Frauenhäuser mit Männern.
Jonas:
Aber bei all der Kritik, die jetzt ja quasi auch einprasselt auf solche Pflege- und Wohneinrichtungen… dann wird auch häufig immer gesagt: Ja, aber das ist eben die beste Struktur, die es für Menschen mit Behinderungen gibt. Aber was gibt es denn für Alternativen, wo wir sagen würden, nein es ist eben nicht ein Pflege- oder ein Wohnheim. Es ist eben nicht die bestmögliche Form, wo Menschen mit Behinderungen, ja „einfach untergebracht werden“, sondern es gibt viele weitere Formen. Was sind das für Wohnformen?
Judyta:
Also zunächst müsste man natürlich sich wieder diesen Vorsatz stärker vor Augen führen: ambulant vor stationär. Das war ja auch ganz wichtig im Kampf damals 2016 für ein gutes Bundesteilhabegesetz, wo es ja auch sehr viel um Freiheiten ging, von Menschen mit Behinderung, dass sie eben in ihren eigenen vier Wänden bleiben dürfen – so drastisch muss ich das jetzt auch mal sagen. Und dort eben die Asisstent*innen kommen, also so, wie es bei Raúl der Fall ist, also, ambulant vor stationär ist eine so wichtige Regel für die Selbstbestimmung. Und die muss einfach wieder mehr eingehalten werden.
Jonas:
Ich habe zum Beispiel mit Pierre Zinke gesprochen. Er hat mir über seine Wohnsituation folgendes erzählt
„Ich bin der Pierre. Ich komme aus Dresden. Bin 31 Jahre alt und wohne in meiner eigenen Wohnung seit einem halben Jahr. Davor habe ich 3 Jahre in einer und kann nur davon schwärmen. Die WG in der ich…..war…Die Gründungsmitglieder waren vier Leute und in der WG haben vier …mit unterschiedlichsten…es war mir einfach zu laut nach 3 Jahren. Davor hab ich im Elternhaus gelebt….. kein klassisches Wohnheim… nicht so viel Lebensbestimmung gelegt worden…weil es aber enorm wichtig ist, habe ich quasi keine Option für eine Wohnmöglichkeit für mein Leben…“
Jonas:
Was ich hier total spannend fand, was er erzählt hat, eben, dass auf der einen Seite für ihn ein Wohn- und Pflegeheim eben nicht in Frage kam, weil es für ihn dort zu wenig um Selbstbestimmung geht. Also genau das, was du, Raúl, ja auch vorher gesagt hast, das auch mit deinen persönlichen Erlebnissen und dass er eigentlich diese Wohnform einer inklusiven WG eigentlich total cool fand und auch noch immer cool findet. Aber er – und das ist genau das, aus Selbstbestimmung gesagt hat, dass mit zehn Leuten zusammenzuwohnen, das ist einfach viel zu laut und viel zu stressig. Ich möchte das nicht. Und nach drei Jahren ist es auch mal genug. Und ich möchte jetzt in einer eigenen Wohnung wohnen. Und das ist genau das, was wir eben hatten. Also zu sagen: okay, die WG ist nichts mehr für mich. Ich ziehe aus. Beziehungsweise auch die Chance haben, auszuziehen.
Raúl:
Ja, und es wird ja in Deutschland immer gesagt, dass das alles nicht gehen würde, weil Menschen mit Behinderung eben ihren Schutz brauchen oder auch nicht jeder für sich selbst sorgen kann. Aber es gibt sehr wohl Länder, z.B. Schweden, wo Menschen mit Behinderung immer das Recht haben zu sagen, sie möchten in ihren eigenen vier Wänden wohnen. Es gibt dann auch viel mehr barrierefreien Wohnraum. Das kommt natürlich noch dazu. Das muss dann natürlich auch verfügbar sein. Und Wohngruppen dürfen maximal fünf Bewohner*innen groß sein. Und Bewohner*innen haben die Wahl, ob sie in ihren eigenen vier Wänden wohnen wollen oder in einer Wohngruppe von maximal fünf Bewohner*innen im Stadtkern und nicht am Stadtrand, wo nicht alles auf einem Platz ist. Die Werkstatt, die Pflege, das Wohnen und die Therapie, sondern eben, dass sie mitten in der Stadt leben können, unter anderen Menschen ohne Behinderung auch und in Deutschland sind wir noch sehr sehr stark im Selektieren und im Aussortieren.
Jonas:
Ja, ich finde diesen Aspekt von dem, dass diese Einrichtung nicht außerhalb der Stadt sind sondern in der Stadt ziemlich wichtig. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mal vor zwei, drei Jahren ein Interview geführt habe mit der Einrichtung in Wernigerode. Das ist ein Dorf, was fast ausschließlich für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist, also die wohnen dort, die arbeiten dort und in dem Dorf wohnen auch die Angestellten, die sich dann um diese Menschen kümmern. Und das wurde noch mal medial bekannt, weil es dort eine Graphic Novel gab „Der Umfall“, die quasi in diesem Dorf spielt. Und ich habe im Rahmen dessen sowohl mit dem Autor gesprochen, als auch mit dem… ich meine, es war der Pfarrer und damit auch der Leiter der Einrichtung, der eben mir ganz klipp und klar gesagt hat, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten, beziehungsweise, ja, Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung eben auch gerne unter sich sein wollen. Fand ich krass von einer Person, die nicht betroffen ist, die das sagt, wie diese Menschen mit Lernschwierigkeiten gerne leben wollen.
