Die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog geht in ihrem Buch „Eugenische Phantasmen“ der Frage nach, wie sich ausgehend vom 19. Jahrhundert bis zur Zeit der Wiedervereinigung das Bild von Menschen mit Lernschwierigkeiten in Deutschland entwickelt und verändert hat. Ihre wissenschaftlichen Analysen ermöglichen einen neuen Blick auf strukturellen Ableismus im Kontext der NS-Behinderten- und Krankenmorde, sie verpasst jedoch die Gelegenheit, Menschen mit Behinderung selbst zu Wort kommen zu lassen. Eine Kritik von Andrea Schöne.
Inhaltshinweis
In diesem Text geht es um die NS-Behinderten und Krankenmorde, um Zwangssterilisation und strukturellen Ableismus. Das kann belastend sein. Unter der Telefonnummer 0800 111 0 111 können Erwachsene die anonyme und kostenfreie Telefon-Seelsorge anrufen. Menschen mit Behinderung können sich beispielsweise an den Psychologischen Dienst der Lebenshilfe Berlin wenden.„Die Eugenik zu verlernen, erwies sich als ungemein langwieriger postfaschistischer Prozess, der noch immer nicht abgeschlossen ist.“ Dieses Zitat von Dagmar Herzog steht auf dem Buchrücken des Papierumschlags. Die Historikerin sollte Recht behalten. Nach aktueller Forschung wurden ca. 300 000 behinderte Menschen aufgrund der nationalsozialistischen Ideologie der sogenannten „Rassenhygiene“ in Deutschland ermordet. 400 000 weitere Menschen mit Behinderung wurden zwangssterilisiert.
Der Begriff Eugenik wurde als erstes von Charles Darwins Cousin Francis Galton im 19. Jahrhundert geprägt. Wortwörtlich verstand er darunter die „Kunst der guten Vererbung“. Damit vertrat Galton die Ideologie, durch diese vermeintliche Wissenschaft die „Verbesserung des Erbguts des Menschen“ anzustreben und Darwin’s Prinzip der „natürlichen Auslese“ dazu zu nutzen, gezielt vermeintlich höher stehende Menschen und Eigenschaften in der Fortpflanzung zu fördern. Daraus folgt für Galton auch, dass die Fortpflanzung von vermeintlich ungeeigneten Menschen verhindert werden muss. Ausgehend von dieser Ideologie prägten Mediziner*innen, Pädagog*innen und Psychiater*innen das Bild, dass eine sogenannte geistige Behinderung vor allem biologisch vererbbar wäre. Ebenso Armut oder kriminelles Verhalten. Hierzu wurden weltweit unterschiedliche Maßnahmen getroffen wie etwa Migrationsbeschränkungen in Australien oder die Zwangssterilisation und die Ermordung behinderter Menschen in Deutschland.
Sehr viele der gestellten Diagnosen aus dem 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert entsprechen nicht dem aktuellen medizinischen Stand und beruhen oftmals auf Stereotypen, Pseudowissenschaft und moralischen Überzeugungen. Dies ist beispielsweise bei Schizophrenie und Epilepsie der Fall. Die Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen wurde gezielt in Frage gestellt und mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Heutzutage sind genetische Faktoren bei psychischen Erkrankungen wie Depression erwiesen, aber anstatt verhindern zu wollen, dass Menschen mit diesen Veranlagungen Kinder bekommen und leben, stehen heute unterstützende Maßnahmen und eine gezielte Behandlung zur Verbesserung der Lebensqualität im Vordergrund.
Worum geht es in dem Buch?
Herzogs Beschreibung, wie sich das eugenische Menschenbild in Bezug auf Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt hat, beginnt mit der Geschichte der ersten Anstalten und Hilfsschulen. Diese haben zunächst das Ziel, Menschen mit Lernschwierigkeiten zu „heilen“. Als sie dabei keine Erfolge sehen, beginnt das Grauen: Sie messen den Wert von Menschen mit Lernschwierigkeiten an ihrem „Nutzen“, also an ihrer Arbeitsfähigkeit und hierarchisieren ebenso behinderte Menschen mit Körperbehinderungen. Menschen mit Lernschwierigkeiten stehen bei dieser ableistischen und menschenverachtenden Theorie ganz unten in der Hierarchie. Je nach ihrer Arbeitsfähigkeit und Bildungsfähigkeit werden behinderte Menschen in Anstalten und Hilfsschulen untergebracht, um dort für die nichtbehinderte Dominanzgesellschaft als „verwertbar“ geformt zu werden. Dieses Menschenbild ist der Beginn der eugenischen Verbrechen. Die Autorin analysiert anhand verschiedener Debatten die Entwicklung des eugenischen Menschenbilds und den Umgang mit Menschen mit Lernschwierigkeiten in verschiedenen Zeiträumen und zeigt die Widersprüche dieser Ideologie auf.
