Die Koalitionsverhandlungen für die Bildung einer neuen Bundesregierung haben begonnen. Constantin Grosch blickt in Bezug auf Behindertenpolitik mit Sorge auf die Beratungen.
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In diesem Text geht es um die mögliche neue Regierung von Deutschland.
Die Parteien SPD, Gründe und FDP treffen sich nun, um einen konkreten Plan zu machen. Im Bereich Behindertenpolitik hat unser Autor Angst davor, dass es nicht besser wird für behinderte Menschen in Deutschland.
12 Seiten Sondierungspapier sollen die Politik Deutschlands in Zukunft bestimmen. So jedenfalls will die künftige Ampel-Koalition verstanden werden. Doch obwohl führende Politiker*innen, wie die Juso-Chefin Jessica Rosenthal gerade in der Gesellschaftspolitik einen echten Aufbruch erkennen wollen, bleiben die ersten vagen Andeutungen der SPD-Grünen-FDP-Koalition vieles schuldig. Besonders betrifft dies den nachhaltigen und inklusiven Umbau unserer Wirtschaft und die Behindertenpolitik.
Letztere wurde gerade einmal mit einem einzigen Satz im Sondierungspapier bedacht. Man wolle “die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen weiter ausbauen”. Dies solle im Bereich des Arbeitsmarktes, beim Wohnen und bei der Digitalisierung geschehen. Außerdem solle die “Barrierefreiheit im Alltag” gefördert werden. Konkreter wird es leider nicht.
Ein weiteres Indiz dafür, dass die Ampel-Koalition Menschen mit Behinderungen zu vergessen scheint, sind die am Dienstag bekannt gewordenen Arbeitsgruppen der Koalitionsverhandlungen. In keiner Arbeitsgruppe findet sich demnach Behindertenpolitik wieder. Auch die bisherigen behindertenpolitischen Sprecherinnen der SPD, Angelika Glöckner, sowie der Grünen, Corinna Rüffer, finden sich nicht im Verhandlungsteam wieder. Einzig Jens Beeck (FDP), bisheriger teilhabepolitischer Sprecher, ist in der Arbeitsgruppe “Kinder, Familie und Jugend” am Verhandlungstisch. Es ist zu hoffen, dass Behindertenpolitik nicht auf die Themen Gesundheit und Pflege oder Sozialstaat reduziert wird, denn die alltägliche Ausgrenzung und fehlende Teilhabe behinderter Menschen findet in allen gesellschaftlichen Bereichen statt und hat nichts mit der medizinischen Verfassung der Betroffenen zu tun.
“In den vergangen Jahren mussten Menschen mit Behinderungen immerzu Abwehrkämpfe gegen die Regierung führen. Sogar das selbstbestimmte Leben in der eigenen Wohnung stand auf dem Spiel. Nach 16 Jahren CDU-geführter Regierung sind vielen-Baustellen offen. Es wäre ein fatales Zeichen, wenn nun die Behindertenpolitik erneut aufs Abstellgleis geschoben würde”, so Inklusionsaktivist Raul Krauthausen.
Wirtschaft darf in Deutschland diskriminieren
Die Formulierung im Sondierungspapier lässt sogar einen Rückschritt im Vergleich zu anderen Staaten vermuten. So sprechen die Ampel-Koalitionäre nur von der “Förderung von Barrierefreiheit im Alltag”. Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgen Staaten wie Österreich, Israel oder die Vereinigten Staaten. Hier werden Marktteilnehmer*innen individuelle Rechtsansprüche gegeben und nur abstrakte Angemessenheitskriterien definiert. So hat der österreichische Gesetzgeber verhältnismäßige und angemessene Vorkehrungen zur Herstellung von Barrierefreiheit für öffentlich zugänglichen Orte, Dienstleistungen und erwerbbare Produkte vorgeschrieben. Gegen einen Mangel oder Missachtung haben betroffene Personen und die sie vertretenden Organisationen Klageansprüche. Ergebnis ist ein gesamtgesellschaftlicher Aushandlungs- und Sensibilisierungsprozess, an dessen Ende verbindliche und transparente Regelungen bestehen, die durch Rechtsprechung an gesamtgesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden können.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert daher von einer kommenden Regierung eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), indem Barrierefreiheit und das Konzept der angemessenen Vorkehrungen als Diskriminierungstatbestand für private Akteure verankert wird und deren Durchsetzbarkeit durch ein niedrigschwelliges Verbandsklagerecht gestärkt werden solle. Beides sei in den vergangenen Jahren an der CDU gescheitert. Noch im Mai 2021 stellten FDP und Grüne entsprechende Anträge im Bundestag, die allesamt an der Großen Koalition scheiterten. Nun könnten jene Pläne endlich in die Tat umgesetzt werden. Vorausgesetzt der Wille ist weiterhin vorhanden und damaliges Handeln nicht nur Show.
