Das Smartphone ist der Zauberstab des 21. Jahrhunderts. QR-Codes sind sein Sesam-öffne-Dich zu allen Annehmlichkeiten des Alltags. Derartige QR-Codes auf dem Bildschirm des Smartphones vermitteln den Zugang zu Ausstellungen und anderen Informationen. Sie sind Fahrschein wie beim “Deutschlandticket” oder auch Impfzeugnis. QR-Codes sind Zertifikate für zahlreiche Qualifikationen, die zur Teilnahme an allerlei wichtigen Veranstaltungen berechtigen. Wer kein Handy hat, hat heutzutage ein Problem: In Chatgruppen von Messengerdiensten kann solch eine Person nicht mitreden. Am Arbeitsplatz, in der Schule, im Verein und auch in der Familie haben sich inzwischen aber zahlreiche Gruppen gebildet, die ihre Nachrichten über Messenger austauschen.
Auch die Bestellung bei Amazon wird ohne ein Smartphone deutlich schwieriger. Anfang Mai hat der weltweit aktive Versandhandel aus den USA seine Verfahren umgestellt. Wer bei der Hotline anruft, erhält von den Mitarbeitenden am Telefon seither eine “Bestätigungsmail”, mit der er sich online legitimieren soll. Wenn Nichtbehinderte mit ihrem Smartphone anrufen, stellt der kurze Klick für die allermeisten von ihnen kein größeres Problem dar. Wenn jedoch mehrfachbehinderte Blinde wie ich dort anrufen, ist diese Authentifizierungsmethode eine unüberwindliche Barriere. Deshalb habe ich ja bewusst die – bis Ende April problemlose – Möglichkeit eines Anrufs am Telefon gewählt, um offene Fragen im persönlichen Gespräch mit einem freundlichen Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin klären zu können.
Doch die Mehrheit der Mitmenschen erwartet mittlerweile von allen, dass sie Smartphones benutzen. Immer mehr Prozesse im Alltag setzen die Nutzung dieser Geräte voraus. Auch Firmen und die öffentliche Verwaltung gehen inzwischen wie selbstverständlich davon aus, dass die Bevölkerung ein Smartphone besitzt und benutzt.
Aufgrund meiner Behinderung benutze ich ein sogenanntes “Seniorenhandy”, das keinen Zugriff auf Mails eröffnet. Da ich meine Mails am Desktop PC mit meiner Sprachausgabe lese, kann ich nicht gleichzeitig telefonieren und Mails lesen. Wegen meiner neurologischen Zusatzbehinderung und des damit verbundenen Zitterns der Finger kann ich die sogenannten “Touchscreens” von Smartphones nicht bedienen. Auch die Steuerung des Handys über Spracheingabe habe ich aus ähnlichen Gründen nicht bewältigen können. Mein “Seniorenhandy” verfügt über große Tasten, die ich auch mit meinen zittrigen Fingern gut bedienen kann. Was nutzt mir dieses Handy aber, wenn ich beim Anrufen wieder auf Eingaben im Internet zurückverwiesen werde?
Ohnehin fällt es mir schwer, Onlineformulare auszufüllen. Häufig gewähren die Programme auch nur kurze Zeitfenster, in denen man sie ausfüllen kann. Zudem verlangen viele Onlinetools Doppelt- und Dreifachauthentifizierung, was für Menschen wie mich zur doppelten und dreifachen Barriere wird. Ich kenne mehrere Menschen, die kein Smartphone besitzen. Manche haben sich ganz bewusst dazu entschieden, weil sie nicht in digitale Abhängigkeiten geraten wollen. Das ist ihr gutes Recht. Ich kenne Menschen, die nicht einmal einen Computer besitzen. Auch das ist ihr gutes Recht. Einige haben sich im Alter nicht mehr mit dieser Technik befassen wollen, während andere sich bewusst für ein Leben abseits digitaler Belästigung und des ständigen Verfügbarkeitszwangs entschieden haben. Ich kenne auch Menschen, die sich aus Geldmangel kein Smartphone leisten können. Außerdem gibt es Menschen, die mit derartigen Geräten einfach nicht zurechtkommen. All diese Menschen haben ein Recht auf Teilhabe.
Eine Verpflichtung zur Nutzung von Handys oder gar Smartphones verleugnet die Realität unterschiedlichster Fertigkeiten und Lebensentwürfe. Eine regelrechte Pflicht zu digitaler Flexibilität, wie sie in der Praxis leider längst besteht, ist eine Ausgrenzung all derer, die diese Technik nicht nutzen können oder wollen. Die “digitale Ausgrenzung” ist nicht nur behindertenfeindlich, sondern auch respektlos gegenüber dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Um digitale Ausgrenzung zu verhindern, muss der Staat den Zugang zu allen Dienstleistungen und Informationen auch über andere Wege garantieren. Das Gebot der Gleichbehandlung verlangt darum auch eine Verpflichtung zur Wahlfreiheit bei allen Dienstleistungen und Verwaltungsvorgängen, ob die Bürgerin oder der Bürger sie digital oder analog bewältigen möchte. Die digitale Ausgrenzung wäre zudem ein Bärendienst für all diejenigen, denen digitale Dienstleistungen aufgrund ihrer Behinderung oder ihrer persönlichen Lebensumstände mehr Lebensqualität verschaffen.