Christlichen Kirchen haben keinen nachhaltigen Widerstand geleistet, sondern die eugenische Ideologie und ihr Menschenbild in ihre Theologie eingeflochten.
Wichtige Schwerpunkte
Das Lebensrecht von Menschen mit Lernschwierigkeiten und ihr Recht, eigene Kinder zu bekommen, wurde bereits im 19. Jahrhundert immer wieder infrage gestellt. Das Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche, das 1920 erschien, stellte eine unwiederbringliche und folgenschwere Kehrtwende dar. Wenige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs und nach dem Ende der Spanischen Grippe litt ein Großteil der Bevölkerung nach wie vor unter Hunger. Das Drängen der Autoren, „aus emotionalen und wirtschaftlichen Gründen“, sprich aus Mitleid und kapitalistischem Profitdenken, schwerbehinderte Menschen zu töten, fand unter diesen Umständen breite öffentliche Aufmerksamkeit und auch Zustimmung. Während der Kriegszeiten wurden die Essensrationen für behinderte Menschen in den Anstalten bereits so stark gekürzt, dass die Sterberate immens anstieg. Die daraufhin folgende Wirtschaftskrise verschärfte die Situation. Es kursierte das Gerücht, behinderte Menschen in den Anstalten würden alles bekommen, doch das Gegenteil war der Fall. Die Fürsorge für behinderte Menschen, die nicht arbeiten konnten, wurde gezielt vernachlässigt, während arbeitsfähige behinderte Menschen zum Arbeiten gezwungen wurden. Die systematische Ermordung während des Nationalsozialismus kostete etwa 300.000 Menschen mit Behindung das Leben und reichte so weit, dass behinderte Menschen gezwungen wurden, beim Mord anderer behinderter Menschen zu helfen, um selbst verschont zu bleiben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte Deutschland den Mord und die Zwangssterilisationen an behinderten Menschen nicht als Verbrechen an. Täter*innen wurden selten verurteilt oder gar von der Bevölkerung gezielt geschützt. Auch die Politik wollte behinderte Menschen nicht als Geschädigte durch den Nationalsozialismus anerkennen und zog als Expert*innen Mediziner*innen und Psychiater*innen zur Rate, die bis in die 1980er-Jahre selbst an den Verbrechen beteiligt waren.
Erst die Pionierarbeit zur historischen Aufarbeitung des Journalisten und Historikers Ernst Klee, der ein enger Verbündeter behinderter Menschen war, zeigte erste Erfolge, das Thema in die Öffentlichkeit zu rücken. Immer mehr nichtbehinderte Personen aus dem Bildungs- und Pflegebereich schlossen sich zusammen, um Anstalten und Sonderschulen aufzulösen und für ein neues Menschenbild zu kämpfen. Hier stellte insbesondere Italien ein großes Vorbild dar, das 1977 den flächendeckenden Schulbesuch für alle behinderten und nichtbehinderten Kinder gesetzlich verankerte und damit auch versuchte, die eigene faschistische Vergangenheit im Schulsystem zu überwinden. Das integrative Schulsystem in Italien sollte die gravierenden gesellschaftlichen Unterschiede in Bezug auf Bildung und Lebensbedingungen zwischen der armen und sehr reichen Bevölkerung, zwischen den Bewohner*innen in der Stadt und auf dem Land ausgleichen. Letztendlich führte der Druck seitens Eltern behinderter Kinder und die gesellschaftlichen Diskussionen in den 1970ern dazu, dass behinderte Kinder in den gleichen Schulen für Nichtbehinderte einen Zugang zu Bildung bekamen.
