Der Begriff Ableismus beinhaltet das englische Wort able, was übersetzt „fähig sein“ heißt. Disable hingegen ist die englische Bezeichnung für behindert oder eben „nicht fähig sein“. Betrachten wir einmal meinen eigenen Werdegang: Nach einer schwerwiegenden Viruserkrankung in meiner Kindheit, die mich fast mein Leben kostete, waren sich die Ärzt*innen sicher, dass ich geistig behindert wäre. Den Großteil meiner Kindergartenzeit verbrachte ich entsprechend in einer Einrichtung für geistig behinderte Kinder. Als ich schließlich zu lesen und zu schreiben begann, wurde deutlich, dass ich keine Intelligenzminderung hatte, und es begann für meine Mutter eine Odyssee. Die Einrichtung stellte sich quer und so verzögerte sich meine Einschulung in eine Regelgrundschule in einem kleinen bayrischen Dorf drastisch. Mein großes Glück war es, dass fast alle der Schulgemeinschaft meine Aufnahme begrüßten, vor allem der damalige Rektor, aber nur unter der Auflage, dass mich meine Mutter in jeder Pause selbst versorgte. Hier lag das zweite große Glück, nämlich, dass meine Mutter damals von zuhause aus arbeiten konnte. Dass ich in den Genuss einer guten Bildung kam und heute sogar promoviere, verdanke ich zum einen den Kraftressourcen meiner Mutter und zum anderen den glücklichen Umständen vor Ort. Beides darf meines Erachtens jedoch keine Voraussetzung für ein Leben unter Nichtbehinderten sein. Hier zeigt sich eine Grenzziehung im Sinne des Disableismus, die nur mit viel Kraft überwunden werden konnte und häufig genauso Angehörige und Freunde von behinderten Menschen betrifft.
Der Ableismus und Disableismus geht dabei über bewusste und feindliche Akte hinaus und ist unseren Institutionen sowie in den gesellschaftlichen Strukturen stark verankert, betrachtet man zum Beispiel nur die vehemente Verteidigung exklusiver Sondereinrichtungen. Schließlich kommt es vor und das nicht zu selten, dass behinderte Menschen den herrschenden Ableismus im Laufe ihrer Sozialisation verinnerlichen. Das findet dann zum Beispiel dadurch seinen Ausdruck, dass man auf hilfreiche und erleichternde Unterstützung verzichtet, um bloß nicht noch „behinderter“ zu wirken. Damit geht man aber auch häufig über seine eigenen Grenzen oder verpasst Chancen auf mehr Teilhabe. Zum Beispiel die Verweigerung eines Elektro-Rollstuhls, weil man sich darin „behinderter fühlt“, obwohl einem dieser mehr Selbstständigkeit und Reichweite bieten könnte. Zudem kann man versucht sein, vermeintlich „behindert“ wirkende Gliedmaße nicht in den Fokus geraten zu lassen: So habe ich mich beispielsweise lange Zeit als Kind und Jugendliche für meine rechte, spastischere Hand geschämt, womit ich sie in Gesellschaft kaum genutzt und sogar versteckt habe. Heute habe ich meine rechte Hand sozusagen aus der Versenkung geholt und nutze sie so gut es geht, d.h. mittlerweile habe ich ein gesundes „Leck-mich-am-Arsch“-Gefühl entwickelt.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist der, dass Ableismus und Disableismus meiner Meinung nach im Prinzip nicht nur behinderte Menschen betreffen. So wurde Frauen beispielsweise über Jahrhunderte Rationalität abgesprochen, wodurch ihnen ein höherer Schul- und Universitätsbesuch verwehrt wurde. Aber auch Menschen mit Migrationshintergrund und PoCs (people of colour) erfuhren und erfahren heute noch ähnliche Muster. Sicherlich hat das eine andere Dimension als der Disableismus gegenüber behinderten Menschen, aber meines Erachtens lässt er sich durchaus als Metaphänomen verstehen, der sich genauso durch andere -ismen (Sexismus, Rassismus, Klassismus etc.) zieht. Damit ist es dringend geboten, dass sich unsere Gesellschaft und vorneweg unsere Politik diesem Phänomen widmen und umgehend eine Aufarbeitung einleiten.
Meine Hoffnung ist letztlich, dass glückliche Umstände sowie familiäre Kraftressourcen nicht mehr bestimmend sein müssen für ein inklusives Leben, denn, um auf meinen eigenen Werdegang zurückzukommen: Ich promoviere heute nicht trotz meiner Behinderung, sondern trotz unserer ableistischen Gesellschaft!