„Was ist schon normal?“ – Selbstverständlichkeit. Eine Filmkritik.

Ein Junge mit Lernschwierigkeiten und ein Mann ohne Behinderung schauen sich lächelnd an. Beide tragen einen Partyhut.
Arnaud (Arnaud Toupense, links)) und Paulo "Sylvain" (Artus) im Film "Was ist schon Normal?". Foto: David Koskas
Lesezeit ca. 5 Minuten

Wie muss man sich verhalten, um in einer Gruppe von Menschen mit Lernschwierigkeiten unterzutauchen? In der französischen Filmkomödie „Was ist schon Normal?“ versuchen zwei Räuber genau das, um von der Polizei nicht entdeckt zu werden und reflektieren ihre Perspektive auf behinderte Menschen. Jonas Karpa hat den Film gesehen und beleuchtet Fragen der Authentizität und der Norm.

Mit der Empfehlung von mehr als zehn Millionen Besucher*innen in Frankreich ist aktuell der Film „Was ist schon Normal?“ (Orig. „Un ptit truc en plus“) auch in den deutschen Kinos angelaufen. Die Komödie reiht sich damit nahtlos in die Reihe von anderen französischen Kassenschlagern wie „Ziemlich beste Freunde“ (2011) oder „Willkommen bei den Sch’tis” (2016) ein. Sie ist das Regiedebüt des französischen Comedians und Schauspielers Victor Artus Solaro, der gleichzeitig eine der Hauptfiguren ist.

Worum geht es?

Eine Wohngruppe von elf Menschen mit Lernschwierigkeiten und ihre drei Betreuer*innen sind kurz vor der Abreise in ihren traditionellen, jährlichen Sommerurlaub in eine idyllische Hütte im französischen Mittelgebirge. Sie warten lediglich auf Sylvain, einen – ihnen noch unbekannten – Nachzügler, der mit auf die Reise kommen soll.

Zeitgleich überfallen die Räuber Paulo und sein Vater La Fraise im nahegelegenen Kaufhaus einen Juwelier. Nach vollbrachter Tat und dem Klamottenwechsel in unauffällige Zivilkleidung müssen sie jedoch feststellen, dass ihr Fluchtauto, das sie auf einem Behindertenparkplatz abgestellt hatten, abgeschleppt wurde. Auf der Straße stehend und für einen Moment nicht weiter wissend, kommt es den beiden sehr gelegen, dass Paulo von Alice, einer der Betreuer*innen der Reisegruppe, fälschlicherweise für den noch fehlenden Sylvain gehalten wird. Sie wittern ihre Chance, in der Gruppe unterzutauchen und so nimmt Paulo die Identität von Sylvain an und sein Vater La Fraise schlüpft in die Rolle seines vermeintlichen Betreuers Orpi. 

Es folgt eine Reise, die geprägt ist vom gemeinschaftlichen Miteinander der Protagonist*innen, von neuen Erfahrungen und Gesprächen rund um das Thema Behinderung und der ständigen Flucht vor der Polizei. 

Authentische Besetzung 

Der Film lebt von seiner liebevollen, herzlichen Art und begibt sich damit in den Bereich einer Feel-Good-Komödie. Zwar sind die Gags nicht immer überraschend und kommen oftmals sehr plump oder brachial daher, aber das Timing und die detaillierte Einführung der Charaktere mit ihren jeweiligen Eigenschaften ist stimmig. An manchen Stellen erscheint der Film, der mit seinen 100 Minuten eigentlich sehr komprimiert ist, etwas langatmig, da in Szenen nochmal zusätzliche Schleifen gedreht werden, die die eigentliche Handlung nicht vorantreiben.

„Unterschiede sind eine Stärke, davon bin ich überzeugt.“

Das große Plus des Films ist der vielfältige und vor allem auch authentisch besetzte Cast aus Menschen mit Lernschwierigkeiten. Es ist jedoch auch wichtig zu erwähnen, dass diese „besondere Authentizität“ daher rührt, dass zwar zunächst das grobe Drehbuch erstellt wurde, die einzelnen Rollen und genauen Dialoge aber auf den Cast hin geschrieben wurden. Sprich: die im Film zu sehenden Menschen mit Behinderung sind Laiendarsteller*innen, die sich zum größten Teil selbst spielen. Eine Tatsache, die – insbesondere bei der Thematik des Cripping Up, also der nicht authentischen Darstellung von Behinderung – ein Fortschritt ist, den Film aber schon fast wieder, bei aller Fiktion, wie eine Doku wirken lässt, da die Unterschiede zwischen Darsteller*innen und Rollen so gering ist.  