Worüber mehr gesprochen werden muss
Die NS-Behinderten- und Krankenmorde sind ein Verbrechen eigener Art – ein eigener Genozid wie der Holocaust auch. Die Autorin hebt hervor, dass insbesondere protestantisch geleitete Anstalten dem Nationalsozialismus aufgeschlossen gegenüberstanden und die Zwangssterilisationen an ihren Bewohner*innen mit Behinderung ohne Diskussion vollstreckten – insbesondere jüdische behinderte Menschen ließen sie nachweislich als erstes ermorden – während katholisch geleitete Anstalten erst zögerlich waren. Dennoch haben beide christlichen Kirchen keinen nachhaltigen Widerstand geleistet, sondern die eugenische Ideologie und ihr Menschenbild in ihre Theologie eingeflochten. In der breiten Öffentlichkeit ist dies kaum bekannt und wird häufig im Schulunterricht beschönigt dargestellt. Kirchenvertreter*innen wurden in einer Schulzeit gar als die Beender der T4-Aktion, der ersten Phase der Ermordung behinderter Menschen, dargestellt. Tatsächlich haben sich aber nur vergleichsweise wenige gegen das Morden öffentlich ausgesprochen und nach der T4-Aktion ging das Morden mit den Medikamenten-Morden, sprich der 2. Phase der NS-Behinderten- und Krankenmorde weiter.
Bahnbrechend erwies sich die Arbeit der Historikerin Gisela Bock in ihrem 1986 erschienenen Buch „Zwangssterilisation im Nationalsozialismus“. Bock bewies in ihrem Konzept des anthropologischen Rassismus (gegen Jüd*innen, Sinti und Roma, Schwarze Menschen usw.) und hygienischem Rassismus (gegen behinderte und chronisch kranke Menschen, Menschen mit Beeinträchtigungen) wie sich hier in beiden Ausprägungen die NS-Ideologie der „Rassenhygiene“ widergespiegelt hat. Mit der gezielten Ermordung und Sterilisation behinderter Menschen wollten die Nationalsozialist*innen eine vermeintlich höherwertige deutsche „Volksgemeinschaft“ herstellen. Diese wissenschaftliche Beschreibung von Nationalismus und Rassismus stellt die Grundlage für die Aufarbeitung des Unrechts gegen behinderte Menschen im Nationalsozialismus dar, wodurch langsam politische Aufmerksamkeit erreicht wurde.
Neben den Verbrechen der NS-Zeit beleuchtet Herzog auch die Lage von behinderten Menschen in der BRD im Vergleich zur DDR, die nach wie vor wenig öffentliche Beachtung finden. Das SED-Regime lehnte zwar ein eugenisches Menschenbild ab. Dennoch wurde der Wert behinderter Menschen an ihrer Arbeitsfähigkeit festgemacht und der Staat stellte keine Mittel für ein würdevolles Leben behinderter Menschen in Anstalten zur Verfügung, die nicht arbeiten konnten. Gleichzeitig wurden Mütter von behinderten Kindern regelrecht gezwungen, ihre Kinder in Anstalten zu geben, damit sie wieder als Arbeitskraft zur Verfügung standen. Interessant ist hier der Widerstand innerhalb des Systems: die Erinnerungsarbeit an die NS-Behinderten- und Krankenmorden von der Gedenkstätte Bernburg wurde beispielsweise gezielt so inszeniert, dass sie den politischen Kalkülen des SED-Regimes, der bessere Staat gegenüber Westdeutschland zu sein, nutzten. Ziel war damit gleichzeitig die Lebensbedingungen für behinderte Menschen in der Anstalten zu Zeiten der DDR zu verbessern. Letztendlich dauerte es bis in die 1980er Jahre, bis die Erinnerungskultur an die NS-Behinderten- und Krankenmorde mit dem Eintreten für bessere Lebensbedingungen behinderter Menschen in der Gegenwart konzeptionell verknüpft wurde. Und somit sich die Rivalität der SED mit dem Westen für behindertenpolitische Belange nutzen ließ. Behinderte Menschen selbst konnten sich dagegen in der DDR nicht organisieren, weil dies von der SED nicht erwünscht war und unterdrückt wurde.
