Nicht alle Menschen, die in Deutschland leben, dürfen wählen. Und auch wenn sie die Deutsche Staatsbürgerschaft haben, ist die Wahl nicht barrierefrei. Unsere Kolumnistin Lydia Zoubek berichtet von Barrieren bei der Wahl für Menschen mit Sehbehinderung, von Aufklärung und möglichen Hilfsmitteln.
Wählen als blinde, nicht-deutsche Bürgerin?
Ich war in der vierten Klasse, als unser Klassenlehrer zum ersten Mal darüber sprach, wie der Bundestag hier in Deutschland funktioniert. Er erklärte uns auch, wie gewählt wird und wie ein Wahlzettel aussieht. Ich war gerade seit etwas mehr als einem Jahr im Internat der Blindenschule und hatte inzwischen ausreichend Deutsch gelernt, um dem Unterricht gut folgen zu können. Dennoch kam mir das sehr ungewohnt und seltsam vor. Als nicht-deutsche Staatsbürgerin und dazu noch blind, würde ich ohnehin nie wählen dürfen. Also verdrängte ich das erst mal.
Im Alter von 21 Jahren erhielt ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Damals musste man mindestens 15 Jahre in Deutschland gelebt haben. Und trotz des deutschen Abiturs dauerte der Prozess gut zweieinhalb Jahre, bis ich die Urkunde, nebst dem Deutschen Grundgesetz, ausgehändigt bekam. Natürlich in Papierform.
Politische Bildung durch Selbstvertretung
1994 trat ich dem Blinden- und Sehbehindertenbund Hessen bei. Das ist die Blindenselbsthilfe in Hessen, die nicht nur Veranstaltungen und Erfahrungsaustausch anbietet, sondern sich auch auf politischer Ebene für die Belange von Menschen mit Sehbehinderung einsetzt. Hier lernte ich irgendwann, dass es auch für blinde Menschen möglich ist, eigenständig zu wählen. Der Verein verschickt Wahlschablonen an seine Mitglieder, in die der Stimmzettel eingespannt wird. Dort, wo man ein Kreuz machen kann, befinden sich runde Aussparungen, welche durchnummeriert sind. Dazu gibt es die entsprechenden Informationen auf einer CD und inzwischen auch in digitaler Form zum Herunterladen. Damit können sich sehbehinderte Menschen auf die Wahl vorbereiten und das Kreuz an die richtige Stelle setzen.
Die Wahlbenachrichtigung kommt noch immer in Papierform. Dort steht dann auch drauf, wo man zur Wahl hingehen soll. Das ist eine Sache, die ich bisher immer etwas schwierig fand. Denn gerade in weitläufigen Schulen oder Vereinshäusern gestaltet sich die Orientierung etwas schwierig. Ich habe es daher auch schon mal mit Briefwahl versucht. Allerdings ist es mir in der kurzen Zeit zu unsicher. Daher werde ich gemeinsam mit meinem Sohn als Wahlassistenz wählen gehen. Während ich in den 90er Jahren in meiner Heimatstadt Überzeugungsarbeit leisten musste, damit meine Wahlassistenz mit in die Kabine durfte, ist das heute kein Thema mehr. Jede*r Wähler*in, der*die Hilfe braucht, darf sich eine Assistenz seines*ihres Vertrauens mitnehmen.
Informieren und Hilfsmittel in Anspruch nehmen
Ich finde es richtig und wichtig, dass ich als Mensch mit Behinderung wählen darf. Und ich finde es gut, dass ich selbstbestimmt darüber entscheiden darf, ob ich das alleine, mit Wahlschablone, oder mit Wahlassistenz mache.
Blindenselbsthilfe gibt es nicht nur in Hessen, sondern in allen Bundesländern. Diese sind unter der Dachorganisation Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband zusammengefasst.
An alle Menschen mit Sehbehinderung, die in der Wahlkabine wählen gehen: Nehmt eure Wahlschablone mit und zeigt sie den Wahlhelfer*innen. Geht damit offensiv um. Denn es ist kein Defizit, wenn man ein Hilfsmittel oder eine Hilfsperson benötigt. Wichtig ist, dass ihr euer Wahlrecht ausübt!
Wahllokal oder #QualLokal?
Wie barrierefrei war das Wahllokal, in dem du gewählt hast? Mach mit und fülle das Formular zum Barriere-Check aus. So hilfst du dem Team von Wheelmap.org, wichtige Erkenntnisse für das zukünftige Bewertungsschema für den Ortstyp „Wahllokal“ zu finden. Weitere Infos gibt es hier.