Letzten Samstag war ich mal wieder im Radio. Und, könnt Ihr Euch schon denken, zu welchem Thema? Nein, ganz anders als erwartet, handelte die komplette erste Hälfte des Beitrags von der gesellschaftlichen Situation von queeren Menschen. Dazu war ich als lesbische Fachfrau eingeladen worden. Erst in der zweiten Hälfte des Beitrags ging es um Vorurteile, die mir als behinderter Lesbe in der allgemeinen Gesellschaft entgegen gebracht werden. Wie offen die LGBTIQ*-Szene für behinderte Menschen wäre, wollte der Moderator des Beitrags herausfinden. Nach meiner Diagnose und wie es zu meiner Behinderung gekommen ist, hat er hingegen überhaupt nicht gefragt.
Das hat mich positiv überrascht. Ich weiß nicht, ob Ihr Euch vorstellen könnt, wie schön es war, als Fachfrau zu verschiedenen Themen reden zu dürfen. Und darüber hinaus nicht die altbekannte, unerwünschte Frage zu etwas so Persönlichem und Folgenreichem wie meiner eigenen Krankheitsgeschichte auf möglichst höfliche Weise zurückweisen zu müssen. Ohne dabei die Stimmung im Live-Interview zu verderben. Ich weiß, fürs Publikum kann eine emotional aufgeladene Geschichte über schwere Krankheiten oder dramatische Unfälle sehr anregend sein. Ich selbst möchte aber nicht als Opfer eines tragischen Schicksals herhalten.
Und noch etwas hat mich positiv überrascht. Berichte über “Homosexualität“ beziehen sich viel häufiger auf schwule Männer, als auf lesbische Frauen. Bei diesem Radio-Interview hat aber nicht schon wieder ein schwuler Mann über Lesben und Schwule geredet, sondern eine lesbische Frau. Ich fühlte mich wie bei einem Etappensieg bei einem langen Staffellauf.
Es ist schon lange mein Ziel, dass Frauen und Männer und Menschen aller anderen Geschlechter UND Menschen mit und ohne Behinderungen und Menschen mit den unterschiedlichen Hautfarben und Hintergründen gleich ernst genommen, gehört und beachtet werden. Weil sie ungefähr so oft als Fachleute auf Diskussionspodien und bei anderen Veranstaltungen, in Radio- und Fernsehsendungen und in allen anderen vermeintlich öffentlichen Medienbeiträgen gehört werden sollten, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Noch sind wir da leider weit von entfernt. Ihr könnt bei der nächsten Gelegenheit ja mal nachzählen.
Behinderte Menschen können fachlich kompetent und gute Referent*innen sein. Zu vielen verschiedenen Themen, nicht nur zu Behinderungen und Barrierefreiheit.
Meistens werde ich allerdings automatisch nur als Fachfrau für „Behinderten-Fragen“ gesehen und meine verschiedenen anderen Kompetenzen fallen hinten rüber. Als ob mein Rollstuhl wie durch Magnetismus alle anderen klugen Gedanken aus meinem Kopf heraus saugen würde.
Bei manchen Themen sollte es sich verbieten, ohne entsprechend viele Fachleute mit Behinderungen oder of Color darüber zu diskutieren. Zum Beispiel beim Thema Rassismus oder bei behindertenpolitischen Fragen.
Aber auch zu allen anderen Themen können wir etwas zu sagen haben. Je nachdem, womit wir uns eben beschäftigt haben.
Ein einziger Radiobeitrag ist für die Feier eines „Etappensiegs“ natürlich zu wenig. Aber ich glaube, es hat sich noch mehr geändert. Deshalb habe ich noch zwei Beispiele zu Werbefilmen und Kinderspielzeug für Euch aufgeschrieben. Sie sind für mich Teil eines Etappensieges, den wir mit vielen Jahren behindertenpolitischem Aktivismus erreicht haben.
1995 habe ich mir meine erste gute Fotokamera gekauft. Wer ein paar der Ergebnisse ansehen möchte, wird hier (von 1995-2000) und hier (aktuell) fündig. Ich habe mir die Kamera damals gekauft, um dem negativen Behindertenbild etwas Positives entgegenzusetzen. In den 80-er und 90-er Jahren fühlten sich die meisten Menschen vom Anblick behinderter Menschen unangenehm berührt. Es gab gesellschaftlich viele negative Assoziationen zu behinderten Menschen und nur wenig positive.
