2019 wurden die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung bzw. vollumfassender gesetzlicher Betreuung endlich in Deutschland aufgehoben. Das Recht zu wählen ist im Grundgesetz (Artikel 38) als demokratisches Recht garantiert, aber fast 70 Jahre galt dieses Recht nicht für alle Menschen. 85.000 Menschen waren in Deutschland lange Zeit von allen politischen Wahlen ausgeschlossen – obwohl in der UN-Behindertenrechtskonvention, 2009 in Deutschland ratifiziert, ausdrücklich steht, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die politischen Rechte zu garantieren sind. Alle heißt alle und differenziert nicht zwischen Behinderungsformen. Nun sind wir soweit und es gilt das Recht in der Praxis umzusetzen.
Meine Schwester mit ihren Mehrfachbehinderungen gehört nun zum ersten Mal dazu. Auch sie ist am Wahltag zum ersten Mal gemeint mit „Alle“. Vielleicht ist mir das wichtiger als ihr. Mir ist es wichtig, dass alle Menschen in unserer Demokratie wählen dürfen. Ob sie es machen, entscheiden sie selbst. Aber niemand anders sollte entscheiden, ob sie es können und dürfen.
Zur Einführung der Gesetzesänderung und vor der Europawahl (2019) hörte ich eine gesetzliche Betreuerin sagen, sie werde die Wahl für ihren Sohn nicht durchführen. Das wäre ja, als würde sie nun zwei Stimmen haben. Da stimme ich ihr zu, denn es wäre sogar Wahlbetrug. Vielmehr geht es aber darum, Menschen mit geistiger Behinderung so gut wie möglich zu ihrer Meinung zu befragen und vor allem bei der Meinungsbildung, wenn nötig, zu unterstützen.
Als ehrenamtlich gesetzliche Betreuerin versuche ich meiner Schwester alles zu vermitteln, was sie zur Meinungsbildung braucht. Ich habe ihr berichtet, dass nicht alle Parteien dafür waren, dass sie wählen kann. Ich habe ihr alle Wahlprogramme der Parteien in Leichter Sprache vorgelegt. Ich habe sie entscheiden lassen, ob Parteien, die kein Programm in Leichter Sprache haben, für sie ausscheiden.
Der Wahl-O-Mat war uns übrigens leider keiner Hilfe: die Themen habe ich so formuliert, dass meine Schwester verstanden hat worum es geht, aber der Wal-O-Mat fragt nichts aus ihrer Lebenswelt ab. Sogar zentrale Themen wie Barrierefreiheit oder Inklusion glänzen durch Abwesenheit.
In mehreren Gesprächen haben wir für verschiedene Lebensthemen meiner Schwester besprochen, wie wichtig sie ihr sind: Ernährung, Tierschutz, Rente, Medizin, Schule. Ganz wichtige Themen sind für sie Barrierefreiheit, die Regelungen zum Thema Assistenz (nicht nur im Krankenhaus), Arbeit (in Bezug auf Werkstätten für Menschen mit Behinderungen) und auch der öffentliche Personennahverkehr (dieser wieder mit viel Nähe zum Thema Barrierefreiheit). Nach diesen Themen haben wir die Parteiprogramme in Leichter Sprache durchsucht. Welche Partei sagt etwas zum jeweiligen Thema? Stimmt es mit den Wünschen meiner Schwester überein? Mit dem Ranking daraus hat sie entschieden. Meine Schwester hat ihre Stimme abgegeben. Sie hat übrigens anders gewählt als ich.
Meine Schwester hat, wie alle Menschen, eine eigene Meinung, elementare Bedürfnisse und vor allem Forderungen an die Politik unseres Landes. Gut, dass sie ihre Chance diese Politik mit zu beeinflussen nun ergreifen kann. Sie hat ihr Recht genutzt.
2 Antworten
Wenn es immer noch Zweifel daran geben sollte, dass Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung in der Lage sind, ihr demokratisches Recht auf Teilnahme an Wahlen wahrzunehmen, dann werden diese durch diesen Artikel eindrücklich widerlegt. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die betreuende Person, so wie hier vorbildlich geschehen, die Mühe macht, mit der Wählerin oder dem Wähler die Parteiprogramme durchzugehen und sie ihr oder ihm in leicht verständlicher Sprache erläutert. So kann auch eine Person mit intellektuellen Einschränkungen zu einer Wahlentscheidung kommen, die sich sogar, wie im vorliegenden Fall, von der der Betreuerin unterscheidet.
So funktioniert Demokratie.
Danke, Katja Lüke, für diese wichtige Kolumne, die mal sehr anschaulich schildert, wie die Veränderung des Wahlrechts jetzt auch endlich mal behinderte Menschen in den politischen Entscheidungsprozess einbezieht.
Ein wichtiger Schritt der Politik, welcher allerdings um Jahre verspätet gekommen ist.
Martin Schmid aus Frankfurt am Main
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