Zuletzt ist wichtig zu betonen: Auch behinderte Menschen selbst haben sich von ableistischen Denkweisen leiten lassen. So distanzierten sich Anfang des 20. Jahrhunderts körperbehinderte und sinnesbehinderte Menschen (also blinde, sehbehinderte und gehörlose Menschen) gezielt von Menschen mit Lernschwierigkeiten und psychischen Behinderungen und bezeichneten sich als „erbgesund“, berichtet Herzog. Als wichtig hebt sie hier die solidarische Arbeit der Aktivist*innen Nati Radtke und Udo Sieck hervor, die als Teil der Krüppelbewegung, einer aktivistischen Behindertenrechtsströmung körperbehinderter Menschen seit Ende der 1970er Jahre, gezielt für die Rechte von Frauen mit Lernschwierigkeiten einsetzten. Sie machten etwa ein gesetzliches Schlupfloch öffentlich, das es Anstalten und anderen Institutionen für Menschen mit Behinderung ermöglichte, die Frauen gegen ihren Willen zu sterilisieren.

Debatten um Ableismus und Klassismus greifen ineinander und bedürfen nach wie vor mehr Aufmerksamkeit.
Welche Diskussionen das Buch anregt
Herzogs Buch ist eine fundierte Grundlage, um sich mit dem eugenischen Weltbild des 19. und 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen und nachzuvollziehen, wie sich dieses in Deutschland etablieren konnte. Die Sprache ist eher akademisch gehalten und Leser*innen benötigen viel Vorwissen, um der Fülle an Informationen gut folgen zu können. Daher richtet sich das Buch nicht an Menschen mit Lernschwierigkeiten, obwohl über deren Lebenswelten und deren Ermordung zentral ist. Eine große Stärke des Buches ist der stete Verweis auf grundlegende Literatur, die die betreffenden Diskussionen und Debatten angestoßen haben. Somit lässt sich mit diesen historischen Quellen auch weiterarbeiten. In diesem Sinne ist „Eugenische Phantasmen“ zurecht auf der Sachbuch-Bestenliste auf Platz 1 und für das Wissenschaftsbuch des Jahres 2025 nominiert.
Besonders wichtig ist Herzogs Verweis auf die Verelendung der Arbeiter*innenschicht, die sogenannte „Soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts – ein grundlegender Aspekt ist, inwiefern Armut mit Intelligenz in Verbindung gebracht wurde und auch heutzutage immer noch wird. Überdurchschnittlich viele Kinder aus migrantischen, migrantisierten und einkommensschwachen Familien besuchen eine Förderschule – hier greifen Debatten um Ableismus und Klassismus ineinander und bedürfen nach wie vor mehr Aufmerksamkeit. Ebenso spielt die Frage der Rolle der christlichen Kirchen und ihrem Menschenbild eine große Rolle, die Vorurteile zur Behinderung, mitgetragen oder gar erst aufgebracht haben.
Kritik
Auf die zeitgeschichtlichen Entwicklungen für Behindertenrechte geht Herzog nur kurz in der Einleitung ein und interpretiert diese völlig falsch. Die Historikerin sieht, ohne Belege anzuführen, bei konfessionellen und weltlichen Interessensvertretungen und Hilfsorganisationen, die mit und für behinderte Menschen arbeiten, eine Selbstverständlichkeit, sich für Selbstbestimmung einzusetzen. Dazu führt sie die Arbeit der Caritas und Diakonie auf, die Behinderteneinrichtungen und Behindertenwerkstätten betreiben, die den Anstalten in der Struktur nach wie vor sehr ähnlich sind und gerade Menschen mit Lernschwierigkeiten ausbeuten. Die „Aktion Mensch“, welche sich noch bis zum Jahr 2000 „Aktion Sorgenkind“ nannte, lobt sie für ihre „geschickten Kampagnen“, ohne zu erkennen wie hier Nichtbehinderte nicht nur die Deutungshoheit über die Aufmerksamkeit für Behindertenrechte gezielt lenken, sondern auch noch als Soziallotterie eine finanzielle Machtstellung einnehmen, welche Projekte von und für behinderte Menschen unterstützt werden. Ebenso erkennt die Autorin nicht den bahnbrechenden Unterschied zwischen „Integration“ und „Inklusion“, also die Zugehörigkeit, die mit Anpassung an die Umgebung einhergeht im Gegensatz zu einer Umgebung, die behinderten wie nicht-behinderten Menschen die gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht.