Digitale Angebote sind ein Gewinn, wenn sie zusätzlich zu analogen Möglichkeiten bestehen. Ein Zwang zu digitalen Anwendungen jedoch darf – auch wenn er vielleicht nur sanft und als Anreiz, beispielsweise über Preisvorteile ausgeübt wird – aus Gründen der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung nicht entstehen.
3 Antworten
Herzlichen Dank für Ihre Kolumne.
Ich arbeite aktiv in zwei Selbsthilfegruppen und stoße immer wieder auf irritierte Reaktionen, wenn ich bei gewissen Anfragen freundlich nachfrage, ob und welche technischen Möglichkeiten vorhanden sind.
Es wird von den allermeisten Menschen sehr wohlwollend und teils auch sehr erleichtert angemerkt, dass ich eben nicht voraussetze, dass jemand Dokumente vom Smartphone ausdrucken kann (nur als Beispiel).
Die Voraussetzung, dass ein Mensch völlig selbstverständlich sich in digitalen Räumen bewegen soll finde ich furchtbar, und das nicht nur, weil ich als mittlerweile Mittvierzigerin auch noch Zeiten ohne Festnetztelefon und -Fax kenne.
Freundliche Grüße
Anni Conrad
Lieber Herr Hanke,
herzlichen Dank für diesen Beitrag.
Ich bin 72 Jahre alt, in keiner Weise eingeschränkt, seit rund 40 Jahren durchaus vertraut mit digitalen Arbeitsgeräten und besitze ein Smartphone.
Und ich hatte während meines Berufslebens (Geschäftsführer an eienr Heilpädagischen Schule) immer mit Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen zu tun.
In jüngster Zeit stört es mich immer mehr, dass ich bei relativ einfachen Anträgen und Verträgen immer öfter auf digitale Legitimationsvorgänge verwiesen werde, die dann zu immer mehr Aufwand und – zumindest bei mir – zu Verwirrung führen.
Da dauert z.B. die simple und vollmundig angepriesene Rufnummernmitnahme zu einem neuen Handyvertrag dann schon mal mehr als 8 Wochen.
Schließlich wird erwartet, dass ich dem alten Vertragspartner eine Kopie meines Personalausweises zusende.
Natürlich aus Gründen des Datenschutzes.
Aber ich stelle fest, ich werde immer öfter aufgefordert, Dinge zu tun, die ich nicht tun will und zu Zeiten des analogen Geschäftsverkehrs auch nicht tun musste.
Soweit meine vergleichsweise kleinen Probleme.
Wenn ich jetzt lese, wie Sie von der Digitalisierung an der Teilhabe am “täglichen Leben” so massiv gehindert werden, muss ich aufpassen, dass mich nicht die kalte Wut packt.
Vielen Dank, dass Sie mir und hoffentlich noch vielen Anderen, deutlich machen, auf welche Widerstände behinderte Menschen auch durch die vielgepriesene Digitalisierung ständig stoßen.
Es regt mich jedenfalls an, auch meine nicht behinderten Mitmenschen auf diese Missstände aufmerksam zu machen.
Mit herzlichen Grüßen
Bernd Grüb
Lieber Herr Hanke,
Sie sprechen mir aus der Seele, als Angehörige eines fast blinden Vaters, der ebenfalls die Touchscreen-Anforderungen nicht erfüllen kann, muss ich bei jedem Update sein Handy wieder freischalten bzw. muss er zum Apple-Store gehen und um Unterstützung bitten. Denn sein Handy ist über die Sprachausgabe geschaltet, was ich nicht ohne Schwierigkeiten bedienen kann. Es ist zum verzweifeln, wenn man helfen möchte und die einfachsten Dinge nicht funktionieren. Es müsste eine zweistufige Zugangsberechtigung geben, damit ich ihm schnell Dinge einstellen kann oder auch mal was in seinem App-Eingang löschen oder abspielen kann, was er nicht mitbekommen hat. Technisch sind diese Barrieren sicherlich lösbar, es hat nur keiner Lust sich damit zu beschäftigen. Vermutlich wird argumentiert, dass es sich ja um ein Nischenproblem handelt. Was es aber nicht ist! Wir werden immer Menschen haben, die entweder noch nicht oder nicht mehr von der Digitalisierung profitieren. Ich arbeite an „Barrierefreien Kindermedien – Kinderbüchern mit Mehrwert“, damit in Zukunft blinde und sehende Kinder gemeinsam Bücher lesen und taktil begreifen können. Unsere Gesellschaft braucht dringend hybride nutzer- und anwenderfreundliche Lösungen, deshalb danke ich Ihnen sehr für diesen Artikel, den ich gerne in meinem Netzwerk teilen möchte, wenn ich darf. Herzliche Grüße Christina Oskui