Koalitionsvertrag: Welche Maßnahmen sind für behinderte Menschen geplant?

Viele Menschen blicken auf den Reichstag.
Nach Veröffentlichung des Koalitionsvertrags: Worum es die nächsten vier Jahre gehen wird. Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
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Vor knapp einem Monat unterzeichneten SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP den Koalitionsvertrag. Constantin Grosch nimmt sich das Papier der selbsternannten “Fortschrittsregierung” vor und untersucht, welche Besserungen für behinderte Menschen enthalten sind und ob diese wirklich Fortschritt bringen.

Informationen in Einfacher Sprache

In diesem Text geht es um das Regierungsprogramm von der deutschen Regierung für die Jahre 2021-2025. Der Autor schreibt, was die Parteien zum Thema Inklusion versprechen und ob sie das halten können.

Koalitionsverträge haben das Ziel, die unterschiedlichen Vorstellungen der an einer Regierung beteiligten Parteien zusammenzuführen. Nicht selten haben Parteien und Politiker*innen völlig gegensätzliche Meinungen. Wollen sie trotzdem in einer Regierung zusammenarbeiten, müssen sie sich auf gemeinsame Ziele und Projekte einigen.

Über die letzten Jahrzehnte wurden die Koalitionsverträge immer umfangreicher. Von stichpunktartigen Zielvereinbarungen zu über 150-seitigen Papiermonstern. Ähnlich wie Wahlprogramme müssen sich Koalitionsverträge zunächst nicht mit der Realität arrangieren. Nicht alle Ereignisse und Rahmenbedingungen sind vorhersehbar und so wird oft erst im Verlauf einer Legislaturperiode klar, welche der im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden können. Trotzdem bieten sie konkrete Anhaltspunkte für die praktische Arbeit der neuen Regierung. 

Neuerungen auf dem Arbeitsmarkt

Als eigenen Schwerpunkt benennt die neue Regierung auf Seite 78 des Vertrags “die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen.” Neben der bereits in der vergangenen Legislaturperiode vom alten und neuen Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) versprochenen Einführung einer neuen, vierten Stufe der Ausgleichsabgabe für Unternehmen, die überhaupt keine behinderten Arbeitnehmer*innen angestellt haben, sollen diese Gelder auch nur noch für die Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwendet werden dürfen. Bisher können die Mittel der Ausgleichsabgabe auch für Leistungen in Werkstätten und anderen Sondereinrichtungen verwendet werden, was den Zweck der Abgabe ad absurdum führt. 

Offen bleibt, ob Werkstattbeschäftigte zukünftig adäquat entlohnt werden. Zwar will die neue Bundesregierung weiter im Austausch zu diesem Thema bleiben und perspektivisch Maßnahmen umsetzen, die derzeit in einer Studie erarbeitet werden, konkret wird sie aber nicht. Dafür, dass die Bundesregierung den Bereich Arbeit als Schwerpunkt ihrer Inklusionspolitik ernannt hat, sind die handfesten Maßnahmen recht dünn.

Generell finden sich viele vage Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag: Man wolle dieses verbessern und sich für jenes einsetzen. Oft wird nicht erklärt, wie dies passieren soll, mit welchen Mitteln die Maßnahmen finanziert werden sollen oder was z.B. jeweils mit “Barrierefreiheit” gemeint ist. 

Barrierefreiheit als übergeordnetes Thema

Ein Aspekt wird überdurchschnittlich oft erwähnt – nicht nur im Zusammenhang mit Inklusion: Barrierefreiheit. Neben der allgemeinen Förderung durch ein noch nicht beziffertes “Förderprogramm Barrierefreiheit”, will die Regierung Scholz besonders im Bereich Gesundheit, Mobilität, Wohnen und Digitales für mehr Barrierefreiheit sorgen. Erste Überlegungen für ein solches Förderprogramm wurden im Ministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bereits angestellt. Unseren Informationen nach ist zu befürchten, dass mit diesen Geldern eher “Leuchtturmprojekte” finanziert, statt flächendeckende Barrierefreiheit, insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen und Geschäften gefördert werden. Letzteres wird besonders notwendig, da die Regierung endlich private Anbieter*innen von Gütern und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit verpflichten will. Dafür sollen, wie auch vom Forum der behinderten Juristinnen und Juristen vorgeschlagen, das Behindertengleichstellungsgesetz, das Allgemeine Gleichstellungsgesetz und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) geändert werden. Sollte dies in dieser Legislatur gelingen, wäre das in der Tat ein Meilenstein in den deutschen Bemühungen zur Zugänglichkeit aller gesellschaftlicher Bereiche für Menschen mit Behinderungen. Deutschland zöge endlich gleich mit einigen seiner Nachbarländer sowie Großbritannien oder den USA, die schon seit etlichen Jahren und Jahrzehnten entsprechende Regelungen umgesetzt haben.