Ausgrenzender Arbeitsmarkt
Im Bezug auf den Arbeitsmarkt sollte es im Übrigen nicht nur um eine rein partizipative Teilhabe gehen, wie es im Sondierungspapier angedeutet wird, sondern um den Stopp von Ausbeutung und Segregation. Bereits 2018 urteilte der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Staatenberichtsverfahren Deutschlands vernichtend über die deutsche Arbeitsmarktpolitik für behinderte Menschen. So gebe es finanzielle Fehlanreize im System, ein segregiertes Werkstättensystem, das einen Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt weder vorbereite noch fördere. Daher sei Deutschland aufgefordert, schrittweise die Abschaffung des Werkstattsystems durch andere Strategien vorzubereiten. Die Sozialhelden haben daher 5 konkrete Forderungen für eine Reform des Werkstatt- und Arbeitsmarktsystems in Deutschland vorgelegt.
Aber selbst wenn Menschen mit Behinderungen in Deutschland einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, existieren vielfältige finanzielle Limitierungen für sie. So existiert de facto eine Vermögens-Obergrenze für Menschen mit Assistenzbedarf und zusätzlich zur gewöhnlichen Einkommenssteuer müssen diese bis zu 24% darüber hinaus vom Einkommen abführen. Für den Staat ist allerdings diese zusätzliche “Behindertensteuer” nicht einmal lohnenswert, wie ein Gutachten der Bundesregierung selbst zeigt. Entsprechende Vorschläge zur Abschaffung dieser Regelungen legte – mit weiteren Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention – das Forum der behinderten Juristinnen und Juristen bereits 2019 vor. Gerade die FDP setzte sich ganz gemäß ihres Wahlslogans aus dem Jahr 2009 “Arbeit muss sich wieder lohnen” immer wieder für die Abschaffung dieser Vermögens- und Einkommensanrechnung bei Menschen mit Behinderungen ein.
IPReG – Wo wird mein Zuhause zukünftig sein?
Beinahe ein Jahr haben behinderte Menschen gegen das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn protestiert. Nun ist es im Bundestag verabschiedet worden. Constantin Grosch mit einer Chronik des Widerstands.
Für andere Menschen mit Behinderungen geht es aber um noch mehr. So wird sich die neue Bundesregierung mit den Auswirkungen des IPReG beschäftigen müssen. Jenem Gesetz aus der Feder Jens Spahns, welches das Leben in der eigenen Häuslichkeit für Menschen mit Beatmungsbedarf unmöglich machen wollte. Des Weiteren können auch im Jahr 2021 noch immer Menschen mit Assistenzbedarf gegen ihren Willen in Heime und andere Einrichtungen gesteckt werden.
Fasst man alle Probleme zusammen, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass für viele Menschen mit Behinderungen in Deutschland ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen bisher ein weit entferntes Ziel darstellte. Die ersten Signale der möglichen Ampel-Koalition lassen jedenfalls nicht auf Besserung hoffen. Schon in den vergangenen Jahren waren stets andere Themen wichtiger, die Zahl der Betroffenen nicht groß genug oder finanzielle Stabilität höher priorisiert als menschenrechtliche Dimensionen.
Gerade nach der ersten Wahl in der Geschichte der Bundesrepublik, bei der alle Menschen mit Behinderungen wählen durften, müssen die Interessen von behinderten Menschen mehr Aufmerksamkeit bei den Koalitionsverhandlungen erhalten. Wenn die Beteuerungen der SPD stimmen, dass die CDU bisher Verbesserungen verhinderte und FDP und Grüne nicht nur die Regierung aus der Opposition heraus vorführen wollten, sondern zu ihren Anträgen und Äußerungen der Vergangenheit stehen, dann hätte man mehr als einen nichtssagenden Satz im Sondierungspapier erwarten dürfen. Dann hätte eine der 22 Arbeitsgruppen der Koalitionsverhandlungen das Thema Behindertenpolitik explizit zum Thema und dann wären zumindest die behindertenpolitischen Sprecher*innen Teil der Verhandlungsführer*innen.
So aber scheint es auch in der Behindertenpolitik ein “Weiter so” zu geben.
2 Antworten
Die Politikerinnen und Politiker reden nicht mit Klartext. Behinderte Menschen werden weiterhin vernachlässig. Für mich ist Politik ein schmutziges Geschäft.
Stephanie Aeffner ist für die Grünen mit dabei und die erste behinderte Bundestagsabgeordnete. Googlet mal nach ihr und sie ist unser Ass zum Thema ebenso wie Katharina Langensiepen in Europa.