Sehr problematisch ist auch Herzogs unsichtbar machen der NS-Behinderten- und Krankenmorde an körperbehinderten und sinnesbehinderten Menschen. Ebenso ging sie nicht der Frage nach, inwieweit diesen ebenso eine geringere Intelligenz seitens der Medizin zugesprochen wurde und dies ganz offen auch heutzutage noch passiert. Dies erklärt auch die Reaktionen von körperbehinderten Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts, sich aus Eigenschutz vor Menschen mit Lernschwierigkeiten zu distanzieren, weil ihr eigenes Lebensrecht auch nicht gesichert war. Gerade nichtbehinderte Historiker*innen müssen bei solchen Deutungen vorsichtig sein.
Behinderte Menschen sind nach wie vor nicht offiziell als NS-Verfolgte anerkannt.
Fazit
„Eugenische Phantasmen“ ist ein sehr vielschichtiges Buch. Herzog stellt stets das Lebensrecht und die Würde von Menschen mit Lernschwierigkeiten in den Vordergrund – aber sie lässt Menschen mit Lernschwierigkeiten kaum selbst zu Wort kommen. Dies liegt zum einen an der fehlenden Quellenlage, da Menschen mit Lernschwierigkeiten im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert kaum Möglichkeiten hatten, sich schriftlich zu äußern. Einzelne Stimmen von behinderten Menschen, welche die NS-Zeit überlebten, werden zitiert. Sehr viel Raum bekommen aber Verbündete, die stets nicht-behindert waren. Dies macht behinderte Menschen und ihren Widerstand erneut unsichtbar und stellt insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten als handlungsunfähig dar, während sie stets alle Nischen nutzen, um für sich einzutreten und füreinander da zu sein. Eine Chance wäre gewesen, gerade für die deutschsprachige Ausgabe Menschen mit Lernschwierigkeiten ein Kapitel darüber schreiben zu lassen, was sie über ihr Leben und ihre Ableismuserfahrungen zu erzählen haben.
Herzog verweist auch auf die fehlende Erinnerungskultur der NS-Behinderten- und Krankenmorde in der breiten Gesellschaft, verpasst aber die Chance, auf bereits bestehende Projekte wie Gedenkort T4 oder die Hartheim-Deklaration einzugehen. Behinderte Menschen sind nach wie vor nicht offiziell als NS-Verfolgte anerkannt. Am 7. November 2024 sollte es hierzu die zweite und dritte Lesung im Bundestag geben. Aufgrund des Bruchs der Ampelkoalition wurde die Lesung vertagt. Ein fataler Schritt angesichts der immer weiter ansteigenden rechtsextremen Hassverbrechen gegen behinderte Menschen.
Weiterführende Informationen
- Buch Eugenische Phantasmen von Dagmar Herzog
- Gedenkort T4
- Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 29. Januar 2025 um 10.30 Uhr am Gedenkort T4
- Gruppenführung in Leichter Sprache am Gedenk- und Informationsort T4 für die Opfer der nationalsozialistischen Behinderten- und Kranken-Morde
- Hartheim-Deklaration
- Mehr zum Thema Ableismus im historischen Kontext: Buch Stoppt Ableismus von Anne Gersdorff und Karina Sturm
Eine Antwort
Ich muss gerade über die Aussage nachdenken “… stehen heute unterstützende Maßnahmen und eine gezielte Behandlung zur Verbesserung der Lebensqualität im Vordergrund.” Das ist wirklich gut formuliert, denn zum Glück muss man wirklich nicht mehr mit Ärzt*innen rechnen, die Zwangssterilisation oder sogar das Beenden von – ihrer Meinung nach – minderwertigem Leben als adäquate Maßnahme zur “Problemlösung” betrachten.
Als langjährig an ME/CFS erkrankte Autistin habe ich die Medizin allerdings trotzdem nur selten einmal als “Ort” erlebt, an welchem ich mich aufgehoben, verstanden und angemessen behandelt gefühlt habe. Von “moderner Medizin” vermag ich, wie ich gestehen muss, daher kaum ohne Ironie zu sprechen. Aber da gibt es ja auch noch Einrichtungen wie Rentenversicherung, Pflegekasse und Versorgungsämter.
