Die Philosophin und Autorin Chloé Cooper Jones schreibt in ihrem Memoir „Easy Beauty. Blicke auf meine Behinderung“ schonungslos über Identität, Behinderung und Vorstellungen von Schönheit und nimmt uns mit auf ihre Reisen, die nicht nur an entfernte Orte führt, sondern eine Suche nach einer neuen Art des Sehens und Gesehenwerdens ist. Unsere Redakteurin Carolin Schmidt hat es für uns gelesen.
Der Wert von Schönheit
Easy Beauty (Dt.: Leichte Schönheit) heißt der Titel des Memoirs der US-amerikanischen Philosophin Chloé Cooper Jones. Kann Schönheit jemals leicht sein? Selbstwert und Macht sind in kapitalistischen Systemen immer auch an das äußere Erscheinungsbild geknüpft. Schönheit ist eine Ressource, die sowohl monetären als auch sozialen Wert generiert – und dieser Wert wird von außen festgelegt und reguliert. Gerade die Körper, die nicht dem Bild der weißen, nicht-behinderten „Norm“ entsprechen, werden häufig zur Projektionsfläche für die Unsicherheiten, ableistischen Gedanken und Vorurteile anderer. Jones nimmt die Leser*innen mit auf eine Reise rund um den Globus und begibt sich auf die Suche nach der Bedeutung von Schönheit entlang verschiedener philosophischer Theorien und gelangt immer mehr zu einer vielschichtigen und auch widersprüchlichen Erkenntnis ihrer selbst und ihres Verständnisses von Schönheit als Wissenschaftlerin, Arbeiter*innen-Kind, Partnerin, Mutter und Mensch mit einer körperlichen Behinderung.
Bereits der erste Satz des Buches zeigt, wie existenziell Jones’ Suche nach Schönheit ist: „Ich bin in einer Bar in Brooklyn und höre zwei Freunden zu, die darüber diskutieren, ob mein Leben lebenswert ist oder nicht.“ Während ihre Kollegen sich in der Theorie einer „besseren Gesellschaft“ verlieren, zieht sich die Erzählerin in ihr Innerstes zurück, in einen „neutralen Raum“, den sie sich schon früh als Methode zum Dissoziieren von körperlichem Schmerz angeeignet hat. „Es gibt dort weder Türen noch Fenster, nur weiße Wände, auf denen nacheinander graue Zahlen aufblitzen, 1 2 3 4, 5 6 7 8, 1 2 3 4, 5 6 7 8.“ Diese Strategie nutzt die Erzählerin immer wieder, um sich von den körperlichen Schmerzen zu distanzieren, aber auch von ableistischen Kommentaren und übergriffigem Verhalten, die ihr als Frau mit Behinderung entgegenschlagen. Sie ist mit einer Sakralagenesie geboren – eine seltene Erkrankung, die ihre Wirbelsäule und Mobilität beeinträchtigt. Damit einher geht eine lange Liste von Dingen, die verschiedene Ärzt*innen ihr und ihren Eltern prognostizieren – unter anderem, dass sie niemals schwanger werden könnte: „Der Arzt erklärte, dass meine Behinderung meinen Körper untauglich mache. Meine Mutter hatte gegen seine Wortwahl protestiert, worauf er gesagt hatte: Na schön, dann vielleicht »nicht in der Lage, ein neues Leben zu entwickeln«?“
Solche und andere ableistische Aussagen treffen den*die Leser*in mit voller Wucht und doch schafft es Jones, dass man beim Lesen kein Mitleid empfindet, sondern – vor allem Wut.
Die Leser*innen werden Zeug*innen eines Kampfes, von dem nicht-behinderte Menschen lieber vorgeben, er sei nicht so schlimm, wie er scheint.
Wie kann es sein, dass man solche menschenverachtenden Aussagen trifft und dann auch noch mit Gleichgültigkeit reagiert, wenn man darauf hingewiesen wird? Wieso sind nicht alle Mediziner*innen dazu verpflichtet, sich bezüglich Antidiskriminierung zu sensibilisieren? Die Leser*innen werden Zeug*innen eines Kampfes, von dem nicht-behinderte Menschen lieber vorgeben, er sei nicht so schlimm, wie er scheint. Das ist ebenso unangenehm wie die Erkenntnis, dass die Fähigkeit, sein Verständnis von Behinderung auf theoretische Übungen zu beschränken, ein Privileg ist, das abgebaut werden muss.
Einmal um den Globus
Dann wird die Protagonistin unerwartet schwanger. Ihr Partner hat gerade das College abgebrochen und arbeitet als Busfahrer, Jones promoviert – ihr gemeinsames Konto beläuft sich auf 275 Dollar. Was an sich schon einen lebensverändernden Einschnitt bedeutet, wird für sie noch schwieriger wahrzuhaben, denn es wurde ihr ein Leben lang vermittelt, dass sie nicht in der Lage sein würde, ein Kind zeugen zu können. Zudem wird nun nicht nur sie, sondern auch das noch ungeborene Kind Teil der ableistischen Übergriffe: „Ist das ethisch vertretbar?“, fragt ihr Gynäkologe. „Was, wenn das Kind geboren wird wie Sie?“ Es wird immer wieder klar, dass nicht-behinderte Menschen sich ein Urteil über sie, über ihr Leben, über ihr Kind erlauben.