In den letzten Jahren habe ich allerdings immer mal wieder Werbefilme angezeigt bekommen, in denen behinderte Modelle als Werbeträger*innen genutzt wurden. Entweder als Hauptfigur oder in einer Reihe mit verschiedenen anderen Menschen, wobei sie einen selbstverständlich dazugehörigen Teil der Gemeinschaft repräsentierten. Zum Beispiel in der Werbung für Autos oder Sportbekleidung. Autos und Sportbekleidung sind keine Produkte, die hauptsächlich von behinderten Menschen gekauft werden.
Häufig wurden die behinderten Modelle bei sportlichen Höchstleistungen gezeigt, aber auch im Bett mit technischen Hilfsmitteln, beim Tanzen oder beim fröhlichen Spiel oder Spaziergang mit anderen. Sie symbolisierten meistens Leistungsfähigkeit, Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen und funktionierten als besonders coole, taffe und durchaus sexy Sympathieträger*innen.
Ihre anders geformte Körper und ihre Hilfsmittel wurden erotisiert und ästhetisiert.
Wahrscheinlich wurden mir durch die Individualisierung von Werbeanzeigen im Internet mehr Werbeclips mit behinderten Menschen angezeigt. Werbung, die behinderte Menschen als sexy Modelle benutzt, ist absolut noch nicht die Regel. Außerdem kann man an den Werbeclips ein paar Aspekte kritisieren, zum Beispiel dass längst nicht alle behinderten Menschen Leistungssportler*innen sind. Aber mir ist lieber, jemand denkt bei meinem Anblick an Sport und besonders große Leistungsfähigkeit als an Hilflosigkeit und Einschränkungen.
Wenn es funktioniert, mit attraktiven behinderten Menschen für Konsumgüter zu werben, weil Menschen ein Produkt kaufen wollen, für das behinderte Modelle stehen – dann haben wir viel erreicht.
Ein drittes Beispiel:
Dies Jahr ist ein Kind aus meinem nahen Umfeld eingeschult worden. Weil sie gerne mit Playmobil spielt, habe ich geguckt, was es dort zum Stichwort „Schule“ gibt und mir alle 17 Angebote angesehen. Zu meiner Überraschung gab es einen Schulbus mit ausklappbarer Rollstuhlrampe am Heckeinstieg, der aber nicht „Behindertenfahrdienst“ hieß oder „Inklusiver Bus“. Sondern „Schulbus“. Ohne irgendeinen Zusatz dazu. Als ob es das normalste der Welt wäre, dass in Gruppen von Schulkindern auch welche mit Rollstuhl dabei sind und ein normaler „Schulbus“ deshalb eine Rampe hat. Genau so normal und selbstverständlich, wie es eigentlich sein sollte.
In der „Schulbus“-Packung sind 4 Playmobil-Kinder mit unterschiedlichen Hautfarben. Eins davon hat einen Rollstuhl. Einen hübschen.
Das Modell der „Großen Schule“ von 2009 hat viele Stufen. Das aktuelle Modell der „Großen Schule“ von 2018 hat einen Aufzug und dazu noch fünf Rampen, um die Dicke des Plastikbodens des Hauses zu überwinden. Man kann mit einem Rollstuhl in jeden einzelnen Raum hinein fahren. Auf einem der 11 offiziellen Werbebilder wird sogar gezeigt, dass man mit Rollstuhl in die Jungen- und in die Mädchen-Toilette herein kommen kann. Einen Haltegriff gibt es ebenfalls in beiden. Auch die Turnhalle und die anderen Erweiterungsräume, die man getrennt dazu kaufen kann, haben Rampen. Dabei kommt Playmobil noch nicht einmal aus den USA mit dem guten Antidiskriminierungs-Gesetz ADA sondern aus Zirndorf bei Nürnberg.
Im Film über das Schulgebäude sieht man ein Mädchen mit Rollstuhl mit dem Aufzug hoch fahren. Der gesprochene Text währenddessen lautet aber nicht: „Sogar behinderte Kinder können ganz normal dabei sein.“ Sondern: „Auf zum Chemie-Unterricht!“.
Ich glaube, ich habe diese Stelle mittlerweile über 20 mal angesehen.
Diese Beispiele zeigen für mich positive Veränderungen darin, wie behinderte Menschen in unserer Gesellschaft gesehen werden und welche Rolle wir spielen dürfen. Nein, wir haben das Ziel des langen Staffellaufs noch nicht erreicht. Längst nicht. Aber den einen oder anderen Etappensieg schon.
Eine Antwort
Danke, liebe Kassandra