„Ich wollte keinen pathetischen Film für Nichtbehinderte über Menschen mit Behinderung machen, um daran zu erinnern, dass es behinderte Personen gibt. Ich wollte MIT diesen Menschen mit all ihren individuellen Spleens und ihrem wunderbaren Humor echte Momente einfangen und drehen. Und wenn es nur dieser eine Film sein sollte, den ich in meinem Leben machen würde.“

Die Frage nach der Norm

Dieser Fokus auf die authentische Darstellung, auf das Leben von Menschen mit Behinderung und deren Eigenschaften schwingt den ganzen Film über mit und wird auch durch den deutschen Titel und die Frage nach dem „Was ist schon Normal?“ verstärkt. Klar, wir als Gesellschaft denken in Schubladen, treffen auf Menschen und versuchen schnell Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufinden. Wir sortieren ganz automatisch in Kategorien ein von Sachen, die wir kennen, weil sie oft vorkommen, und eben jenen, die erstmal anders und fremd erscheinen. Deshalb ist die Herangehensweise des Films, diese Norm zu hinterfragen, ein guter Ansatz. 

Die Behandlung des Themas ist eine Gratwanderung, was man auch dem Film „Was ist schon normal?“ anmerkt. Auf der einen Seite wird klar, im Sinne des Disability Mainstreaming, aufgezeigt, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Interessen und Bedürfnisse haben wie Menschen ohne Behinderung. So bemängeln die Teilnehmer*innen der Ferienfreizeit das schlechte, breiartige Essen und die Tatsache, mit dem Ausmalen von Mandalas beschäftigt zu werden. Stattdessen möchten sie viel lieber Fußball spielen, eine Bootstour machen und selbst mit frischen Zutaten kochen. Hier tappt der Film in die Falle der Unterscheidung von „wir“ und „die“. Als Paulo fälschlicherweise für Sylvain gehalten wird, versucht er sich wie ein Mensch mit Lernschwierigkeiten zu verhalten, um in der Gruppe nicht aufzufallen. Diese Herangehensweise strotzt nur so vor Klischees und Stereotypen.

„Verhalt‘ dich wie die. […] Lass den Clown raus.“

Glücklicherweise greift der Film dieses „schlechte Schauspiel“ auf, indem „Sylvain“ von den anderen Mitreisenden enttarnt wird und seine Doppelrolle fortan als kleines Geheimnis gilt. 

Interessant ist auch die grundsätzliche Entwicklung bzw. Erschaffung der Rolle des Sylvain. Der Regisseur und Darsteller Artus entwickelte diese Figur im Rahmen seines Comedyprogramms:

"Ich dachte mir: „Die Leute sind noch nicht bereit, das gibt einen Shitstorm“. Ich war mir sicher, dass der Tag, an dem das im Internet gezeigt würde, das Ende meiner Karriere wäre. Tatsächlich war es überhaupt nicht so. Sogar der französische Behindertensportverband hat es auf seiner Facebook-Seite aufgegriffen. Seitdem erhalte ich ständig Nachrichten von geistig behinderten Menschen oder ihren Familien, die mir sagen: „Cool, solche Witze machen wir untereinander!“."

Eine Vorgehensweise, die zumindest fragwürdig ist. So ist es doch ein großer Unterschied, ob behinderte Menschen Witze über sich selbst machen, oder ob es eine Person ohne Behinderung tut.

Authentische Synchronisation 

Es ist überraschend und gleichzeitig auch traurig, da es keine Selbstverständlichkeit ist, dass die Darsteller*innen mit Behinderung in der deutschen Synchronisation auch von behinderten Schauspieler*innen gesprochen wurden. So verleihen zum Beispiel Luisa Wöllisch („Die Goldfische”) und Frangiskos Kakoulakis (Kammerspiele München) den Protagonist*innen ihre Stimme. Weitere Rollen werden unter anderem von den Mitgliedern der Freien Bühne München, dem ersten inklusiven Theater Münchens, synchronisiert. 

Am Ende ist und bleibt „Was ist schon Normal?“ eine lockere, leichte, französische Komödie, die einen authentischen Blick auf das Thema Behinderung wirft und als Film erfrischend und wenig abgedroschen wirkt. Trotzdem stellt er das Thema Behinderung explizit in den Vordergrund, statt es selbstverständlich mitzuerzählen. Er versucht die Norm zu hinterfragen und Gemeinsamkeiten zu stärken, hebt aber immer wieder  Unterschiede hervor. Interessante zwischenmenschliche Geschichten, wie die Entwicklung der Beziehung zwischen Paulo und seinem Vater La Fraise, oder die Krise zwischen der Betreuerin Alice und ihrem Freund, mit dem sie in die USA ziehen soll,werden nicht weitererzählt. 

„Dieser Film ist all jenen gewidmet, die etwas ganz Besonderes sind ...und all jenen, die sie begleiten.“

Die Widmung des Films und das Hervorheben des „Besonders-seins“ behinderter Menschen steht schlussendlich im Gegensatz zur Normalisierung dieser Menschen. Inklusiv wäre es gewesen, wenn dieser Film allen Menschen gewidmet wäre. Eine Perspektive, eine Haltung, die der Film leider knapp verpasst.

Barrierefreiheit

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