Jule, angeblich eine querschnittsgelähmte junge Frau im Medizinstudium, hatte zeitweise eine Reichweite von mehr als 70.000 Follower*innen, wurde für ihre erfolgreichen Blogs und Tweets ausgezeichnet und war ein Vorbild für viele Menschen mit Behinderung. Einige standen im engen Austausch mit ihr über eigene Diagnosen, körperliche Beschwerden und intime Details. Doch Ende 2023 stellte sich heraus: Alles war eine Lüge. Die ZDF-Dokuserie „WTF is Jule?!“ arbeitet die Fake-Identität der Bloggerin „Jule Stinkesocke“ auf und erzählt von den tiefen Spuren, die die Täuschung hinterlassen hat. Wir haben mit Loreleï Holtmann, einer der Autor*innen der Serie, gesprochen.
Carolin Schmidt: Wie sind Sie auf die Geschichte von „Jule Stinkesocke“ gestoßen?
Loreleï Holtmann: Einer der Produzenten der Doku hatte im April 2023 den Aufdeckungstweet mitbekommen, in dem das erste Mal öffentlich geäußert wurde, Jule Stinkesocke sei nicht real bzw. aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Person, für die sie sich ausgegeben hatte. Da waren die breiteren Auswirkungen des Falls noch nicht klar, aber schon damals klang das Ganze nach einer erzählenswerten Geschichte. Die Produktionsfirma Flappers Film & VFX hat dann einen Aufruf gestartet, um ein rollstuhlaffines Team zusammenzustellen und der Sache gemeinsam nachzugehen. So bin ich als Autorin zu dem Projekt gekommen, aber auch Leonard Grobien und Finnja Negendank haben immer wieder ihre Perspektiven eingebracht. Die Nicht-Rollstuhlquote erfüllt haben Laura Jasmin Leick als Regisseurin und die Produzenten Kai Steinmetz und Pascal Schröder. Ich hatte vor einigen Jahren schon mal beiläufig etwas von Jule Stinkesocke mitgekommen, aber erst durch die Recherchen zur Doku bin ich tiefer in den Blog und die Hintergründe eingetaucht.
Welche Fragestellung hat Sie am meisten interessiert?
Was mich am meisten beschäftigt hat, ist die Frage, wie sich der Fall Jule auf die Repräsentation von Menschen mit Behinderung in den Medien auswirkt. Jule war fast 15 Jahre lang für viele tausende Leser*innen ein Vorbild. Ihr Account hat es als einer der ersten geschafft, das Thema Behinderung auf lockere Weise einer breiten Masse nahezubringen und viele Menschen haben zu ihr aufgeschaut. Das klingt ja für sich genommen erstmal positiv. Aber wenn es Jule gar nicht gibt und ihre ganzen Erlebnisse somit gar nicht so stattgefunden haben können, nimmt das ihrer Erfolgsgeschichte natürlich die Glaubwürdigkeit. Ja, viele von uns haben auch fiktive Vorbilder aus Büchern oder Filmen – aber bei denen ist von Anfang an klar, dass sie erfunden sind. Jule hat dagegen den Anschein erzeugt, sie sei wirklich eine Frau, Ärztin, Schwimmerin, Pflegemutter im Rollstuhl. Genau wegen dieser vermeintlichen Eigenschaften hat ihre Community ihr vertraut und das macht diese Geschichte aus meiner Sicht so problematisch. Denn gerade was das Leben mit Behinderung angeht, fehlt es in meinen Augen noch an authentischer Repräsentation in den Medien. Und die kann es nur durch echte Menschen mit echten Erlebnissen geben.
Loreleï Holtmann
Loreleï Holtmann studiert Jura in Düsseldorf. Nach dem Abitur schrieb sie als freie Redakteurin für die Westdeutsche Zeitung und das Magazin „Orange by Handelsblatt“. Außerdem spielte sie in verschiedenen Theaterproduktionen, u.a. in „Perfect Family“ am Düsseldorfer Schauspielhaus und bei „Next Generation“ am Schauspiel Köln. Die ZDF-Dokuserie „WTF is Jule?!“ ist ihr Debüt als Autorin einer Fernsehproduktion.
Foto: Arina Nestieva.
Catfishing – mit einer gefälschten Identität online das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen und anschließend auszunutzen – ist ein wichtiges, aber auch sehr heikles Thema – wie sind Sie da herangegangen als Autorin und was waren die Schwierigkeiten?
