Das unerzählte Märchen

Das Logo von die neue Norm auf blassrotem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Anna Maischberger.
Lesezeit ca. 3 Minuten

Es war einmal … oder … und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute – so oder so ähnlich beginnen bzw. enden unzählige Märchen. Märchen, wir kennen sie alle, sind Geschichten, die (fast) jede*r kennt, ohne wirklich zu wissen, wo sie eigentlich herkommen. Ob als Gutenachtgeschichte oder Anekdote, sie erfüllen viele Funktionen. Doch es gibt nicht wenige Momente, in denen ich mich frage, wer sie in die Welt gesetzt hat und wer erzählt sich solche Geschichten? Märchen sollen einen an ferne Orte bringen, die echte Welt vergessen lassen – wenn auch nur für einen kurzen Moment. In Märchen gibt es Feen, sprechende Tiere, 20m langes und gepflegtes blondes Haar. In Märchen gibt es aber auch böse Stiefmütter, vergiftete Äpfel und anscheinend auch gierige Menschen in Rollstühlen, die sich Sozialleistungen erschleichen und im Geld schwimmen, oder etwa nicht? 

Es ist irgendein Tag mitten in der Woche, der Postbote war schon da und ich schaue in den Briefkasten. Fachamt Eingliederungshilfe. Endlich eine Antwort, denke ich, aber dass ich lieber keine Antwort hätte, als diese, das weiß ich noch nicht. Auf dem Brief steht dick und fett ABLEHNUNG. Ein Wort, welches mir nur allzu bekannt vorkommt. Dicke fette Buchstaben, Routine, das Widerspruchsschreiben liegt schon bereit. Auch wenn ich gehofft hatte, dass ich das nicht tun muss. Worum es geht? „Soziale Teilhabe“ oder wie ich es nenne „Menschenwürde“. Heute leider keine Würde für dich, dass dachte sich wohl das Fachamt für Eingliederungshilfe – das anscheinend weder vom Fach ist, noch großes Interesse an Eingliederung oder Hilfestellung hat. Und während meine Augen sich über die Buchstaben bewegen, frage ich mich, wer eigentlich das Märchen in die Welt gesetzt hat, Menschen mit Behinderung würden sich Leistungen erschleichen oder zu viel beantragen, zu viel fordern? Ist dieses unerzählte Märchen nur an mir vorbeigegangen oder habe ich es hier mit einer Institution des letzten Jahrtausends zu tun? Bin ich (stellvertretend) die Bösewichtin in dieser Geschichte? Vergifte ich den imaginären Apfel? Sperre ich Rapunzel in den Turm? 

Der Widerspruch geht ein und verschwindet im Nirvana der deutschen Bürokratie. Ein obligatorischer ist-bei-uns-eingegangen-Brief kommt, Verständnis von der Gegenseite nicht.

Das ewig lange Widerspruchsverfahren ist Teil des Prinzips, Teil des mal-sehen-wie-lange der/die-dranbleibt. Frei nach dem Motto „Wer am lautesten schreit“. Doch mit jeder Ablehnung wird meine Stimme leiser, mein Durchhaltevermögen schwindet und ich frage mich, warum ich für so essenzielle Belange, wie die soziale Teilhabe, kämpfen muss. Warum muss alles ein Kampf sein, nur weil ich mich auf Rädern durch diese Welt bewege? 

Nicht aufzugeben, das bedeutet eine Menge – eine Menge, was man nicht tun sollte und  eine Menge, was man tun sollte: nicht klein beigeben, nicht resignieren, nicht den Mut verlieren. Ebenso wie: Stärke zeigen, sich behaupten, für seine Rechte eintreten und – ganz besonders wichtig – sich verbünden.  

Märchen sind im Jahr 2022 unpopulärer denn je. Gutenachtgeschichten sind jetzt andere, Anekdoten ebenfalls. Märchen wurden neu verfasst, neu verfilmt, neu erzählt und darin liegt ihre Stärke. Wir können die Geschichten neu schreiben, neu verfassen und neue Vorbilder suchen. Aus Bösewichten werden gefeierte Helden*innen. Aus dunklen Türmen werden prachtvolle Schlösser. Aus vergifteten Äpfeln werden dreistöckige Torten.

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