Studieren mit Behinderung: Barrieren und Vorwürfe

Das Logo von die neue Norm auf grünem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Leon Amelung.
Lesezeit ca. 3 Minuten

Ich verlasse mein Zimmer im Studentenwohnheim und hole meine Post. Ein Brief vom Sozialamt. Das sind nie gute Nachrichten. In dem Brief soll ich mich dafür rechtfertigen, warum ich länger studiere, als die Regelstudienzeit es vorsieht. Nun ja, dafür gibt es einige Gründe: 

  • Die mangelnde Barrierefreiheit der Fakultäten. Kein Seminar konnte für mich als Rollstuhlfahrer in meiner gesamten Studienzeit in einen barrierefreien Raum verlegt werden. Wenn ich an einem Seminar teilnehmen wollte, wurde mir mitgeteilt, dass ich mir ein anderes Seminar suchen sollte. 
  • Mittlerweile habe ich zwei Krankenhausaufenthalte und eine Reha-Maßnahme hinter mir.
  • Und dann kam Corona. Die Lehre an der Uni geriet total aus den Fugen. Alles war nur ein einziges Chaos. 

 

Ich schrieb alles auf und schickte den Brief ab. Später rief mich eine Mitarbeiterin der Verwaltung an. Sie wolle mir die Studienassistenz streichen. Außerdem sagte sie mir, ich würde an der Uni einen Platz blockieren und sollte ich in den nächsten Semestern nicht das Studium abschließen, würde sie sich mit der Uni zusammensetzen und mir nahelegen, mein Studium abzubrechen und mich beruflich umzuorientieren. 

Ich konnte nicht verstehen, warum man mir auf einmal die Studienassistenz nicht mehr zahlen wollte. Dadurch würde ich im Studium wahrscheinlich noch mehr Schwierigkeiten kriegen. Am meisten regte mich aber der Vorwurf auf, ich würde einen Platz blockieren. Als Langzeitstudent wird man entweder für faul oder dumm gehalten. Die Barrieren, die einem im Studium begegnen und die für eine Verlängerung der Studienzeit sorgen, sind den Leuten beim Sozialamt unbekannt oder egal. Ich war wütend. 

Nachdem ich meine Notenübersicht geteilt habe und versichern konnte, dass ich nur noch zwei Kurse bestehen muss, um meinen Abschluss machen zu können, wurde mir die Assistenz wieder gewährt, allerdings nur entsprechend meines Stundenplanes und für 30 min Weg zur Bibliothek hin und zurück. Dieses Kontingent wollte aber kein Assistenzdienst erfüllen, weil die Einsatzzeiten nicht rentabel genug waren. 

Ich schrieb dem Sozialamt, dass ich mir juristischen Beistand in dieser Angelegenheit suchen werde. Da ich Mitglied im SoVD (Sozialverband Deutschland) bin, schrieb ich dorthin eine Mail. 

Die Mitarbeiterin des Sozialamtes rief mich wieder an. Sie fing erneut an, mir vorzuwerfen, ich blockierte einen Platz. Ich entgegnete ihr, dass ich mich von ihr persönlich angegriffen fühle und dass sie dies lassen sollte. “Der Bescheid reicht nicht aus. Ich brauche auch Hilfe in der Bibliothek.” Sie sagte mir, dass die Bibliothek doch verpflichtet sei, mir die Bücher online zur Verfügung zu stellen. Keine Ahnung, woher sie diese Information hatte, aber sie stimmte nicht. “Die Uni hat noch nicht mal die Hälfte ihrer Bibliotheksbestände im Onlinekatalog. Ich brauche auch Unterstützung in der Bibliothek.” Daraufhin schwieg sie ziemlich lange. 

Ich rief die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Hannover an und mir wurde der Tipp gegeben, mich an die Antidiskriminierungsstelle meiner Heimatstadt zu wenden. Dort bekam ich die Information, dass mich die Mitarbeiterin mit ihren Äußerungen eindeutig diskriminiert hat. In einem weiteren Gespräch mit einer Sozialarbeiterin des Sozialamts wurde mir mitgeteilt, dass ich in Zukunft den Gesetzestext auf den sich MitarbeiterInnen bei einer Drohung der Leistungskürzung beziehen, vorliegen haben sollte und mir juristische Unterstützung zu holen, sollte es nochmal zu so einer Situation kommen. 

Am Ende kam heraus, warum man mir die Studienassistenz wegnehmen wollte: Es ging nur darum, Kosten zu sparen. Es ist übrigens nicht die Aufgabe des Sozialamts, sich mit der Uni zusammenzusetzen und mir zu empfehlen, beruflich etwas anderes zu machen. Auch bei dieser Angelegenheit hat die Mitarbeiterin des Sozialamts mich dreist belogen.

 

Wehrt euch, wenn ihr euch ungerecht behandelt fühlt. Nehmt die Unterstützungsleistungen, die Menschen mit Behinderung zustehen in Anspruch und fühlt euch nicht als Bittsteller*in oder Bettler*in. Diese Leistungen stehen euch zu, um an der Gesellschaft teilhaben zu können.

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2 Antworten

  1. Bei uns in Berlin werben weiterführende Schulen damit, dass sie mit den Sozialbehörden kooperieren und z.B. Jobcenter die Kinder ihrer Klient_innen gleich vor Ort in der Schule (verpflichtend für die Kinder) „mitberaten“ bei der Zukunftsplanung. Nach dem, was ich höre, dann in der Regel zur schnellstmöglichen Aufnahme bezahlter Arbeit statt z.B. Abitur und Studium.

    Und gerade für behinderte Schüler_innen gibt es ja auch noch irgendwo den Passus, dass ihnen nur Nachteilsausgleiche für eine „angemessene“ Ausbildung zustünden statt einer nach persönlicher Begabung und Neigung höchstmöglichen (was eigentlich dringend nötig wäre – vorhandene Potenziale zu nutzen – selbst volkswirtschaftlich).

  2. Ärger mit Behörden und Krankenkassen kenne ich seit meiner Kindheit. Letztes Beispiel: Man hatte mir die nächtliche Rufbereitschaft meiner Assistenzpflege nach mehreren Jahren abgelehnt. Die Mitarbeiter und der Widerspruchsrat des LaGeSo hatten sich nicht richtig informiert und einfach behauptet. Stomaversorgung müsse vom Arzt als Behandlungspflege verordnet und von der Krankenkasse bewilligt werden. Widerspruch und Einspruch wurden abgelehnt. Eine Ablehnung der Krankenkasse reichte nicht aus – also musste ich einen Anwalt nehmen, Beratungs-/Prozesskostenhilfe beantragen und klagen. Danach noch einen Einspruch gegen die Ablehnung der Krankenkasse. Nach einem Jahr – ohne bezahlte Rufbereitschaft – und einer unangenehmen telefonischen Begutachtung durch eine Fachpflegekraft des LaGeSo bekam ich die Rufbereitschaft zurück! Also – wehrt Euch, Leute!

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