Mobilität

Eigentlich sollte der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) bis Anfang 2022 gemäß § 8 Abs. 3 Personenbeförderungsgesetz (PBefG) vollständig barrierefrei sein. Leider wird dieses Ziel in vielen Regionen nicht erreicht. Noch immer sind Haltestellen, Fahrzeuge und Informationen nicht für alle behinderten Menschen zugänglich. Begünstigt wird dies durch die Tatsache, dass bisher die zuständigen Kommunen relativ mühelos Ausnahmen festlegen konnten. Auch Sanktionsmöglichkeiten sind im bisherigen Gesetz nicht vorgesehen. Zumindest was Ersteres angeht, soll nun nachgesteuert werden. Die Möglichkeit, Ausnahmen zu benennen, soll nur noch bis 2026 gelten. Was allerdings passiert, wenn sich die Kommunen und Verkehrsbetriebe trotzdem nicht an die Verpflichtung zur Barrierefreiheit halten wollen oder können, bleibt weiter offen. Ansonsten verspricht die Koalition, Barrierefreiheit bei allen Mobilitätsvorhaben zu berücksichtigen. Wirklich spannend wird dies nur bei neuen und bisher weitgehend unregulierten Mobilitätsformen wie Ridesharing-Angeboten. Bei diesen Orten und Stationen, die meist das Angebot des ÖPNV erweitern und ergänzen, soll die Barrierefreiheit verbessert werden.

Wohnungsmarkt und das Recht auf die eigenen vier Wände

400.000 Wohnungen pro Jahr sollen neu entstehen. 100.000 davon sollen staatlich gefördert werden und dabei soll auch auf Barrierefreiheit geachtet werden. Die Förderungen für (private) Umbauten von Wohnraum, wie die KfW-Förderungen sollen natürlich weiter fortgeführt werden. Das war allerdings auch so zu erwarten. Fraglich bleibt die Gesamthöhe des Fördertopfes, der im laufenden Jahr 2021 bereits im Juni aufgebraucht war und so viele Maßnahmen nicht mehr gefördert werden konnten. Nur indirekt finden sich weitere Maßnahmen zum Lebensbereich Wohnen:

  • Die teils kritisch diskutierte Änderung durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG), nach dem Leistungsbezieher in besonderen Wohnformen unter dem Strich oft weniger Geld zur Verfügung steht, wurde immerhin von der Koalition erkannt. Man wolle dort die Regelbedarfsstufe 1 “prüfen”.
  • Regelungen, die das Wunsch- und Wahlrecht im Zuge des BTHG von behinderten Menschen einschränken, sollen abgebaut werden. 
 

Gesundheit

So vage einige der vorangegangenen Bereiche waren, umso konkreter wird es beim Thema Gesundheit. Kurzzeit- und Verhinderungspflege sollen zu einem gesamten Entlastungsbudget umgebaut, das Pflegegeld dynamisiert (also jährlich automatisiert ansteigen), Hilfsmittelverordnungen via telemedizinischem Arztgespräche ermöglicht und die 24-Stunden-Pflege im familiären Umfeld endlich rechtlich verankert werden. Mit “familiärem Umfeld” meinen die Koalitionäre hoffentlich das eigene Zuhause.

