Eines schönen Tages fuhr ich mit meinem Rollstuhl zu einem nahegelegenen Spielplatz, um mich dort einem guten Buch zu widmen. Kurze Zeit später trafen zwei Kinder ein und obwohl sie einige Meter von mir entfernt waren und miteinander flüsterten, konnte ich vernehmen, wie das eine Kind zu dem anderen voller Erstaunen sagte: „Was? Die kann lesen?“. Mitnichten unterstelle ich diesen beiden Kindern etwas, auch nicht den dahinterstehenden Erwachsenen, von denen diese Bilder transportiert werden. Doch wird allein durch diese kurze Szenerie schon eines recht deutlich: Wie über Menschen, die durch eine spezifisch geartete sichtbare Andersartigkeit als behindert kategorisiert sind, gedacht und gesprochen wird.
Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Ausnahmesituation, ich könnte noch so einige weitere Begebenheiten aus meinem Leben berichten. Gerade auch in öffentlichen (Fach-)Diskursen werden oftmals ähnliche Erzählweisen bedient. Ein mir in Erinnerung gebliebenes, prägnantes Beispiel ist ein Artikel, der sich mit der schulischen Inklusion und der didaktischen Differenzierung befasste: Darin wurde ein Kontinuum aufgespannt, das von behinderten bis zu hochbegabten Kindern reichte. Das behinderte Kind wurde am unteren Ende positioniert. Es wurde nicht mitgedacht, dass ein behindertes Kind auch (hoch)begabt sein könnte. Behinderte Kinder wurden also automatisch als leistungsgemindert vorgestellt und ihre individuellen Stärken ausgeblendet – aufgrund einer einzigen Eigenschaft (von vielen). Aber warum erzähle ich Ihnen das alles?
Es geht mir nicht darum, böse Absichten zu unterstellen, denn das würde Bewusstheit voraussetzen. Weil aber gerade derartige Denk- und Erzählweisen oftmals unreflektiert bleiben und dennoch wirkmächtig sind, finde ich gerade die dahinterliegenden Mechanismen bedenkenswert.
Der französische Philosoph Foucault geht davon aus, dass sich Machtverhältnisse im kollektiv geteilten Wissen ausdrücken. Nach Foucault ist Macht nicht personen- und ortsgebunden. Macht wirkt durch Praktiken und Kommunikation. Sie ist Voraussetzung für die Wissensproduktion. Jede*r kann nach Foucault Macht ausüben und gleichzeitig unter Macht leiden. Das Wissen über Behinderung wird produziert und reproduziert, beispielsweise in der Darstellung von behinderten Menschen in den Medien. Das Wissen findet so Eingang in die alltägliche Kommunikation. Wichtig: Dieses Wissen kann sich verändern, wenn sich die Machtverhältnisse entsprechend verändern.
Jemand ist beispielsweise ein Mann, ein Bankangestellter und nicht-behindert. Darin schwingen bestimmte Trennungsmechanismen mit. Das Mannsein wird vom Frausein und das Nicht-Behindertsein vom Behindertsein abgegrenzt. Die jeweiligen Kategorien sind dabei durchtränkt von den aktuellen Machtverhältnissen und Vorstellungen. Dabei erfährt das Behindertsein eine Abwertung, was sich im Alltag unter anderem darin äußert, dass der eigentlich neutrale Begriff „behindert“ als Schimpfwort Eingang in die Jugendsprache gefunden hat.
Nach dem späten Foucault kann man aber auch in einer kritischen und reflektierten Haltung mit diesen Zuschreibungen umgehen. Und das birgt eine Chance auf Veränderung! Zu verstehen, dass Eigenschaften, die man einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen – oder sich selbst – zuschreibt, nicht naturgegeben sein müssen, sondern Produkte der Kultur sind, beinhaltet den entscheidenden Moment des Wandels. Nach meiner Auffassung sind dabei eine offene Begegnung – und Begegnungsmöglichkeiten – sowie der konsequente Einbezug behinderter Menschen auf allen Ebenen die Mittel der Wahl!
In dem kindlichen Erstaunen über meine Lesefähigkeit drückt sich also nicht etwa die Welt aus, wie sie ist, sondern wie wir sie jeweils denken, also produzieren. Diesen Bruch zwischen der Vorstellung und der Realität, der bis heute in meinem Leben Spannungen erzeugt, empfand ich bereits in meiner Jugendzeit sehr stark. Dieses Empfinden fand dabei seinen Ausdruck in meinem damaligen Spruch: Ich bin nicht traurig darüber, wie ich bin! Ich bin traurig darüber, was aus mir geMacht wird!