Leider wird das Wort “Amt” wohl niemals seinen Anklang von Rückständigkeit und Trägheit verlieren. Das mag vielen dort arbeitenden Menschen gegenüber nicht ganz fair sein, die sich ja womöglich wirklich bemühen, ihren Aufgaben gerecht zu werden. Tatsache ist aber, dass diese Menschen Macht besitzen; Macht über das Wohlergehen anderer, die ihnen ausgeliefert sind, auch, wenn der/die einzelne Mitarbeiter*in keine endgültige und alleinige Entscheidung trifft. Dass man zumindest theoretisch die Möglichkeit hat, benötigte Leistungen notfalls einzuklagen, ändert daran überhaupt nichts. Denn praktisch sind gerade an ME/CFS Erkrankte dazu meist gar nicht in der Lage.
Wenn ich natürlich auch verstehe, dass die Mitarbeitenden der Sozialsysteme darauf achten müssen, keine Leistungen zu verschenken – also Nichtberechtigten zu gewähren – darf das doch nicht bedeuten, dass kranke Menschen gequält werden, nicht selten über Jahre hinweg. Und ich weiß, dass ich keineswegs ein Einzelfall bin mit der Erfahrung, dass man trotz drastischer Reduzierung der Leistungsfähigkeit eine Ewigkeit lang um die Gewährung der EM-Rente kämpfen muss, und einen Pflegegrad (II), wenn überhaupt, auch nur nach unendlich kraftraubendem Gezerre erhält; selbst wenn man den überwiegenden Teil eines j e d e n Tages im Bett liegend verbringen muss, um existieren zu können. Ich beginne morgens mit allerhöchstens 15% der Energie, die Gesunde dann zur Verfügung haben, und das kann ich zwar schildern, (und war es auch schon Dutzende Male zu tun gezwungen), aber nicht beweisen. Und deshalb haben Mitarbeiter*innen von Renten- und Krankenversicherung offensichtlich das Recht, mir ihre Verachtung und Überlegenheit unverhohlen ins Gesicht zu schleudern. Und ihre Macht zu demonstrieren.
Und dann wird auch noch erwartet, dass man das versteht. Haja, sie kennen ME/CFS halt nicht, heißt es dann. Also ist es okay, dass die/der Schwächere benachteiligt und psychisch misshandelt wird, damit die, deren Aufgabe es ist, genau hinzusehen, ihre Augen schön gemütlich geschlossen halten können. Doch natürlich ist die Nichtgewährung benötigter Leistungen nur e i n e Konsequenz. Die andere ist, dass der Stress und Ärger im Kampf darum den eigenen Zustand enorm verschlechtert. Ich habe das immer wieder als wahre Folter empfunden, dennoch ist es ein übliches und akzeptiertes Vorgehen, und nichts daran hat mit einer Verbesserung der Lebensqualität zu tun. Viel eher wird hier billigend in Kauf genommen, dass dieses Gezerre kranken und verzweifelten Menschen weitere Schäden zufügt, oder sie sogar in den Suizid treibt. So kann man so unliebsame Fälle natürlich auch vom Tisch bekommen.
Ich lebe jetzt bereits seit zehn Jahren mit schwerem ME/CFS, habe aber noch immer keine unbefristete Rente. Immer wieder geht der Ärger von vorne los; meist, wenn es mir gerade gelungen ist, mich ein bisschen zu stabilisieren. Denn das dauert bei dieser Krankheit schnell einmal ein bis zwei Jahre – oder sogar noch länger.