Die Tatsache, als Mutter nicht mehr nur die Verantwortung für sich selbst zu tragen, setzt einen neuen Prozess in Gang, der Jones zu ihrer inneren und tatsächlichen Reise bewegt. Begünstigt durch ihre neue Stelle als Professorin und ihre stabile Partnerschaft ist sie in der Lage, loszuziehen und theoretische und ästhetische Fragen der Philosophie mit dem realen Leben abzugleichen und neu zu befragen. Die Leser*innen folgen Jones über mehrere Kontinente hinweg. In Rom betrachtet sie römische Skulpturen – der Inbegriff „klassischer Schönheit“, etwa den „Raub der Proserpina“ des Bildhauers Jean Lorenzo Bernini. Jones sieht in der marmornen Skulptur trotz der gewaltvollen Handlung (Pluto versucht Proserpina zu entführen) eine Stärke und Energie, die Pluto verstört und aus dem Gleichgewicht bringt. Die Verletzung ist eine Kettenreaktion, die sich immer weiter fortsetzt und Jones zugleich anzieht wie abstößt. In Mailand besucht Jones ein Beyoncé-Konzert, in dem sie über „radikale Präsenz“ nachdenkt – die Energie eines Augenblicks, der eine Person ganz umfängt und einnimmt. Getarnt als wissenschaftliche Recherche fliegt Jones nach Kambodscha, wo sie sich auf die Suche nach ihrer eigenen Familiengeschichte macht. Sie fliegt auch als Pressevertreterin zu einem Tennisspiel von Roger Federer – laut des Magazins New Yorker verkörpere er das platonische Idealbild von Schönheit.
Das Buch ist ein Lesevergnügen, dessen Kraft vor allem in den Momenten liegt, in denen Jones ihr philosophisches Wissen mit der Lebensrealität verbindet.
Leichte vs. schwierige Schönheit
Dabei kreist Jones immer wieder um die Theorie des britischen Philosophen Bernard Bosanquets, der „leichte Schönheit“ als etwas beschreibt, das einfach aufzunehmen und zu „konsumieren“ sei, wie etwa ein schöner Sonnenuntergang, eine Rose oder eben die Rückhand Roger Federers. „Schwierige Schönheit“ hingegen, „erfordere mehr Zeit, Geduld und ein höheres Maß an Konzentration.“ Sie breche mit unseren Gewohnheiten und zwinge den Betrachter, „eine Art Auflösung der konventionellen Welt [zu] ertragen“. Jones nimmt diesen Gedanken immer wieder auf und es wird klar, dass der Kern der verschiedenen Begegnungen mit Schönheit, ob es nun die Bernini-Statue, das Beyoncé-Konzert oder das Interview mit einem Tennis-Star ist, vor allem in der Unmittelbarkeit des Augenblicks und dem sich-Einlassen-können auf die „leichte Schönheit“ liegt – aber dass hier auch das Potential liegt, zu einem komplexeren, tieferen Verständnis von Schönheit zu kommen. Entlang des Begriffs der „Selbstlosigkeit“ der Philosophin Iris Murdoch reflektiert Jones, wie wertvoll es ist, sich für einen Moment in der Schönheit von etwas anderem zu verlieren und dabei sich selbst zu vergessen. Dieser Gedanke hilft ihr, Abstand zu nehmen von den Verletzungen, die sie erfahren hat und die Diskriminierungen nicht mehr in Zusammenhang mit der eigenen Person zu bringen. Jones kehrt zum Ursprungsort zurück – zur Bar in Brooklyn, wo sie abermals einen diffamierenden Kommentar zu hören bekommt. Aber „(die) Worte drangen nicht wirklich zu mir durch. Und es lag nicht daran, dass ich ihn geringschätzte, sondern dass ich mich selbst nicht mehr geringschätzte.“
Die Schönheit der Dissonanz
Jones Erfahrungen vermitteln dem*der Leser*in ein Gefühl dafür, wie es ist, in einer Welt zu leben, die von Ableismus geprägt ist und in der es wenig Raum gibt für die Entwicklung einer komplexeren Erkenntnis von Schönheit – im gemeinsamen Erleben, durch Kunst, Literatur, durch den Moment. Ihre klugen Gedanken rund um Themen wie Klassismus, Mutterschaft und Behinderung sind eingebettet in ihr tägliches Erleben, ihre Reisen und ihre Kenntnisse von Philosophie, Kunst und Kultur. Schade ist nur, dass sich vor allem gegen Ende des Memoirs ein paar Sätze einschleichen, die eher wie Kalendersprüche klingen, wie etwa „Schönheit ermöglicht es uns, aufmerksamer für die Welt außerhalb von uns zu werden“ oder „Endlich erkenne ich die Schönheit dieses Lebens und werde mir nicht mehr wünschen, es wäre anders.“ – in ihnen steckt ein wahrer Kern, doch die Erzählung der Schönheit der Dissonanz wird hier so harmonisch aufgelöst, dass sie an Stärke verliert.
Und doch ist das Buch ein Lesevergnügen, dessen Kraft vor allem in den Momenten liegt, in denen Jones ihr philosophisches Wissen mit der Lebensrealität verbindet. Etwa gegen Ende des Buches, als Jones bei einem Museumsbesuch ihren fünfjährigen Sohn sucht, der in einer Skulptur des Bildhauers Richard Serra verschwunden ist: „Im Inneren der Skulptur gibt es nur die Gegenwart, die sich unvorhersehbar entfaltet – das einzige Vergnügen besteht also darin, nicht zu wissen, was einen erwartet.“ Ebenso liegt die Schönheit von „Easy Beauty“ darin, dass Jones die Ungewissheit akzeptiert, ihre Perspektive auf Behinderung schonungslos und klug teilt und Raum schafft, uns selbst kurz zu vergessen und im Moment zu leben.