Mir und dem ganzen Team war es sehr wichtig, den Betroffenen des Jule-Catfishs eine Stimme zu geben. Denn die sind ja in so einer Situation häufig in doppelter Hinsicht Opfer: Einmal ist da die Täuschung durch den Catfish selbst. Daneben trifft sie oft zusätzlich das Unverständnis des eigenen Umfelds, nach dem Motto „Wie konntest du nur so blöd sein, darauf reinzufallen?”. Es ist einfach, nachträglich die skurrilsten Geschichten von Jule herauszupicken und zu behaupten, man hätte ihr niemals geglaubt. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass die Doku-Zuschauer*innen so reagieren. Daher kam die Entscheidung, erst auch die positiven Aspekte der Geschichte zu beleuchten und verständlich zu machen, warum der Account so erfolgreich und die Internetfigur Jule für viele Menschen ein Vorbild oder sogar eine Vertrauensperson war. Umso deutlicher tritt dann aus meiner Sicht auch der moralische Schaden hervor, den der Fall hinterlassen hat. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Internet zu Jules Anfängen noch ganz anders funktioniert hat. Durch Entwicklungen wie Fake News und KI sind wir heute sehr viel sensibilisierter und kritischer im Internet unterwegs. Vor 15 Jahren gab es noch nicht so viele Gründe, einer Person im Internet nicht zu glauben oder misstrauisch zu sein. Den Betroffenen vom Jule-Catfish daraus einen Vorwurf zu machen, wäre falsch und würde ihnen ihre teils sehr belastenden Erfahrungen absprechen.
Der Jule-Fake hat ernst zu nehmende Folgen in der echten Welt hinterlassen, die einen sensiblen Umgang erfordern
Die Doku-Serie „WTF is Jule“ ist ähnlich aufgebaut wie etwa der Investigativ-Podcast „Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen“ von Khesrau Behroz. Was war Ihnen bezüglich der Erzählweise wichtig?
Als ich in das Projekt eingestiegen bin, war mir ehrlicherweise die Tragweite des Falls noch nicht bewusst. Viele von Jules Tweets und Blogposts sind für sich genommen auf skurrile Weise unterhaltsam. Sie erlebt ein Abenteuer nach dem nächsten, es gibt wiederkehrende Charaktere aus der WG und vom Sport, ständig passiert etwas Aufregendes und am Ende geht immer alles gut aus – fast wie in einer Dramasoap. Dass sich das alles 15 Jahre lang jemand ausgedacht haben soll, fand ich im ersten Moment einfach nur absurd. Als unser Team dann aber angefangen hat, mit Betroffenen und Expert*innen über den Fall zu sprechen, ist uns klar geworden, wie viel wirklich dahinter steckt und dass der Jule-Fake ernst zu nehmende Folgen in der echten Welt hinterlassen hat, die einen sensiblen Umgang erfordern. Diesen Perspektivwechsel wollte ich gerne erzählen. So entstand die Idee, Maximilian Mundt als Erzähler einzubeziehen. Er sollte die Zuschauer*innen an die Hand nehmen und Verbindungen bauen zwischen Faszination und Zweifeln, zwischen Jules Online-Geschichten und den Konsequenzen im Leben echter Menschen, zwischen Absurdität und Ernsthaftigkeit der Thematik.
Welche Projekte stehen bei Ihnen persönlich für 2025 an?
Ich stecke noch mitten im Studium. Da Arbeit und Studium im letzten Jahr aber sehr gut nebeneinander funktioniert hat, möchte ich auf jeden Fall weitermachen. Am Dokubereich finde ich toll, dass echte Menschen und ihre Lebenswelten sehr nahbar und real abgebildet werden können. Aber ich hätte auch auf fiktionale Projekte Lust, weil man dort ganz andere Freiheiten hat in dem, was man erzählt.
Eine Antwort
als ein Opfer von Jule Stinkesocke, welches hier eine Stimme bekommen hatte, möchte ich mich herzlich bedanken.
Das ganze Team der Produktionsfirma Flappers Film & VFX, ist sehr sensibel und umsichtig gewesen.
Eine Stimme geben, klingt so leicht. Bei mir war es wortwörtlich so. Mein Scham war so groß, dass ich mich, bis zu den Dreharbeiten, nicht einmal im Familienkreis öffnen konnte. Das ekelige Erlebnis und die ständige Angst / Frage, was treibt der Typ mit meinen Bildern, ich durchlebte es alleine, sprachlos und eben mit viel Scham.
Selbst die Fahrt zum Aufnahmetag verheimlichte ich und gab einen anderen Grund für die Fahrt an.
Das ich letztlich nicht nur auf meine Anonymität verzichtet hatte (geplant war Perücke und anonym), sondern anschließend auch erstmalig mit meiner Familie sprach, verdanke ich genau diesen tollen Team.
Danke Loreleï, Laura, Kai, Pascal und Co. Ganz besonderen Dank für Euren Mut, diese Serie zu drehen.
Ganz besonderen Dank aber auch für das Rechercheteam, Piri, Budenzauber, Pudelskernspin, Nordlicht.