Das Behinderten-Aktivist*innen Paradoxon

Das Logo von Die Neue Norm auf grünem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Lotte Zach.
Lesezeit ca. 4 Minuten

Die Behindertenrechts-Aktivistin Wheelchair Rapunzel wird zurzeit scharf kritisiert, dafür dass sie auf Social Media ihre Erfahrungen mit einem neuen Medikament dokumentiert, das gegen ihre Erkrankung spinale Muskelatrophie wirksam ist. Ihr wird vorgeworfen, sie schade mit dieser Dokumentation der Disability Community, weil sie das Bild vermittelt würde, Behinderungen müssten geheilt werden. Ihr wird unterstellt, inspiration porn für die nicht behinderten Zuschauer:innen zu generieren. Sie weist diese Kritik von sich, verweist darauf, dass sie stets eine stolze selbstbewusste Haltung für Menschen mit Behinderung, ihren Wert und ihr Können vermittelt hat und wirft den Kritiker:innen Neid als wahren Grund ihres Unwohlseins vor.

Im Buddhismus gibt es ein Konzept, das besagt, dass man ein Problem nicht mehr loswerden möchte, wenn man sich über dieses Problem definiert und mit ihm identifiziert, weil man sonst nicht mehr weiß, wer man ist. Das ist eine sehr provokante Idee für politischen Aktivismus. Aber ich glaube, das Beispiel von Wheelchair Rapunzel zeigt, dass etwas Wahres daran ist.

Das Geschehen ist für mich ein gutes Beispiel für eine Problematik, die mich schon sehr lange beschäftigt: Die inklusionsaktivistische Community, die zum allergrößten Teil aus selbst betroffenen Menschen besteht, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich stark über die eigene Behinderung definiert. Da nehme ich mich selber gar nicht aus. Der Stolz auf die eigene Behinderung und ihr identitätsintegriertes oder -stiftendes Element steht im starken Widerspruch zu der Wahrnehmung von Behinderung in der Mehrheitsgesellschaft, führt somit zu Irritation und Provokation und legt sich wie ein schützender Panzer über uns, die wir täglich mit Ableismus konfrontiert sind.

Aber dieser Schutzmechanismus birgt meiner Meinung nach auch eine Gefahr: Er sorgt dafür, dass wir uns immer mehr mit unserer Behinderung identifizieren und dadurch auch immer mehr über sie definieren. Die Debatte über „Identity-first vs person-first language“ ist ein guter Hinweis darauf, dass Menschen mit Behinderung oder auch behinderte Menschen, immer mehr einfordern, dass Behinderung als wesentlicher Teil ihrer Identität gesehen wird und seine negative Konnotation verliert. Das Problem dabei ist: Wer sich immer mehr über eine bestimmte Sache definiert, nimmt seinem Umfeld und sich selbst die Möglichkeit, einander jenseits dieser Eigenschaft zu begegnen und Erfahrungen zu machen, bei denen diese Eigenschaft nicht im Mittelpunkt steht. Im extremsten Fall reduzieren wir uns selber somit auf die Eigenschaft oder auf das Problem, obwohl dies doch häufig genau das ist, was wir als marginalisierte Gruppe verhindern wollen oder wogegen wir kämpfen.

Doch das Problem geht noch weiter: Wenn sich nun eine Person, die sich für die Rechte von behinderten Menschen in der Gesellschaft einsetzt, öffentlich dazu bekennt, ein Medikament zu nehmen, um die eigene Behinderung zu reduzieren oder zumindest ihr Fortschreiten zu verhindern, fühlt sich diese Gemeinschaft davon angegriffen, weil es doch ihr identitätsstiftendes Merkmal ist, diese Behinderung zu haben und weil sie dafür kämpfen, dass Behinderung nichts Schlechtes oder zumindest nicht nur als etwas Schlechtes wahrgenommen wird. Gegen etwas, das “nichts Schlechtes” ist, muss man aber keine Medikamente nehmen. In dieser kognitiven Dissonanz, diesem paradoxen Gedanken sind die Menschen aus der inklusionsaktivistischen Community gefangen und müssen für sich eine Antwort auf diese Frage finden. Wheelchair Rapunzel ist gerade viel Wut und Verletzungen ausgesetzt, weil Personen aus ihrer Community mit dieser paradoxen Einstellungen nicht umzugehen wissen.

