„Wie abhängig ist eigentlich unabhängig?“

Das schwarz-weiße Logo von Die Neue Norm. Daneben steht "Die Neue Kolumne". Unten steht: von Anne Gersdorff.
Lesezeit ca. 2 Minuten

Unabhängigkeit scheint eines der hohen Güter unserer Zeit zu sein. Alles und jede*r möchte von allem unabhängig sein. Doch wie ist das eigentlich, wenn ich immer von jemanden abhängig sein muss? Und dabei meine ich nicht die Abhängigkeiten in die wir alle mehr oder weniger verstrickt sind – zur Familie, zu Personen die wir lieben und zum Geld beispielsweise. 

Menschen mit Behinderung sind häufig in bestimmten Situationen abhängiger. Möglichst frühzeitig wird alles darauf angelegt durch bestimmte Therapien und Forderungen möglichst ohne Hilfe und Unterstützung – also unabhängig – leben zu können. Ich z.B. werde ein Leben lang von der Kraft anderer Menschen und auch Maschinen abhängig sein. Da kann ich mich noch so sehr anstrengen. ‚Nur‘ um wirklich Husten zu können, benötige ich einen sogenannten Cough Assist und eine*n eingearbeitete*n Assistent*in.

Dabei führe ich vermutlich eins der unabhängigsten Leben, die ich als Mensch mit Behinderung so führen kann. Ich lebe in einer eigenen Wohnung, die an meine Bedürfnisse angepasst ist. Ich habe Assistent*innen, die ich selbst anstelle. Somit kann ich entscheiden, mit wem ich auf Toilette gehe, ob ich erst am Nachmittag aufstehe oder ein Business-Life führe. Ich habe ein eigenes Auto, das mich unabhängig von defekten Aufzügen, Anmeldungen bei der Bahn und dem Wetter von A nach B bringt. Ich habe einen Job, von dem ich gut leben kann und der mir Freude macht. Dennoch bin ich davon abhängig, dass meine Assistenz stets auf meinen Körper achtet, alle Hilfsmittel funktionieren und das Amt rechtzeitig meinen Antrag bearbeitet und die Assistenz bezahlt.

Nicht ohne Grund scheint also Unabhängigkeit, häufig auch synonym mit Selbständigkeit und Selbstbestimmung benutzt, eins der meist genutzten Slogans der Behindertenhilfe zu sein. Dabei bewirken klassische Systeme in Heimen oder Werkstätten doch eher das Gegenteil.

Um mehr Menschen mit Behinderungen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, wurden mit dem BTHG die „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ eingeführt. Damit kam das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einer großen Förderung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung nach. Das ist gut und sicher eine tolle und wichtige Sache. Erstmals bekommen Vereine eine solide Finanzierung. Außerdem sollen darin insbesondere Menschen mit Behinderung beraten. Doch wie unabhängig sind diese Beratungsstellen eigentlich? Gerade in den ländlichen Regionen Deutschlands werden diese von den klassischen Wohlfahrts-Unternehmen betrieben. Der Bund stellt für die EUTBs 58 Millionen Euro jährlich bis 2022 zur Verfügung. Aber kann nicht auch sein, dass es dafür möchte, dass seine Maßnahmen, wie z.B. das Budget für Arbeit, Wirkung zeigen?

Also auch da wo „unabhängig“ draufsteht, ist Abhängigkeit drin. Vermutlich ist das immer ein Stück weit so. Doch wichtig ist, diese kritisch zu hinterfragen. Denn: Inklusion wäre, wenn wir keine „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ bräuchten, weil jede*r die Unterstützung bekommt, die er*sie braucht.

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