Auch das Intensivpflege- und Rehastärkungsgesetz (IPREG) der Vorgängerregierung soll in seinen Auswirkungen kritisch betrachtet werden – gerade im Bezug auf die freie Wahl des Wohnorts. Ernüchternd ist allerdings, dass beim Thema Barrierefreiheit im Gesundheitswesen kein großer Fortschritt zu erwarten sein dürfte. Hier wird lediglich ein weiterer Aktionsplan vorgeschlagen, so als seien die eklatanten Mängel nicht bekannt. Interessant wird sein, inwiefern die oben erwähnte Anpassung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes und die Verpflichtung privater Dienstleistungsanbieter zur Barrierefreiheit auch das Gesundheitswesen in die Pflicht nehmen könnte. Denn auch Ärzt*innen, Krankenhäuser oder Therapeut*innen sind private Unternehmer*innen, die eine Dienstleistung anbieten. Sie müssten, würde man tatsächlich die gesamte Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichten, auch unabhängig eines Aktionsplanes zugänglicher werden. 

Digitaler Ausweis, digitales Geld

Bleibt von den Bereichen, in denen die Regierung maßgeblich handeln will, noch die Digitalisierung. Hier möchte man den Behindertenausweis zu einem digitalfähigen Teilhabeausweis weiterentwickeln. Es ist zu hoffen, dass spätestens dann Dienstleisungsanbieter wie Eventim oder die Deutsche Bahn ihre Systeme so gestalten, dass sich Nutzer*innen selbst als behinderte Kund*innen verifizieren und so Zugriff auf bestimmte Ticketkontingente, Unterstützungsleistungen oder Ermäßigungen erhalten. Mit Einführung des digitalen Euro auf europäischer Ebene will sich die Bundesregierung auch für ein barrierefreies Zahlungs- und Finanzsystem einsetzen. Das ist auch bitter nötig. Hat die Politik doch erst in diesem Jahr so eine Banalität wie barrierefreie Geldautomaten bis ins Jahr 2040 geschoben. Und obwohl das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz zwar Finanzdienstleistungen ab 2026 reguliert, sind damit bisher nur jene Dienstleistungen umfasst, die sich direkt an Endkunden richten. Finanzprodukte für Unternehmer*innen und Arbeitnehmer*innen müssen also nicht barrierefrei zugänglich sein. Dies sollte und will die neue Regierung auf europäischer Ebene angehen.

Im Großen und Ganzen liest sich der Koalitionsvertrag gar nicht so schlecht. Vorausgesetzt, die versprochenen Maßnahmen bleiben eins nicht: nämlich Versprechungen. 

Mit einer generellen Verpflichtung zur Barrierefreiheit für alle Anbieter von Produkten und Dienstleistungen, würden wir endlich einen großen Schritt Vorwärts machen. Viele kleine Änderungen wie ein digitaler Schwerbehindertenausweis, Online-Sprechstunde mit Verordnungsmöglichkeit von Hilfsmitteln oder automatischen Genehmigungen bei zu langsamen Handeln der Behörden können zusammen eine große Entlastung für behinderte Menschen darstellen. Aber wie auch schon in der Vergangenheit kann aus einem einzelnen Satz kein fertiges Gesetz gelesen werden. Die meisten Vorhaben der letzten Jahre in der Behindertenpolitik sahen auf den ersten Blick positiv aus und entpuppten sich nicht selten als Sparmodell oder Angriff auf die Autonomie behinderter Menschen. 

Nicht alle Maßnahmen konnten wir hier aufführen. Dass Gebärdensprache endlich bei allen presseöffentlichen Veranstaltungen Anwendung finden soll, die Einkommens- und Vermögensanrechnungen überprüft oder inklusive Sport-Ligen unterstützt werden sollen, sind nur einige der weiteren Punkte, die wir aus dem Koalitionsvertrag hier für Euch zusammengestellt haben.