Meiner Meinung nach muss es aber in Ordnung sein, sich gleichzeitig dafür einzusetzen, dass ein Leben mit Behinderung abwechslungsreich, lebenswert und bereichernd sein kann und trotzdem auch für das individuelle Recht, seine eigenen Einschränkungen, soweit es irgendwie geht, zu reduzieren oder zu eliminieren und sich über diesen Prozess zu freuen und ihn als Zugewinn wertzuschätzen und zu zelebrieren, ohne, dass einem Ableismus vorgeworfen wird. Dahinter steckt letztlich das Schwarz-Weiß-Denken, das uns die Mehrheitsgesellschaft bei der Debatte über Behinderung immer wieder versucht aufzuzwingen: Entweder sind wir großes Leid oder total inspirierend. Nein. Wir sind alle Graustufen dazwischen. Das Empfinden und Erleben der eigenen Behinderung sind individuell und hochkomplex.

Dieser Punkt mag auch ein Unterschied sein zu anderen Diskriminierungsformen. Bei allen Parallelen zu z.B. Rassismus, Trans- oder Frauenfeindlichkeit gibt es diesen Unterschied: Eine andere Hautfarbe oder geschlechtliche Identität ist jenseits der gesellschaftlichen Struktur und den damit verbundenen Diskriminierungsformen per se nichts Schlechtes und theoretisch mit keiner Minderung von Lebensqualität verbunden. Die meisten Behinderungen hingegen haben jenseits dieser konstruktivistisch-strukturellen Komponente eine physische Komponente, die zu einer Einschränkung von bestimmten Fähigkeiten führt, was oft mit einer gewissen Verringerung von Lebensqualität einhergeht. So sehr ich dankbar bin für alle Generationen von Inklusionsaktivist:innen, die dafür gekämpft haben, dass die strukturelle, konstruktivistische, soziale Komponente der Einschränkung von Menschen mit Behinderung wahrgenommen und ernst genommen wird, so bin ich doch der Meinung, dass wenn diese rein theoretisch wegfallen würde, ich immer noch behindert wäre und viele andere Menschen mit anderen Behinderungen wahrscheinlich auch. Je nach Behinderungsform mal mehr, mal weniger. Daraus spinnen sich Fallstricke für unsere aktivistische Arbeit.

Im Gegensatz zu anderen marginalisierenden Merkmalen gibt es bei Menschen mit Behinderung tatsächlich eine physiologische Basis des Defizit-Argumentes, auf dem die meisten Diskriminierungs-Argumentationen aufbauen. Deswegen müssen wir als Behindertenrechts-Aktivist:innen im Vergleich zu anderen Aktivist:innen differenzierter argumentieren und ein differenziertes Bild von dem Wert des Individuums in unserer Gesellschaft zeichnen. Wir können uns nicht allein auf das große Argument des sozialen Konstruktes stützen. Was nicht heißt, dass dieses Argument gar nicht greift, aber eben nicht allein. Unsere Benachteiligung ist eine doppelte. Sie ist physisch, biologisch oder gesundheitlich und sie ist gesellschaftlich konstruiert. Deswegen muss es in Ordnung sein, sich als behinderte Person über die physische Reduktion der eigenen Behinderung zu freuen, ohne dass einem Behindertenfeindlichkeit vorgeworfen wird.

Ich kann mein Leben lebenswert und großartig finden und mich trotzdem auch darüber freuen, wenn eines meiner Probleme reduziert wird. Und wer sich davon angegriffen fühlt, dass das Gegenüber ein Wiedergewinnen von Fertigkeiten durch eine Behandlung zelebriert, sollte für sich hinterfragen, welcher Raum in der eigenen Identitätsstiftung von der Behinderung eingenommen werden sollte.

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2 Antworten

  1. Liebe Charlotte,
    als 22 Jahre ältere Frau mit Behinderung und auch lesbischer Identitätsfindung/-suche/-Veränderung, beschäftigt mich die Frage der Identitäten durch fünf Jahrzehnte hindurch immer wieder neu. Politisch, persönlich, beruflich, spirituell. Bis hin zu der Frage nach der Gewichtung von Persönlichkeit und Seele und worum es bei Identitäten eigentlich geht. Ich war immer viel eher leidenschaftlich als aktivistisch. Was der Spastik, der Langsamkeit, der Mobilitäts- und Kraftgrenzen, der Grenzen der Reizverarbeitung geschuldet ist. Aber eben auch meiner Haltung.

    Ich finde dich toll und danke dir für deine Authentizität. Wir sind übrigens Kolleginnen und ich würde mich wahnsinnig freuen, dich kennenzulernen!

    Herzliche Grüße aus Berlin
    Tanja

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