Und dann wäre da noch der GdB, und vor allem die Merkzeichen. Wäre gar kein Problem, das Ganze, würde ich einfach darauf verzichten. Die Bedingungen für die Gewährung der Merkzeichen sind so raffiniert gestaltet, das muss man fast schon bewundern. aG etwa kann man nur erhalten, wenn der GdB mindestens 80 beträgt. Das ist natürlich nicht unlogisch, dennoch braucht man diesen also nur nicht zu gewähren, (oder, wie bei mir, zurückzustufen), und schon ist das Thema erledigt. Aber auch G wird nicht anerkannt, obwohl ich die Bedingungen vollständig erfülle. Es heißt dann lapidar: “DAS” (dass ich nicht weiter als bestenfalls dreißig Meter laufen kann, ohne direkt u n d nachhaltig darunter leiden zu müssen), “IST NICHT GEGEBEN.” Heißt übersetzt: “Du lügst.” Wie man es auch dreht und wendet, darauf läuft es hinaus. Das Amt w e i ß, dass es nicht wahr ist, dass ich meine Straße seit Jahren nicht mehr verlassen kann, dass ich immer zuhause sein muss – ohne je mit mir gesprochen zu haben. Und ein Widerspruchsrecht ist ja theoretisch eine schöne Sache, aber ich habe jetzt etliche Monate auf eine Entscheidung gewartet, nun kürzlich einen Bescheid (Ablehnung meines Antrages bzw. Widerspruches) erhalten, mit der Mitteilung, dass es nochmals mehrere Monate dauern wird, bis endgültig entschieden sein wird. Auch, wenn ich nicht bezweifele, dass sich bei den Behörden die Akten stapeln: man hatte die Angelegenheit doch jetzt in den Händen, und sagt mir, dass ich keinen Anspruch habe. Was gibt es dann noch zu beraten, zu überlegen, zu diskutieren? Das soll kein Zeitschinden sein?
Ich fühle mich durch dieses Vorgehen verschaukelt, für dumm verkauft, ich halte diese Argumentationsweise für menschenverachtend. Dass im Bescheid angedeutet wird, dass meine Glaubwürdigkeit durch den Umstand gemindert wird, dass ich keinen Rollstuhl nutze, macht es auch nicht besser (es gibt immer mehr ME/CFS-Betroffene, die das tun). Ich bekomme aber überhaupt keine Gelegenheit, die Hintergründe zu erläutern, denn die endgültige Entscheidung muss ich in jedem Fall erst einmal abwarten. Und danach wird es wohl (auch) bloß nicht gelesen werden, keine Rolle spielen, oder was auch immer. Es wäre also vermutlich vorteilhaft für mich, würde ich der Krankenkasse die Kosten für einen E-Rollstuhl aufbürden. Um ihn dann in den Keller zu stellen, wohlgemerkt, denn benutzen könnte ich ihn nicht. Weder im Haus, (vierstöckig bei geringer Stockwerksgröße), noch draußen, weil ich nach wenigen Minuten sensorisch meist völlig überreizt bin. Außerdem ist wegen meiner ausgeprägten Schmerzsymptomatik das Sitzen für mich die schlechteste Körperhaltung. Also, ich könnte theoretisch durchaus mit Schlafbrille und doppeltem Gehörschutz unter starken Schmerzen von jemandem, der mir den Rollstuhl auch aus dem Haus tragen müsste, da ich ihn nicht im Freien lagern könnte, ein bisschen durch die Gegend geschoben werden. Zwar ist es wesentlich angenehmer, wenn ich mich immer wieder mal einfach für ein paar Minuten in den Garten setze, aber was weiß ich schon. Immerhin könnte ich doch so meine Mobilität – zumindest theoretisch – deutlich verbessern, damit man mir endlich glaubt, wie stark sie eingeschränkt ist.
Klingt konfus? Ist es auch, und passt damit perfekt zu einem System, das so verrückt ist, dass es doch für zahlreiche, stärker eingeschränkte Menschen gar nicht möglich sein dürfte, sich darin zurechtzufinden – oder dies zu schaffen, ohne sich selbst dabei zu zerstören. Und ich glaube, dass genau das durchaus bekannt ist. Von den “Gebenden” hat niemand ein Interesse daran, dass Hilfen leichter zu erlangen sind. Somit wird der Zugang dazu einfach so erschwert, dass gerade an ME/CFS Erkrankte oftmals gar keine Chance haben, sie sich zu erkämpfen. Die gnadenlose Ausmerzung “wertlosen” Lebens mag schon noch mal eine andere Sache sein, aber harmlos oder menschenwürdig ist ein solches Vorgehen deswegen nicht. Bevor das Recht auf Wahrung der Menschenwürde ins Grundgesetz geschrieben wurde, trat man sie mit Füßen. Jetzt mögen die Folgen weniger direkt und drastisch sein, aber im Prinzip tut man das noch immer.