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Eine Antwort

  1. Ich denke, dass es nur bei Versprechungen bleiben wird, denn der neue Bundeskanzler prophezeite, dass er die Politik Merkels weiter fortzusetzen gedenke, weil so auch die Linke Sahre Wagenknecht, Merkel eigentlich eine gute Politik gemacht hätte. Doch das stimmt schon gar nicht. Wie ignorant muss man sein, wenn man die zahllosen militärischen Konflikte auf der Welt und die Erhöhung der Rüstungsausgaben mit dem Haushaltsmittel für Verteidigung mit über 60 Milliarden Euro finanziert und unter der Führung der Bundeswehr sowie deren eigene Opfer in Afghanistan aber auch die zahllosen zivilen Opfer der Bundeswehreinsätze seit der Amtszeit Schröders als Politik bezeichnet, die Merkel ganz gut gemacht hätte. Wie ignorant und verlogen muss man sein, wenn der wachsende Recht- Terrorismus beispielsweise der des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) viele zivile Opfer forderte, die sich nicht nur gegen Semiten und Linke richtete, sondern auch gegen Migranten und Asylanten und geradezu Pogrome erreichte und noch mit Frontex militärisch gegen Flüchtlinge vorgegangen wurde denen von Aktivisten geholfen werden sollte über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen und auf unmenschliche Weise in Konzentrationslagern auf kleinen Inseln gesperrt wurden. Wie ignorant muss man sein, wenn man die Arroganz der Merkel-Regierung und ihre Spielchen auf dem Rücken der Asylanten und die zahllosen Opfer als ansonsten gute Politik bezeichnet. Die Bilanz der Merkel – Regierung war auch von Lobbyismus mit den Farmakonzernen und der Durchseuchung der Bevölkerung geprägt, die in ihren staatlichen Maßnahmen nicht widersprüchlicher und die Menschen verachtender nicht sein konnte, weil die Zahl der Todesfälle für europäische Verhältnisse das Maß an Verbrechen überschritten hatte. Die Maßnahmen, die so gut wie nichts mehr mit Corona zu tun hatten, ließen Kitas und nichtlebensnotwendige Betriebe weiter offen und verursachten damit den Anstieg der Inzidenzen und damit der Todesfälle. Ungeachtet der Pandemie konnte die Lufthansa und andere private Fluggesellschaften weiter ihren internationalen Flugbetrieb für Waren und Passagiere fortsetzen. Nach der für die Bundesregierung charakteristischen Klassengesellschaft (Ober,-Mitte- und Unterschicht) wurde durch Corona die Gesellschaft weiter in Geimpfte und Ungeimpfte gespalten und der sozial Frieden für Rechts – Populisten und Terroristen weiter der Weg geebnet. Der NSU – Prozess war nicht von den Untersuchungsbeamten und Staatsanwaltschaft nicht nur hinausgeschleppt worden, sondern verhöhnte am Prozessende nach 365 Verhandlungstagen die Hinterbliebenen und Freunde, die nicht nur in den falschen Verdacht gebracht waren, sondern die Straftäter unter fadenscheinigen Begründungen und unter der Verschleppung und Vernichtung von wichtigen Beweismitteln durch die Beamten des Bundesverfassungsschutzes sogar gedeckt wurden, um eine Komplizenschaft des Staates mit den NSU – Verbrechen zu verschleiern. Die Triage, wie im Beitrag angesprochen, ist ein ebenso zynischer und die Menschen verachtender Begriff wie ein erschreckendes Zeugnis über den Zustand des Gesundheitssystems der BRD, das bereits schon in 2011 durch die Gesundheitsreform der CDU den Sachzwängen der Privatwirtschaftlichkeit und seiner auf Gewinn orientierten gesundheitlichen Betreuung der Patienten ausgerichtet wurde, mit verheerenden Folgen für die Patienten, die von Misshandlung von Schutzbefohlenen in den Altersheimen und Kitas bis zu unwürdigen Pflegebedingungen in den Altersheimen reicht und sich unter der Merkel- Regierung fortsetzte. Hartz IV wurde nicht wieder zurückgenommen, trotzdem die Schröder- Regierung weit zurückliegt. Ganz im Gegenteil wurde das Antragsverfahren für die Inanspruchnahme der Sozialleistung weiter bürokratisiert und Bedürftigen der Antrag unter Corona – Bedingungen durch Onlindienste erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht.

    Die Beachtung der Behinderten wird trotz schwulstiger Versprechen über Barrierefreiheit so weitergeführt, wie sie immer gehandhabt wurde, wenn Scholz von der Fortsetzung der bisherigen Regierungspolitik spricht.

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