(H)armlose Selbstständigkeit

Das Logo von Die Neue Norm auf orangenem Grund. Rechts davon steht; Die Neue Kolumne. Unten steht: von Henriette Schwarzer.
Lesezeit ca. 4 Minuten

Im Sommer 2018 saß ich im Garten. Mit meinem Baby auf dem Bauch. So unendlich glücklich, wie ein Mensch nur sein kann. Da wurde mir bewusst, dass es für mich sehr schwierig werden wird, wieder einen passenden Arbeitsplatz zu finden. Als Frau mit einem Baby ist das nicht so leicht. Darüber hinaus habe ich keine Arme. Es war schon vor dem Baby nicht leicht, alle Vorurteile möglicher Arbeitgeber:innen auszuräumen. Ich hatte auch gar keine Lust mehr, darum zu kämpfen, dass meine Fähigkeiten anerkannt werden. Da reifte in mir der Entschluss, mich selbstständig zu machen. Ich wollte ein Unternehmen gründen, das perfekt zu mir passt. Nach viereinhalb Jahren sind hier meine spannendsten Erkenntnisse: 

1. Selbstbestimmung

Die Selbstständigkeit bietet für mich das höchste Maß an Selbstbestimmung. Mein Arbeitsplatz ist optimal für mich ausgerichtet. Ich muss keine Kompromisse eingehen und kann zu 100 % dafür sorgen, dass meine Bedürfnisse optimal erfüllt sind. Ich entscheide, was ich arbeite, welche meiner Fähigkeiten ich nutzen oder ausbauen möchte und für wen ich arbeite oder nicht. 

Ich kann meine Arbeitszeiten so legen, wie es für mich optimal ist. Dabei berücksichtige ich neben meiner Behinderung auch meinen Biorhythmus und natürlich mein Familienleben. Ich kann alle meine Rahmenbedingungen immer wieder anpassen, denn das Leben verändert sich ständig – gerade mit Kleinkind. Im Winter arbeite ich mehr. Im Sommer genieße ich lieber das gute Wetter und mache Ausflüge. 

Damit die Selbstbestimmung bestmöglich gelingt, muss ich immer wieder gegen scheinbare Zwänge kämpfen. Nicht ständig erreichbar zu sein, nicht jeden Auftrag anzunehmen und gleichzeitig in dem für mich optimalen Tempo zu wachsen, bringt immer wieder Herausforderungen mit sich. Immer wieder gilt es, zu reflektieren und sich neu auszurichten in Richtung Selbstbestimmung. 

2. Chancengleichheit

Ich habe mich anfangs bewusst dafür entschieden, meine Behinderung nirgendwo zu thematisieren. Nach den ersten Videomeetings war mir klar, dass den Menschen gegenüber nicht auffällt, dass ich keine Arme habe. So kam es dazu, dass ich vier Jahre lang inkognito behindert arbeiten konnte. Mir war vorher nicht klar, dass Remote-Arbeit mir diese Chance eröffnen würde. 

Noch viel weniger klar war mir, wie groß der Unterschied zum Arbeiten vor Ort für mich ist. Rein nach meiner Leistung beurteilt zu werden, war ein immenser Unterschied. Ich musste mich nie erklären, keine mentalen Barrieren meines Gegenübers ausräumen, keine Diskriminierung erleben. Es ging einfach um meine Skills. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass ich aufgrund meines Geschlechts und anderer Merkmale noch immer keine absolute Chancengleichheit erreichen kann. 

3. Sicherheit

Das Arbeitsamt beschrieb mich als unvermittelbar. Eine Verbeamtung war aufgrund einer chronischen Krankheit für mich nicht möglich (wofür ich im Nachhinein sehr dankbar bin!). Als Angestellte wurde doch immer deutlich gemacht, dass es für mich ja nicht so leicht ist, einen anderen Job zu finden und ich schon ein bisschen dankbar sein müsste, einen Job zu haben. Ansprüche stellen oder viel bewegen? Fehlanzeige. 

Heute weiß ich, dass die Selbstständigkeit für mich die bestmögliche Sicherheit bietet. Das war aber sicherlich nicht von Anfang an der Fall. Ich musste erst lernen, mich gut abzusichern. Neben dem, was wir allgemein als Versicherung verstehen, gehören für mich unabdingbare Skills dazu. In meinem Fall ist es die Flexibilität, mich immer weiterzuentwickeln, neue Dinge zu lernen und auf die verschiedensten Anforderungen meiner Kundinnen einzugehen. 

Die ersten drei Jahre war Akquise für mich eine sehr große Herausforderung. Jetzt habe ich ein großes Netzwerk aufgebaut, tolle Kooperationspartnerschaften und gelernt zu pitchen. Schwankungen in der Auftragslage und damit auch im Einkommen, kann ich planen und vorausschauend damit umgehen. Ausfälle durch (Kinder-)Krankheiten sind nicht immer leicht aufzufangen. Aber das geht Angestellten ja ähnlich. Zum Glück habe ich eine Großfamilie im Rücken, in der wir uns großartig unterstützen. 

4. Resilienz

Die wohl größte Herausforderung für mich als Selbstständige ist Resilienz. Das Aushalten der Schwankungen vom Sommerloch bis hin zur Überbuchung im Winter. Das Team gut zu koordinieren und passende Aufträge (vom Umfang und Inhalt) für alle zu finden. Damit leben zu können, dass die Rücklagen manchmal schwindelerregend schmelzen, um dann wieder in die Höhe zu schießen. Feierabend zu machen, auch wenn ich noch drei Tage ohne Pause durcharbeiten könnte. 

Hier sehe ich meine Behinderung als absoluten Vorteil. Ich habe von klein auf gelernt, Situationen auszuhalten und zu meistern. „Das kannst du eben nicht“ habe ich so oft gehört, dass es bei mir ein regelrechter Trigger ist zu „Jetzt erst recht!“. Und das bringt auch mein Unternehmen immer wieder weiter voran. 

Mein Fazit

Nach viereinhalb Jahren bietet mein Unternehmen für mich und auch die Menschen in meinem Team individuelle Arbeitsplätze. Wir unterstützen Unternehmer:innen, denen die sprichwörtliche dritte Hand fehlt und die etwas in der Welt bewegen. Unsere Skills sorgen so dafür, dass großartige Ideen umgesetzt werden. Unsere intern wie extern maßgeschneiderten Strukturen sorgen also dafür, dass wir dem Fachkräftemangel entgegenwirken, großartigen Menschen neue Chancen eröffnen und wir den Wandel beschleunigen. 

Inklusive Strukturen zu schaffen und tatsächlich zu leben ist schockierend viel einfacher, als ich es mir vorgestellt habe. Unternehmerin zu sein ist eine große und sich immer wandelnde Herausforderung, die ich lieben gelernt habe. 

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