Raúl:
Und dass Menschen mit Behinderung – und ich finde, das sieht man auch an diesen vier weißen Rollstühlen und auch insgesamt – in einer Berichterstattung immer nur als Gruppe wahrgenommen werden. Also als Wohngruppe, als Reisegruppe, als Musikgruppe, als Theatergruppe und nicht als Individuen. Und dass letztendlich es auch superschwierig ist, mit Bewohner*innen solcher Einrichtungen in Kontakt zu kommen. Und wenn du dein Leben lang in dieser Einrichtung verbringst, dann bist du natürlich auch am liebsten dort, weil das dein Zuhause ist und du dann vielleicht auch Angst hast vor der Umwelt da draußen, die du nie kennenlernen konntest, weil die Einrichtung dich so sehr geschützt und bemuttert hat, dass du auch gar nicht die andere Welt kennenlernen konntest. Das sind dann natürlich auch internalisierte Ableismen, die man dann auch beigebracht bekommt, die man dann auch verinnerlicht.
Judyta:
Dann gibt es ja auch das Projekt Wohn:sinn, das betreibt Tobias Polsfuß. Der hat es sich zur Aufgabe gemacht, wirklich inklusive WGs… das Wort inklusiv wird ja auch viel missbraucht in dem Zusammenhang… aber Wohn:sinn steht halt dafür, dass es inklusive Wohnformen sind und gleichberechtigt dort alles abläuft. Und er gibt viele viele Workshops für Interessierte, für Familien von behinderten Menschen, wie man diesen Übergang zum Beispiel aus dem Elternhaus hin zu einer selbständigen WG schaffen könnte und hat uns auch ein paar Projekte und Wohngemeinschaften genannt, die das inklusiv durchführen. Die gibt es dann bei uns in den Shownotes.
Jonas:
Alle Informationen findet ihr auf www.dieneuenorm.de. Ihr könnt uns gerne auch Mails schreiben unter [email protected] oder [email protected].
Raúl:
Ich würde mir wünschen, dass, für die Zukunft, wenn über Menschen mit Behinderung berichtet wird, wirklich viel mehr die Perspektive der Menschen mit Behinderung eingenommen wird und nicht sich so schnell abspeisen lassen die Medien vom Pflegepersonal oder vom Pfarrer oder von irgendwelchen Angehörigen oder Eltern, die für sich in Anspruch nehmen, für die Betroffenen zu sprechen. Das ist natürlich Arbeit und das erfordert Recherche. Aber ich glaube, nur so kommen wir wirklich an des Pudels Kern von solchen Geschichten. Nämlich: wie leben Menschen mit Behinderung in Deutschland? Das erfahren wir nur aus deren Mündern und nicht von deren Pfleger*innen oder Angehörigen.
Jonas:
Ein schönes Schlusswort. Das war Die Neue Norm, der Podcast. Und wir hoffen, wenn ihr auch beim nächsten Mal wieder dabei seid. Bis dahin…
Jonas, Judyta & Raúl:
Tschüß
Eine Antwort
Hallo,
in den letzten 10-15 Jahren breitet sich eine neue Form der funktionalisierenden Haltung innerhalb der professionell Betreuenden aus. Nicht ganz zufällig erleben wir zeitgleich die Vermarktwirtschaftlichung der sozialen Hilfebedarfe, siehe BTHG, Pandemie und Behinderung, Mobbing und Fake News in den “sozialen” Netzwerken.
Wer die skandalösen Gerichtsurteile “gegen” die Täter und Helfer der Vernichtungsaktionen, die uns von sog. “lebensunwertem Leben” befreien wollten, aus den 50/60er Jahren kennt, wundert es nicht, das eine modern verpackte Kosten-Nutzen-Analyse historischen Vorbildern nacheifert … wenn auch z.T. aus unbewusstem Antrieb.
“Unsere” Leistungsgesellschaft selektiert jedes Kind in die passende Schublade und die Erfolgreichen nehmen (oder stehlen) sich was sie kriegen können.
Das z.T. erfolgreiche Aufbegehren der viel geschmähten “68er Generation” schaffte u.a. durch die Anti-Heim-Bewegung eine Unterbrechung und kritische Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Zeit und der Jahrzehnte später noch andauernden brutalen Heimerziehung Behinderter und Nichtbehinderter.
Das Grundproblem des Krieges “Reich gegen Arm” (Zitat Warren Buffet) besteht fort und diese selbsternannten Krieger wollen diesen Klassenkampf für sich entscheiden … und sie sind erfolgreich unterwegs.
Die ideologische Waffe des Neoliberalismus mit seiner globalen Strategie der Märkte-Eroberung benötigt keine großen Massen an “überflüssigen” Menschen mehr und Menschen mit Behinderung erst recht nicht. Diese Kostenrechnung geht nicht auf.
Deshalb ist der Abwehrkampf gegen diese immer dreister auftretenden Gegner eine Frage der kritischen Pädagogik ( vgl. u.a. Armin Bernhard und Wolfgang Jantzen) und kritischen Haltung gegen den Berufspolitikern, die zuvor parteipolitisch gesiebt ins Rennen geschickt werden und aus “Selbsterhaltungstrieb” vorrangig die Lobby-Gruppen bedienen.
Ich hoffe sehr, dass mehr kritische Erkenntnisse Eingang in die Strategiedebatte finden, denn Diskussionszirkel und Arbeitskreise allein können leicht im Nebel einer imaginären christlichen oder humanen “Nächstenliebe” versanden.
LG von PS