“Selber Schuld!” – Blaming the Victim

Das Logo von die neue Norm auf gelbem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Lela Finkbeiner.
Lesezeit ca. 3 Minuten

Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt

Täglich begebe ich ich mich auf die Jagd nach neuen Wörtern, sowohl in Schriftsprachen, als auch in Gebärdensprachen. Mich faszinieren neue Begriffe.

Einen Begriff habe ich gefunden. Er lautet “Victim-Blaming”. In einem Beitrag geht es darum, dass ein Mensch mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen möchte, jedoch auf massive Hindernisse bei Ämtern, Arbeitgeber*innen und Kolleg*innen stößt und dies öffentlich macht. In der dazugehörigen Kommentarspalte stolpere ich über einen Beitrag: “Selber Schuld. Jammere nicht rum. Geh doch in eine Werkstatt, dann hättest du den Stress nicht.” Empört wird erwidert: “Du betreibst hier Victim-Blaming!” Ich kannte den Begriff bis dahin nicht und ignorierte ihn erst einmal. Später aber schien das Wort “Victim-Blaming” mich fast zu verfolgen.

Neue Szene: Eine Aktivistin sitzt im Rollstuhl, lächelt auf ihrem Profilbild wie die aufgehende Sonne in die Kamera. Sie ist bekannt dafür, die Finger in die Wunde zu legen, genau dahin, wo es weh tut. Ihr Spezialgebiet: Sie macht Ableismus sichtbar. Umso schonungsloser und direkter sie Ableismus unverblümt aufdeckt, desto stärker wird sie sanktioniert. In Kommentaren zu einer Diskussion um Ableismus wird abgelenkt, indem ihr vorgeworfen wird, sie sei hässlich. Von vielen anderen Demütigungen ist zu lesen. Sie ist zu recht geschockt. Anstelle der erwarteten Solidarität erhält sie Schuldzuweisungen: “Warum machst du dein Maul auf? Warum stellst du Fotos von dir ins Netz? Ist doch logisch, dass sowas passiert. Selber Schuld.” 

Auch wir Tauben Menschen kennen Ähnliches. Bestellen wir Dolmetschende, die nicht die gewünschte Leistung erbringen und wir reklamieren deren Leistung, heißt es nicht selten: “Sei mal dankbar, dass du trotz finanziell knapper Mittel und Dolmetscher*innenmangel Dolmetschende zur Verfügung gestellt bekommst. Warum hast du diese Dolmetscherin, die bekannt ist für schwache Leistung, denn überhaupt bestellt? Selber Schuld.” Ein Tauber Mensch kommentierte: “Das ist Victim-Blaming.” 

Victim-Blaming ist viel mehr als eine moralisch höchst fragwürdige Taktik von Jurist*innen und der Öffentlichkeit. Ursprünglich bezeichnet Victim Blaming eine Verteidigungsstrategie sexualisierter Gewalt, die den Opfern eine Mitschuld an der Tat gibt (“Ihr Rock war viel zu kurz”). Im Prinzip umfasst der Begriff aber sämtliche Strategien der Täter*innen-Opfer-Umkehr. Victim-Blaming richtet sich gezielt gegen Frauen*/Mädchen* und marginalisierte Menschen. Strategien des Victim-Blamings führen zu einem massiven psychischen bis traumatisierenden Einschnitt. Das Konzept des Victim-Blamings ist in unserer Gesellschaft verfestigt, sodass wir nicht selten Täter*innen-Opfer-Umkehr unterbewusst ausüben. 

Zum Beispiel werden Jugendliche, die als behindert gelesen werden, davon abgehalten, eine Disco zu besuchen, indem sie eher darin bestärkt werden, in einer speziellen “inklusiven Diskothek” ihre Tanzwut auszuleben. Dies passiert angeblich in guter Absicht, um Menschen mit Behinderungen vor verbalen oder nonverbalen Übergriffen der vermeintlich bösen Welt da draußen “zu bewahren”.

Jetzt alle mal tapfer sein: Wir alle, auch ich, sind von “Victim-Blaming” mehr oder weniger durchzogenen Denkstrategien bewusst oder un(ter)bewusst in unserer Sozialisation beeinflusst worden. 

Das Problem ist die Tatsache, dass ein gesunder Selbstschutz natürlich gut und wichtig ist. Menschen mit Behinderungen dürfen, können, vielleicht wollen sie auch in Werkstätten arbeiten, inklusive Diskotheken besuchen, usw.. Das ist okay, aber sie sollten es nicht müssen.

Menschen mit Behinderungen werden oft als leidend, jederzeit zu Dankbarkeit verpflichtet, pflegeleicht, umgänglich, aggressionslos und als mit “speziellen Bedürfnissen” gelabelt. Doch wenn ihre Menschenrechte verletzt werden oder sexualisierte Übergriffe oder andere Diskriminierungen erfolgen, wehren sich Menschen mit Behinderungen, soweit sie dazu in der Lage sind und sie Raum dafür bekommen. Das Problem: Sie fallen so aus dem Muster der gelabelten “Behinderten”. Sie führen der Gesellschaft die Diskriminierung und Gewalt, die ihnen wiederfahren ist, vor Augen und machen damit die gesellschaftlichen Missstände und die Ungerechtigkeit sichtbar. Prompt wird Ihnen vorgeworfen, schuld an ableistischen Übergriffen zu sein, weil sie sich außerhalb der erwarteten Normen bewegen. Anstatt Menschen mit Behinderungen beizubringen, ableistischen Situationen möglichst aus dem Weg zu gehen und sie an ihren gesellschaftlich zugewiesenen, künstlich errichteten Platz zu verweisen, sollte der Fokus auf aufbauende, partizipative, barrierearme Strukturen gerichtet werden. Dabei sollten auch Täter*innen sanktioniert werden, damit ableistische Handlungen gebrochen werden.

 

Warum wird “Taub” hier großgeschrieben?

Das Wort “Taub” ist für Lela Finkbeiner kein neutrales Adjektiv für einen medizinisch messbaren Hörstatus und lässt sich auch nicht auf die DGS-Verwendung reduzieren. “Taub” beschreibt für sie eine historische, politische und soziale Identität, die als Kategorie von medizinischer Norm abweicht. Genauso wie Taub, ist “hörend” kein neutrales Merkmal. Die Schreibweise ist ein Versuch, Hierarchien sichtbar zu machen und infrage zu stellen.

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2 Antworten

  1. Ich finde das sehr schlimm, dass die Leute so behandelt werden. Solche Menschen, die Victim blaiming betreiben, wissen doch gar nicht, ob sie es morgen schon selbst treffen kann, dass sie durch einen Unfall oder ein Verbrechen nicht mehr sehen, hören , riechen etc oder auch laufen können. Und würden wahrscheinlich dann lautstark protestieren, wenn man sie nach so einem Unfall in eine Werkstatt stecken würde.

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