Zwei Jahre ist es her, seit mir die Stationsärztin der Neurologie sagte, dass ich Multiple Sklerose habe.
Rückblick
Es ist Donnerstag der 23. Mai 2019 und ich sitze gespannt am Rand meines Krankenzimmerbettes und warte darauf, was mir die beiden Ärztinnen zur Visite sagen möchten: „Der Verdacht hat sich bestätigt, es handelt sich um MS.“ Ziemlich freundlich und vielleicht auch ein bisschen berührt, einem anderen Menschen eine solche Diagnose übermitteln zu müssen, stehen sie mir gegenüber und ich merke selbst, wie mein Atem einen Moment stockt. Ich versuche tief Luft zu holen und muss schlucken. Mir treten ein paar Tränen in die Augen, obwohl ich es nicht möchte.
Ich sage sowas wie: „Okay, dass heißt..?“ „Das heißt, dass wir Ihnen im ersten Schritt jetzt Kortison geben möchten. Hochdosiert und über die nächsten drei Tage. Auch wenn wir keine aktiven Läsionen feststellen konnten, zeigen die massiven Symptome, die Sie hatten ja, dass es sich um einen Schub gehandelt haben muss und wir möchten, dass dieser sich zurückentwickelt.“ Ich nicke, denn ich möchte das auch. Keine Gehstörungen mehr, kein Kribbeln und keine Gesichtslähmung mehr, bitte, danke! Dass das aber nur die auffälligsten Symptome sind, erahne ich durch die Untersuchungen die hinter mir liegen: Zwei MRTs, Bewegungstests, Sehtests, Stromtests an meinen Händen, Konzentrations- und Geschicklichkeitstests und last but not least eine Lumbalpunktion, ein Eingriff, bei dem mit einer Nadel auf Höhe der Lende Nervenwasser entnommen wird. Einmal alles zum mitnehmen bitte, und alle Tests bestätigen es. Ein Komplettpaket chronischer Krankheit quasi.
Jetzt
Es mag an der Pandemie liegen, in der wir in Deutschland jetzt seit knapp anderthalb Jahren leben, aber ich habe das Gefühl, meine eigene MS Diagnose ist schneller gealtert. So wie ich. In vielen Hundejahren. Dabei muss ich mir immer wieder vor Augen führen, dass diese Momente erst zwei Jahre zurück liegen. Und das klingt für mich wiederum sehr kurz. Passenderweise war es sogar der Multiple Sklerose Aufklärungsmonat Mai, in dem sich innerhalb einer Woche herausstellte, was für andere – vorab nicht behinderte Menschen – in der Regel mit vielen Anläufen, Stationen und Untersuchungen bei unterschiedlichen Mediziner*innen, verbunden wäre. Seitdem ist – gefühlt für mich – viel Zeit vergangen. Viel Zeit, in der ich begreifen konnte, dass auch ich verwundbar bin. Viel Zeit, in der ich eine Einschätzung zu dieser Krankheit und – viel wichtiger wahrscheinlich – zu meiner eigenen Erkrankung bekommen und eine grobe Einstellung zu diesem Umstand entwickeln konnte. Ich würd nicht sagen, dass ich jetzt 100 % weiß, wie sie tickt und ob ich zu 100 % weiß, wie ich mit ihr umzugehen habe, aber ich glaube, dass ist nach nur zwei Jahren auch nicht schlimm. Denn anders als sonst, gebe ich mir jetzt die Zeit, es in Ruhe herauszufinden – weil ich muss.
Ich muss mir überlegen, wie und ob ich in unserer hektischen und schnelllebigen Gesellschaft so noch mithalten kann und wie und wo nicht mehr. Nicht mehr mithalten zu können, ist schmerzhaft. Freund*innen absagen müssen, macht einsam. Und TV Auftritte und TedX Talks ausschlagen zu müssen, obwohl ich dadurch die Chance hätte, meine Arbeit als Sexualbegleiterin für behinderte Menschen weiter publik zu machen, ist verdammt bescheiden!
Stress ist meist der größte Auslöser für Schübe und eine Verschlechterung der MS. Und als Selbstständige habe auch ich immer wieder auch wirtschaftlichen Stress. Für mich heißt die MS Diagnose also, dass ich in Echtzeit lerne, Abwägungen zu treffen: Was ist etwas wert? Was kann ich geben, was nicht? Schaffe ich das Quatschen mit der Freundin oder bin ich danach mehrere Tage k.o.? Und viel wichtiger: Werden die Menschen um mich herum meine Situation verstehen?
Denn ich muss jetzt eben primär in Ruhe herausfinden und lernen, wie ich mit meiner Fatigue, einer chronische Erschöpfung, die oft bei Menschen mit MS vorkommt, und dem damit verbundenen, sehr begrenzten Energiehaushalt einigermaßen ausgewogen leben kann. Und das ist bei aller Empathie sicherlich etwas, was nicht behinderte Menschen nicht im Mindesten nachempfinden können. Es ist wie ein bleierner Mantel, der sich über einen legt. Ein konstantes Gefühl von Schlafmangel, ein Erholungsbedürfnis und ein andauerndes an seine eigenen Grenzen gehen müssen.
Es führt dazu, dass ich Deadlines nicht einhalten kann. Eigentlich wollte ich diese Kolumne zum 30.05., dem Welt-MS-Tag, veröffentlichen. Ich nehme Anrufe nur in Ausnahmefällen entgegen und bis ich eine E-Mail beantwortet habe, können Monate vergehen. Einfach weil ich keine Kraft mehr habe wie früher. Wie ich dieses unsichtbare Monster ansatzweise handhaben kann, muss ich mir eben noch in Ruhe überlegen und bestimmt immer wieder neu abwägen und justieren. Dies ist tägliche Lebenswirklichkeit von vielen behinderten Menschen und verdammt viel Arbeit.