Nachts, halb 3. Ich sitze im Bett und schaue mir mit wachsender Begeisterung das gefühlt hundertste Video von Disability Pride Paraden an. Wie bin ich nur hier gelandet? Letztes Jahr um diese Zeit habe ich bestenfalls die Augen verdreht, wenn jemand mir mit „Pride“ kam. Doch zurück zum Anfang:
Ich bin als Kind eines Jamaikaners und einer Deutschen hier geboren und bin, dank der Berufe meiner Eltern, kreuz und quer auf der Welt groß geworden. Immer hatte ich die „falsche“ Hautfarbe. Mal zu hell, mal zu dunkel. Das Konzept von „Stolz“ auf die Herkunft, die Hautfarbe, oder gar den Körper, habe ich bestenfalls mit Rechtsextremen verbunden. Nach dem Motto: Wer sonst nichts im Leben vorzuzeigen hat, wird halt stolz auf seine Nationalität. Ziemlich platt und unreflektiert, aber so war es damals halt.
Ich habe hart gearbeitet und bis ich Mitte 20 war, hatte ich viele meiner Wünsche und Ziele erreicht. Ich bin der klassische, leicht chaotische Freigeist. Ich war immer die, die ihren eigenen Weg gegangen ist. Mal hierhin, mal dahin, mal dies probieren, mal das. Meinen Frieden mit meiner „Identität“ und meiner Hautfarbe habe ich bereits als Jugendliche geschlossen. Seitdem sind mir die Meinungen anderer egal. Zumindest bei Fremden. Ich war einfach ich. Rassismus und Diskriminierung habe ich in unterschiedlichen Formen, von dummen Sprüchen bis hin zu massiver körperlicher Gewalt schon mehrfach (leider hauptsächlich in Deutschland) erlebt. Trotzdem war meine Hautfarbe nie eine definierende Eigenschaft. Das Erste, was Menschen in der Regel an mir auffiel, war meine Größe und meine Kleidung. Als karamellfarbende Frau die über 1,80m groß ist, eine lila Lockenmasse auf dem Kopf hat und als Metal Fan in Springerstiefeln, morbiden Bandshirts, Nieten, Lederjacke und dergleichen durch die Welt stampft, fällt man schon mal auf.
Ich bin durch mein Leben gewandert, ohne was Böses zu ahnen.
Dann, mit 26, hat sich Multiple Sklerose in mein Leben eingeladen. Bis ich 27 war, war ich schon im Rollstuhl. Jetzt, mit 33, bin ich ein Pflegefall und benötige 24 Stunden am Tag jemanden. Na toll!
Jedenfalls habe ich das durchgemacht, was viele, die sich im Laufe ihres Lebens eine Behinderung anlachen, durchmachen: Ich habe getrauert, um meine Gesundheit, meinen Körper, mein Leben, meine Wünsche, meine Träume. Nach gut zwei Jahren voll mit Wut und Tränen, habe ich mich mit meiner neuen Situation arrangiert und machte, trotz veränderten Rahmenbedingungen, mehr oder weniger weiter wie zuvor. Ich dachte, ich hätte meinen Körper und meine Behinderung akzeptiert. Es stellte sich heraus, dass das gar nicht so war. Ich habe mich immer bemüht, mich von „den Behinderten“ abzusondern. „Du bist ja nicht wie andere Behinderte“ war für mich ein Kompliment. Alles, nur bloß nicht sein wie „Die“!
Zum Glück habe ich in den letzten Jahren viele coole Menschen mit Behinderung kennengelernt. Durch den Kontakt habe ich gemerkt, was ich alles an Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung, Menschen wie MIR, hatte. An sich sind Vorurteile normal, bei allen Menschen. Das Entscheidende ist, was man damit macht. Ich habe also angefangen nachzudenken. Vor allem der Satz „Du bist ja nicht wie andere Behinderte“ kam mir irgendwie bekannt vor. „Du bist ja auch nicht richtig Schwarz“, „Ja, aber DU bist ja anders“. Da habe ich dann verstanden. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind vielleicht gar nicht so anders als Behindertenfeindlichkeit. Die Logik ist fast immer die gleiche, die Auswirkung vermutlich auch.
Ich habe also festgestellt, dass ich meine eigene Behinderung nur beiseite geschoben und nicht akzeptiert habe. Ich bin im Umgang mit Problemen sehr konfrontativ, am besten mit dem Kopf durch die Wand und wenn das nicht geht, nehme ich halt einen Schlaghammer. So auch hier. Ich habe mich bei diversen sozialen Medien (die ich eigentlich nicht ausstehen kann) angemeldet, weil ich gehört habe, dass dort viele interessante Leute über ihre Erfahrungen, mit Behinderung durch‘s Leben zu gehen, schreiben. Dann habe ich angefangen auf Informations- und Diskussionsveranstaltungen zu gehen (fragt mich mal nach Betrunkensein auf der RehaCare…). Dann bin ich über „Disability Pride“ gestolpert. Behinderten/ung(s)-Stolz. Meine erste Reaktion war Ablehnung mit Belustigung. Da sind sie wieder, die Vorurteile. Der Gedanke auf meine Behinderung stolz zu sein und sie sogar zu feiern, ist für mich befremdlich. Neugierig bin ich aber schon.
Zum Glück habe ich ein tolles englisches Video gefunden, welches sich speziell mit der Notwendigkeit von „Pride“ für Menschen mit Behinderung auseinandersetzt. Ich habe es mir angehört und hatte viele „Aha“-Momente und merke, wie meine Neugierde wächst. Hat sich da gerade leichte Aufregung in meine Gefühlswelt gemischt? Oh, da ist ja ein Video von einer Parade, und Interviews…
Die Zeit vergeht. Auf einmal ist es nachts halb 3 und ich schaue mir mit zunehmender Begeisterung Disability Pride Videos an. Vielleicht traue ich mich auch in Zukunft bei einem Marsch mitzumachen. Mal schauen. Mein falscher Stolz und meine Vorurteile haben noch einen weiten Weg vor sich.